Timo Hildebrand wurde deutscher Meister mit dem VfB Stuttgart, gewann die Copa del Rey mit dem FC Valencia und holte WM-Bronze im eigenen Land. Dennoch gab es Momente während seiner Profi-Zeit, in denen er kurz vor dem Aus stand. Im Interview redet der 42-Jährige über seine erfolgreiche Karriere, die Zeit unter Felix Magath und er verrät, wieso er den Profifußball kritisch sieht.
Außerdem spricht er über die Tiefpunkte seiner Karriere, erklärt, warum Yoga ihm nach einer OP so viel Halt gegeben hat und weshalb er sich bis heute vegan ernährt.
Das hier von SPOX und Goal veröffentlichte Interview mit Timo Hildebrand stammt aus der Dokumentation "Die Nachspielzeit von Timo Hildebrand" des YouTube-Channels Ausherzspiel.
Herr Hildebrand, Sie können auf eine ereignisreiche Karriere zurückblicken. Wie ist Ihre Liebe zum Fußball entfacht worden?
Timo Hildebrand: Mein Vater hat Fußball gespielt, mein Bruder auch - der ist mittlerweile Vermögensverwalter. Wofür ich auch sehr dankbar bin, weil er sich um mich kümmert und alles zusammenhält. Mein Patenonkel hat mir dann zu Weihnachten ein paar Torwarthandschuhe geschenkt und ich hatte auch am meisten Lust, im Tor zu sein und mich auch mal in den Dreck zu werfen.
Und es gab bereits in Ihrer Jugend einige Vereine, die an Ihren Fähigkeiten interessiert waren.
Hildebrand: Wenn du aus dem Dorf kommst, bist du irgendwann mal in der Kreisauswahl, Bezirksauswahl, dann vielleicht auch mal in der Landesauswahl. Ich habe dann in Köln ein Probetraining gemacht, habe mir Frankfurt angeschaut und ein Jahr vor dem Wechsel zum VfB hatte ich eigentlich schon bei Waldhof Mannheim unterschrieben. Aber kurz vor knapp habe ich mich dagegen entschieden, weil ich ein schlechtes Gefühl hatte.
IMAGO / Alfred HarderTimo Hildebrand: "Felix Magath hat uns gerettet"
Mannheim war gar nicht so weit von Ihrem Zuhause entfernt. Warum haben Sie sich für das deutlich weiter entfernte Stuttgart entschieden?
Hildebrand: Stuttgart war damals der Place to be - sie hatten die beste Jugendarbeit in Deutschland und es war nicht zu weit weg von der Heimat. Ich wohnte im Jugendhaus in Bad Cannstatt mit vier, fünf anderen Jungs. Wir hatten eine Familie unten, die für uns gekocht hat, aber waren auf uns allein gestellt.
Sie sind mit 15 Jahren zu Hause ausgezogen. Welches Verhältnis hatten Sie zu Ihrer Familie?
Hildebrand: Ich habe extrem nach meinem Weg gesucht. Mein Vater war Alkoholiker, meine Mutter war oft traurig - es war nie so das vertraute, wohlige Familienleben. Und wenn man so etwas als Kind durchlebt, hat man dieses Vertrauen im späteren Leben auch nicht - es ist schwieriger, mit schwierigen Situationen umzugehen. Deswegen war ich oft in einer Zwickmühle und wusste nie so richtig, wo ich hingehöre. Auch im Privaten.
Was hat Ihnen der Fußball in dieser schwierigen Zeit gegeben?
Hildebrand: Fußball war für mich immer eine Art Flucht, ich wusste was ich konnte, es war meine Leidenschaft. Aber im Privaten Entscheidungen zu treffen, das war immer schwierig. Nicht falsch verstehen: Ich hatte echt eine gute Kindheit, aber wenn die Eltern immer streiten oder der Vater zu Hause Stress macht - das sollte einfach nicht sein.
Fünf Jahre nach Ihrem Wechsel aus Stuttgart haben Sie den Sprung aus der VfB-Jugend in die erste Mannschaft geschafft, welche Eindrücke verbinden Sie mit dieser Zeit?
Hildebrand: In meiner ersten Saison wären wir fast abgestiegen, dann kam Felix Magath und hat uns noch gerettet. Danach war ich so richtig im Profi-Business drin und hatte mit dem Abstiegskampf direkt eine riesige Herausforderung.
