Thomas Tuchel startet am Sonntag gegen SM Caen in seine erste Ligue-1-Saison mit Paris Saint-Germain (21 Uhr live auf live auf DAZN und im LIVETICKER). Ein Sieg ist Pflicht. Die Stimmung im Klub ist positiv, die Vorfreude groß wie lange nicht. Die Extreme in der Stadt der Liebe liegen jedoch ganz eng beieinander. Tuchel beginnt seinen Flug im Heißluftballon.
Das Geräusch einer an der Schultafel kratzenden Gabel ist oft angenehmer als singende Fußballer. Auch deshalb ist ein kleines Ständchen vor versammelter Mannschaft ein beliebter Aufnahmeritus für Neulinge. Serge Gnabry und Leon Goretzka bei den Bayern, Naby Keita beim FC Liverpool, Gianluigi Buffon bei PSG: Sie alle mussten es machen.
Neuerdings werden via Instagram-Stories auch noch die Ohren ahnungsloser Fans mit den schrillen Tönen ihrer Idole beschallt. Die Peinlichkeit des Moments ist einigen Protagonisten daher umso mehr ins Gesicht geschrieben. Andere performen ihren Song souverän und selbstsicher, durchaus dessen bewusst, wie schräg das eigentlich klingt.
So auch PSG-Trainer Tuchel. Der entsagte sich dem Ritual zunächst noch. Nach dem 4:0-Sieg über Monaco und dem Gewinn des französischen Supercups ließ er sich aber doch dazu drängen. Nicht nur vor versammelter Mannschaft, die ihren Trainer zuvor noch mit Champagner übergossen hatte, sondern vor laufenden TV-Kameras und etlichen Presseleuten.
Mitsamt Mikrofon stimmte Tuchel also lauthals "Happy" von Pharrell Williams an. Ein Song, der die aktuelle Gemütslage beim französischen Meister perfekt illustriert. Tuchel ist ausschlaggebend für diese Stimmung. "Er strahlt einen Enthusiasmus und eine Energie aus, wie es wenige Menschen tun. Das steckt an", schwärmte etwa Buffon von seinem neuen Coach. Dabei ist der italienische Torhüter selbst die Glückseligkeit in Person.
Thomas Tuchels Start bei PSG gleicht einem Flug im Heißluftballon
Klub und Fans sind hellauf begeistert von Tuchel. "Der Trainer ist eine sehr positive Überraschung", sagte Marco Verratti. Kapitän Thiago Silva erkennt schon jetzt "viele positive Änderungen". Und stets arbeitet die Mannschaft mit einem Lächeln auf den Lippen.
Tuchel, der mit dem Ruf eines autoritären Detailfanatikers nach Paris gekommen war, zeigt ein vermeintlich ganz neues Gesicht. "Wenn du viel angelächelt wirst, ist es schwer, nicht zurückzulächeln. Das hilft sehr. So wie die Spieler bislang trainieren und spielen, machen sie mich glücklich", erklärte er selbst seine gute Laune.
gettyUnd so trällerte Tuchel nach dem Gewinn der Trophee des Champions: "I'm a hot air balloon that could go to space." Nüchtern betrachtet liegt er mit dieser Analyse gar nicht mal so weit daneben. Tuchels Start bei PSG gleicht einem Flug im Heißluftballon.
Das hat jedoch Tradition in Paris. Nicht nur aufgrund der Ursprünge der Ballonfahrt im Schloss La Muette in der Nähe von Paris Ende des 18. Jahrhunderts. Auch Tuchels Vorreiter legten vielversprechende Trainerstarts hin.
Doch wie das bei so einem Heißluftballon eben ist, sinkt mit zunehmender Flugdauer die Gasmenge, also die Antriebskraft. Auch starker Wind oder Unwetter sind Gift für die Ballonfahrt. Es kommt nicht selten zu Unfällen.
PSG: Erfolg in der Champions League steht über allem
Unai Emery, Tuchels Vorgänger, startete vor zwei Jahren mit ähnlichen Vorzeichen in seine erste PSG-Spielzeit. Der Spanier wurde genauso bilateral beäugt wie Tuchel. Beide tragen schließlich nicht den gewünschten Glamour-Namen eines Pep Guardiola oder Zinedine Zidane. Tuchel noch weniger als Emery, der immerhin mit drei Europa-League-Titeln nach Paris kam.
Der Höhenflug des Spaniers hielt bis März 2017 an. In der Liga lag PSG zwar drei Punkte hinter Monaco, der Rückstand hätte sich aber bestimmt noch einholen lassen. In der Champions League hatte PSG im Achtelfinale gerade Barca mit 4:0 geschlagen. Der ganz große Coup schien endlich möglich. Dann kam das Rückspiel im Camp Nou. 1:6. Aus der Traum. Emery war angezählt. Die 1:3-Niederlage gegen die Bayern in der darauffolgenden Gruppenphase war schließlich der Anfang von Emerys Ende bei PSG.
