"Warum wird der Libero abgeschafft?"

Haruka Gruber
27. Januar 201216:35
Kapitän Timmy Simons (l.) ist als Sechser der Anker der Nürnberg-Defensive Imago
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Er arbeitet als Kellner und Handwerker, dann überrollte ihn der moderne Fußball, bevor er spät entdeckt wurde. Timmy Simons - eine Ausnahmeerscheinung der Bundesliga. Der 35-jährige Belgier spricht im Interview über seine ungewöhnliche Karriere, seine unglaubliche Fitness und seinen letzten Traum: die WM 2014 in Brasilien.

SPOX: Herr Simons, Sie sind eine Ausnahmeerscheinung im Fußball: Obwohl Sie 35 Jahre alt sind, weisen Sie beim 1. FC Nürnberg den besten Fitnesswert aller Spieler auf. In der gesamten Bundesliga zählen Sie zu den Laufstärksten. Wie ist das zu erklären?

Timmy Simons: Dass es die meisten überrascht, verstehe ich, aber so seltsam finde ich das gar nicht. Es ist schon immer so bei mir gewesen, dass ich in der Lage sein muss, hundert Prozent Vollgas zu geben - und kein Prozent weniger. Mein Körper braucht diese Spannung und Intensität, um Leistung zu bringen. Ich versuche wie viele andere ältere Spieler, mit Auge Situationen zu lösen. Aber ich muss auch das Vertrauen in meinen Körper haben, dem Gegner den Ball ablaufen zu können, wenn es nötig ist. Deswegen arbeite ich seit Jahren sehr viel im läuferischen Bereich.

SPOX: Negativ betrachtet könnte man sich die Frage stellen: Wie kann es sein, dass ein 35-Jähriger alle anderen abhängt?

Simons: Zum Saisonstart war es sicherlich so, dass einige junge Spieler konditionell noch Nachholbedarf hatten, weil sie aus unteren Ligen kamen. Mittlerweile haben sie die Defizite aufgeholt. Vielleicht haben Sie sich ein bisschen ein Beispiel an mir genommen. Dennoch möchte ich natürlich weiterhin derjenige sein, der bei Laufeinheiten vorne mitmarschiert. (lacht)

SPOX: Trotz Ihrer Fitness zeigten Sie in der Hinrunde schwächere Leistungen als in der überragenden Vorsaison 2010/11. Trainer Dieter Hecking suchte im Trainingslager in Belek daher das Gespräch mit Ihnen. Um was ging es?

Simons: Dass ich insgesamt besser spielen muss. Zum Beispiel sprach er zurecht an, dass die Pässe nicht mehr so sicher kamen. Oder dass ich in kritischen Situationen auf dem Spielfeld mehr Kontakt zu den jungen Spielern suchen und besser coachen muss.

SPOX: Die für Sie und Nürnberg enttäuschende Hinrunde führte nicht dazu, dass das Interesse aus Ihrer belgischen Heimat nachließ. Anderlecht und Ex-Klub Brügge sollen sogar eine Ablöse in Höhe von einer Million Euro geboten haben, damit Sie sofort wechseln. Stattdessen verlängerten Sie den im Sommer auslaufenden Vertrag beim Club um zwei Jahre bis 2014. Warum?

Simons: Dass solche Vereine und solche Ablösesummen im Gespräch sind, obwohl ich 35 bin, ehrt mich sehr. Für mich stand es immer fest, dass ich solange wie möglich in der Bundesliga bleiben möchte. Ich dachte noch vor eineinhalb Jahren, dass ich in Eindhoven ein, zwei Saisons als Bankspieler dranhänge und mich langsam aufs Karriereende vorbereite. Und dann kam überraschend Nürnberg und damit die Chance, mit weit über 30 Jahren endlich in einer Topliga zu spielen. Das ist fast ein Wunder.

SPOX: Warum sind Sie so lange in Belgien und den Niederlanden geblieben?

Simons: Es hat einfach nicht gepasst. In Brügge hatte ich tolle Angebote aus England und Deutschland, nur der Verein lehnte alle Angebote ab. Vielleicht wäre es ein wichtiger Schritt gewesen, um noch schneller ein höheres Niveau zu erreichen. Als ich von PSV verpflichtet wurde, habe ich die Topligen gar nicht mehr so vermisst. Wir spielten regelmäßig in der Champions League und ich konnte mich beweisen.

SPOX: Sie sind ein Spätzünder: Mit 21 fingen Sie mit dem Training unter Profibedingungen an, mit 28 ging es erstmals ins Ausland nach Eindhoven, mit 33 in die Bundesliga nach Nürnberg. Wurden Sie immer verkannt?