IMAGO / Sportfoto RudelHildebrand: "Markus Babbel nannte mich 'Nobby-Negativ'"
Sicher gibt es zu Felix Magath die ein oder andere Anekdote.
Hildebrand: Wir haben uns abends vorm Spiel immer zum Bier getroffen und einmal hat sich Viorel Ganea einen Eisbecher bestellt. Felix Magath kam in den Raum und hat ihn deswegen richtig rund gemacht. Dann hat Vio den Eisbecher angeschaut und ihn am Kopf von Felix Magath vorbeigeworfen. Das war hart, da waren alle geschockt.
Erzählen Sie uns etwas über die Meisterschaft mit dem VfB Stuttgart 2007.
Hildebrand: Für mich war die Zeit beim VfB die beste und schönste Zeit in meiner Karriere. Ich könnte mir auch gar nicht vorstellen, woanders zu leben. Ich habe im Winter 2007 verkündet, dass ich weggehe und ich glaube, wenn ich meinen Abschied nicht verkündet hätte, wären wir nie Meister geworden. Es musste so passieren - und mit uns hat damals ja auch niemand gerechnet. Da habe ich mich zum ersten Mal so richtig frei gefühlt, das genießen zu können, auch mit der Truppe.
Wie liefen die Feierlichkeiten nach dem Bundesliga-Triumph?
Hildebrand: Die gesamte Stadt war voll. Wir waren ewig im Autokorso unterwegs und irgendwann musste ich mal aufs Klo. Ich bin am Hauptbahnhof mit der Security ausgestiegen und habe zufällig meine Familie getroffen. Mit der habe ich noch etwas getrunken und bin dann zu Fuß zum Schlossplatz, wo ich mit "Fanta 4" zusammen der Erste auf der Bühne war. Wir hätten ja eigentlich nicht ganz so besoffen sein dürfen, weil wir eine Woche später ja noch das Pokalfinale hatten. Waren wir aber alle.
Spätestens seit der Meisterschaft sind Sie in Stuttgart sehr bekannt. Wie sind Sie mit der Popularität umgegangen?
Hildebrand: Man konnte damals nirgendwo hin, jeder kannte dich und hat dich mit dem Fußball verbunden. Mir hat das auch als Mensch geholfen. Denn ich war eher immer zurückhaltend und habe dadurch gelernt, auf die Leute zuzugehen. Aber nicht jeder mag dich, es gibt auch Leute, die dich dumm anlabern. Du merkst die Blicke von überall - es ist nicht einfach, immer präsent zu sein.
gettyWie kam es, dass Sie bei Ihren Trainern oft mal angeeckt sind?
Hildebrand: Markus Babbel hat mich mal "Nobby-Negativ" genannt. Ich habe Berthold erlebt, Wohlfahrt, Legat - ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem Thomas Berthold in der Kabine nicht über irgendwas geschimpft hat - oder auch Fredi Bobic damals. Aus so einer Generation komme ich. Und ja, ich bin schon eher einer, der viel rumgemotzt hat und bei Trainern angeeckt ist, was mir später auf meinen weiteren Stationen nicht gut getan hat.
Im Juli 2007, direkt nach der Meisterschaft, wechselten Sie zum FC Valencia. Warum?
Hildebrand: Ich wollte den nächsten Schritt machen, aber es war einfach der falsche Verein zum falschen Zeitpunkt. Wir hatten drei, vier Trainer, plötzlich waren der Sportdirektor und der Präsident weg, die Situation war ähnlich wie auf Schalke jetzt. Wir sind in ein richtig schlechtes Fahrwasser geraten und dazu kam noch, dass der damalige Torwart Santiago Canizares überraschend seinen Vertrag verlängert hat und mir im Weg stand.
Wie würden Sie die damalige Zeit beschreiben?