Auch Tuchel wird sich an den Ergebnissen gegen die Topklubs Europas messen müssen. Vor allem im Frühjahr 2019. Dann, wenn die K.o.-Spiele in der Königsklasse anstehen. Das nationale Triple ist für Klub-Inhaber Nasser Al-Khelaifi längst zur Gewohnheit geworden. Er will seinen Verein endlich zumindest im Halbfinale der Champions League sehen.
PSG in der Champions League: Platzierungen seit der Klubübernahme
Saison | Erreichte Runde | Gegner | Ergebnis (Hin- und Rückspiel) |
2012/13 | Viertelfinale | FC Barcelona | 3:3 (Auswärtstorregel) |
2013/14 | Viertelfinale | FC Chelsea | 3:3 (Auswärtstorregel) |
2014/15 | Viertelfinale | FC Barcelona | 1:5 |
2015/16 | Viertelfinale | Manchester City | 2:3 |
2016/17 | Achtelfinale | FC Barcelona | 5:6 |
2017/18 | Achtelfinale | Real Madrid | 2:5 |
Thomas Tuchel: "Nicht hier, um ihnen das Fußballspielen beizubringen"
Die derzeitige Aufbruchstimmung bei PSG steht und fällt mit dem Erfolg im internationalen Geschäft.
Dass es jedoch überhaupt zu dieser Aufbruchstimmung kam, ist ein gutes Zeichen, dass Tuchels Arbeitsweise respektiert wird. Spieler und Experten schwärmen von seiner taktischen Flexibilität. In der Saisonvorbereitung ließ Tuchel ausschließlich mit einer Dreierabwehrkette spielen. Im Supercup griff er auf das 4-3-3 der vergangenen Spielzeiten zurück. Innerhalb der Spiele wechselte PSG das System mehrfach, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Allerdings stand Tuchel bisher nur eine Rumpftruppe zur Verfügung.
Bis zur entscheidenden Saisonphase bleibt der Mannschaft noch genug Zeit, Tuchels Ideen zu verinnerlichen. Die Qualität des Kaders reicht dabei allemal aus, sich trotz einiger Fehler im Spiel mit und gegen den Ball in der Spitze der Ligue 1 zu etablieren.
Tuchel steht im ständigen Austausch mit seinen Spielern. Er scheint dabei einen Mittelweg aus Disziplin und Spaß gefunden zu haben. Hier ein lockerer Spruch, da eine Umarmung, dann wieder klare Ansagen.
Der 44-Jährige gesteht seinen Einzelkünstlern fußballerische Freiheiten zu, fordert im Gegenzug jedoch eine ebenso professionelle Haltung wie er sie selbst an den Tag legt. Dazu gehören in erster Linie Trainingseinsatz und gesunde Ernährung, auf welche Tuchel penibel achtet. Keine Wasserpfeifen mehr, weniger Pasta, keine Softgetränke.
"Ich bin nicht hier, um ihnen das Fußballspielen beizubringen. Ich bin hier, um eine Struktur zu kreieren, die es ihnen ermöglicht, ihr Talent zu zeigen", erklärte Tuchel.
PSG-Stars nehmen Thomas Tuchels Methoden an
Die Spieler scheinen das neue Niveau detaillierter Trainingssteuerung anzunehmen und Tuchels Expertise und Methoden zu goutieren. "Man sagt, er sei ein Ordnungsfanatiker, ein bisschen davon schadet im Fußball auch nicht", sagte Kapitän Silva bereits nach seinem ersten Treffen mit Tuchel in London.
Wie so häufig bei Trainerwechseln klingt bei den Lobliedern auf den neuen Übungsleiter zugleich immer ein wenig Kritik am Vorgänger durch. Sein schüchterner Führungsstil wurde Emery wohl letzten Endes zum Verhängnis.
Tuchel sieht diese Gefahr nicht. In der Hinsicht vertraut der Trainer auf Pragmatismus. "Nach meinen Erfahrungen sind die großen Spieler die einfachsten Charaktere. Sie lieben den Wettkampf und sie wollen gewinnen", erklärte er. Ergo: Die Zusammenarbeit wird funktionieren, weil Team und Staff auf dasselbe Ziel hinarbeiten.
Solange die Mannschaft von Tuchels Philosophie überzeugt ist, wonach es bisher aussieht, wird er mit dieser Maxime Recht behalten. Dazu sind die vermeintlich kleinen Siege wie gegen Caen unabdingbar. Ansonsten geht dem Heißluftballon das Gas noch vor der wirklich heißen Phase aus.