Simons: Nein, nein. Ich hätte als Jugendlicher in den Nachwuchs verschiedener belgischer Profi-Klubs wechseln können, aber mein Vater riet mir dazu, beim Heimatklub KTH Diest zu bleiben. "Wenn du es hier in die erste Mannschaft schaffst, schaffst du es überall hin", sagte er mir. Am Ende behielt er Recht, obwohl es lange gedauert hat. Mit Diest spielte ich zwei Jahre in der zweiten Liga und zwei Jahre in der dritten Liga - wobei es nicht vergleichbar ist mit Deutschland. In Belgien geht es in der zweiten und dritten Liga amateurhaft zu, mit nur vier Trainingseinheiten die Woche. Immer abends, damit man tagsüber dem normalen Job nachgehen konnte. Daher fiel mir der Sprung in den Profi-Fußball anfangs sehr schwer.

SPOX: Sie haben vor Ihrem Durchbruch mit Ihrem Vater als Handwerker gearbeitet. Was genau?

Simons: Ich hatte eine Stelle in einer Fabrik, in der Türen und Fenster hergestellt wurden. Von dieser Fabrik kauften ich parallel mit meinem Vater einen Bestand an Türen und Fenster auf, verkauften sie weiter und bauten sie direkt bei den Leuten in deren Häusern ein. Fast drei Jahre ging das so.

SPOX: Wie kann man sich das Verhältnis zwischen Vater und Sohn vorstellen?

Simons: Es war eine harte, sehr lehrreiche Zeit. Er ist ein strenger Vater, was sich jedoch als Glücksfall für mich erwiesen hat. Ich bin nur soweit gekommen, weil mein Vater die Erwartung an mich hatte, dass ich immer das Beste abliefere. Mit weniger war er nie zufrieden, egal ob in der Schule, im Fußball oder bei der Arbeit. Wenn eine Tür oder ein Fenster nicht perfekt eingesetzt wurde, hieß es: Noch mal alles ausbauen und wieder versuchen, bis es dem höchsten Anspruch genügt. Diese Denke habe ich auch als Fußballer verinnerlicht.

SPOX: Sie spielten nicht nur semiprofessionell Fußball und gingen den Job als Handwerker nach. Stimmt es, dass Sie außerdem gekellnert haben?

Simons: Seit ich 16 war an jedem Wochenende und in jedem Urlaub. Im Grunde hatte ich seit der Jugend nur Mittwochabends ein bisschen Freizeit.

Seite 2: Simons und die belgischen Supertalente

SPOX: Haben Sie so viel gearbeitet, weil Sie auf eigenen Beinen stehen wollten?

Simons: Nein, bis ich 23 war, wohnte ich bei meinen Eltern. Mit dem Wechsel nach Brügge nahm ich mir meine erste eigene Wohnung. Ich habe so viel gearbeitet, weil ich früh ein Ziel hatte: Ich wollte investieren. Mein Vater gab mir den Tipp, dass es Sinn macht, eine Immobilie zu erwerben und weiter zu vermieten. Das würde sich spätestens nach 10, 15 Jahren rentieren. Deswegen habe ich mit 15 das Sparen angefangen und mit 19 meine eigene Eigentumswohnung in der Nähe meines Heimatdorfs gekauft. Das war mein erstes Investment. Ich besitze sie immer noch und sie wird fleißig weitervermietet. (lacht)

SPOX: Wie denken Sie jetzt, als privilegierter Fußball-Millionär, über Ihre Vergangenheit?

Simons: Dass sich im Grunde nicht viel verändert hat. Ich war damals nicht unglücklicher als heute. Im Trainingslager residierten wir neun Tage in einem Hotel, in den es uns an nichts gefehlt hat, und mussten uns um nichts anderes kümmern außer trainieren, essen und schlafen. Das ist sehr nett - aber manchmal vermisse ich das Leben als Arbeiter. Um 6 Uhr aufstehen, um 7 Uhr zur Arbeit, um 17 Uhr weiter zum Training, das hatte was.

SPOX: Erst mit 21 Jahren setzten Sie auf die Karte Fußball und gingen zum damaligen Erstligisten Lommel, wo Sie erstmals modernes Taktiktraining erhielten. Bis dahin spielten Sie in der althergebrachten Manndeckung mit Libero. Waren Sie überfordert?

Simons: Überfordert war gar kein Ausdruck. Ich habe vorher als Libero zwar nicht 10, 20 Meter hinter der Abwehr gespielt und teilweise schon im Raum verteidigt, trotzdem war alles neu für mich. Vom Trainer wurde ich häufig ausgeschimpft. Zum Glück ging es einigen Mitspielern nicht viel besser, weil in Belgien flächendeckend erst langsam auf die Viererkette umgestellt wurde. Wir hatten keine Ahnung, was es sollte, auf einen Libero zu verzichten. Überraschenderweise lernte ich recht schnell, worauf es in der Raumdeckung ankommt.

SPOX: Hatten Sie ein Vorbild?

Simons: Franky van der Elst. Er war immer mein Lieblingsspieler, weil er ein so modernes Verständnis von Fußball hatte. Sein Auge, sein Positionsspiel, seine strategischen Fähigkeiten, außerdem wurde seine Laufarbeit immer unterschätzt. Ich habe mir so viel wie möglich von ihm abgeschaut.

SPOX: Sie gehörten in Brügge zu jenen Spielern, die den zurückgetretenen van der Elst ersetzen sollten. Nach fünf erfolgreichen Jahren wechselten Sie nach Eindhoven.

Simons: Ich war bereits 28, dennoch fiel mir die Umstellung nicht leicht. In Belgien stand damals die Physis im Vordergrund, in Eindhoven hingegen ging es vor allem um das Fußballerische. Zack, Zack, Zack, der Ball ist selbst im Training so schnell gelaufen, dass ich zu Beginn kaum hinterherkam. Ich höre immer wieder, dass meine ehemaligen Mitspieler Ilkay Gündogan und Mehmet Ekici in Dortmund und Bremen enttäuschen würden. Ich hingegen habe Verständnis, weil ich genau weiß, wie schwierig es ist, sich plötzlich in einem neuen Umfeld wiederzufinden. Und damals war ich fast 30, während Gündogan und Ekici erst am Anfang ihrer Karriere stehen. So ein Wechsel ist komplizierter, als viele glauben.

SPOX: Sie sind nicht nur in Nürnberg als Mentor für die jungen Spieler von großer Bedeutung. Sie sollen zudem die belgische Nationalmannschaft anführen. Warum gelang ihr erneut nicht die Qualifikation für ein Großturnier, obwohl das Team gespickt ist mit großen Talenten?

Simons: Ich weiß nicht, ob man überhaupt einen Schuldigen suchen sollte. Die Spieler, die Trainer, der Verband, alles spielte in der Vergangenheit mit rein. Vor allem hat es zu lange gedauert, bis alle das Einsehen hatten, dass Teamgeist die wichtigste Eigenschaft ist. Dass man nur als Mannschaft und nicht als Einzelspieler erfolgreich sein kann. In den letzten ein, zwei Jahren gelang uns aber ein wichtiger Schritt: Hut ab vor den jungen Spielern, die verstanden haben, dass man neben Lockerheit ebenso Ernsthaftigkeit benötigt. Von daher glaube ich, dass wir bei der WM 2014 dabei sein werden. Es ist mein großes Ziel zum Ende meiner Karriere. Die Mannschaft hätte dann eine perfekte Struktur mit Routiniers wie mir und Daniel van Buyten, den Spielern zwischen 24 und 28 wie Vincent Kompany, Thomas Vermaelen oder Marouane Fellaini und den ganz Jungen wie Romelu Lukaku und Eden Hazard.

SPOX: Hazard wird von fast jedem europäischen Spitzenklub gejagt. Was ist so besonders an ihm?

Simons: Er ist einfach gut, richtig gut. Ein geiler Spieler.

SPOX: Der nächste Zinedine Zidane, wie es häufig heißt?

Simons: Er ist kein Zidane, er ist Eden Hazard. Er spielt ganz anders, von daher kann man sie gar nicht vergleichen. In zehn Jahren kann es gut sein, dass zu einem neues Talent gesagt wird: "Hey, das ist der neue Eden Hazard." So gut ist der Junge. Es ist der Wahnsinn, wenn ich mir vorstelle, wie unreif ich als 18-, 19-Jähriger war und wie weit jemand wie Hazard ist. Im Gegensatz zu ihm war ich nie ein Genie.

SPOX: Neben Hazard soll zukünftig Dries Mertens eine wichtige Rolle in Belgien zukommen. Mit 13 Toren und 11 Assists in 17 Erstliga-Spielen ist er die Sensation bei Ihrem Ex-Klub Eindhoven. Was kann er?

Simons: Er ist sehr schnell, hat ein gutes Auge, schießt entscheidende Tore und hat die nötige Giftigkeit im Spiel gegen den Ball. Am auffälligsten an ihm ist jedoch seine Intuition: Er weiß immer genau, ob er den Ball mit einem Kontakt weiterzuspielen hat oder ob er die Eins-gegen-Eins-Situation suchen soll. Wenn er so weitermacht, ist Eindhoven nur eine Zwischenstation.

SPOX: Die Bayern sollen ihn beobachten. Würde ein Wechsel nach München Sinn machen, nachdem Marco Reus lieber nach Dortmund geht?

Simons: Ich traue Dries den Sprung zu. Er ist mit dem Ball am Fuß nicht ganz so schnell wie Reus, ansonsten bewegt er sich auf dem gleichen hohen Niveau. Dries hat mich schon gefragt, was ich von den Bayern halte und wie mir die Bundesliga gefällt. Ich habe ihm gesagt, dass es eine geile Liga ist!

Timmy Simons im Steckbrief