Hildebrand: Das war keine einfache und keine schöne Zeit. Es gab schon Spiele, in denen ich wie auf Autopilot auf dem Feld stand und hinterher gar nicht mehr wusste, wie ich die Bälle gehalten habe. Das sind extreme Phasen, aber dir bleibt nichts anderes übrig, als zu spielen. Außer, du hast einen verständnisvollen Trainer oder ein Team, das dir erlaubt, eine Auszeit zu nehmen. Aber in der Regel musst du liefern. Das ist in der Ellenbogengesellschaft Fußball leider so. Bei Männern untereinander ist es immer irgendwie schwierig, Schwäche zu zeigen und ich glaube, dass das damals im Fußball nicht dazu gehört hat.
Sie beendeten die Saison damals als Zehnter und standen in der Liga 26-mal im Tor.
Hildebrand: 2008 kam Unay Emery nach Valencia und die EM stand an, vor der ich überraschend aussortiert wurde. Das hat mich brutal heruntergezogen und ich habe lange dran geknabbert. Ich habe in Valencia nicht gut performt, weil ich down war. Mit dem neuen Trainer kam ein neuer Torhüter (Renan, die Redaktion), der war eine Woche da und wurde vom Trainier direkt eingesetzt. Vor dem ersten Saisonspiel wurde mir gesagt, dass ich nicht spiele. Und dann bin ich zum ersten Spiel einfach nicht gekommen, bin nicht einmal ins Stadion. Aber nicht, weil ich etwas Böses wollte, sondern weil ich einfach fertig war.
gettyTimo Hildebrand: "Das nächste halbe Jahr ist Eierschaukeln"
Welchen Anteil hatte Unai Emery daran?
Hildebrand: Emery ist ein guter Trainer, hat er im Nachhinein ja dann auch gezeigt, für ihn ist der Teamgedanke extrem wichtig. Meine Aktion damals hat mein Ende in der Mannschaft des FC Valencia besiegelt. Ich versuchte, kurz vor knapp noch zu wechseln. Der Wechsel nach Hoffenheim funktionierte nicht, ich konnte erst im Winter dorthin. Also war klar: das nächste halbe Jahr ist Eierschaukeln (lacht). Obwohl man in der Sonne und am Strand lebt, ein gutes Leben hat, viel Geld verdient - wenn du nicht gebraucht wirst oder keine Aufgabe hast, ist das nie gut.
In Hoffenheim blieben Sie auch nur eineinhalb Jahre.
Hildebrand: Die Jahre nach Valencia waren der absolute Tiefpunkt, da war ich auch mal arbeitslos und stand ohne Verein da. Hoffenheim war noch okay, aber ich hatte den Stempel "schwieriger Typ". Dann bin ich kurz vor knapp noch nach Lissabon, ohne Aufgabe und Chance. Da war ich auch wieder froh, weg zu sein. Es folgte eine Zeit der Ungewissheit, ohne Angebote, ohne Verein. Ich bin bei Pforzheim auf den Platz gegangen und habe trainiert. Da gab es auch Tage, an denen ich dachte: Das war's. Du warst Meister und bist ein paar Jahre später ohne Verein, wie konnte das schief laufen? Man fragt sich, was man falsch gemacht hat.
Was haben Sie sich in dieser Zeit für ihr heutiges Leben mitgenommen?
Hildebrand: Für mich war es wichtig, Demut zu lernen. Als junger Mensch verdienst du viel Geld, dir fliegt viel zu, du schottest dich ab und wirst arrogant, nachher stehst du ohne Verein da. Daraus lernt man extrem viel für das Leben. Ich bin auf den Platz gegangen, der Akku war leer, ich war mental am Boden und hatte keinen Bock zu trainieren. Letztendlich habe ich dann auf Schalke nochmal ein neues zu Hause gefunden, aber auch da war es nicht von Anfang an okay. Ich habe bei den Amateuren gespielt, bei den Profis trainiert, dann war ich mal Nummer zwei und Nummer eins, war wieder im zweiten Glied und habe mich verletzt - aber letztendlich war es meine zweitlängste Zeit.
Wie würden Sie Ihre Karriere im Nachhinein beschreiben?
Hildebrand: Im Großen und Ganzen ist meine Karriere glaube ich gut verlaufen, aber es waren auch brutale Tiefpunkte dabei. Ich habe eine Meisterschaft erlebt, habe oft international gespielt. Diese ganze Bandbreite habe ich letztendlich als Spieler und als Mensch mitgenommen - und das ist brutal wertvoll für das Leben danach.
Hildebrand: "Will auch in 15 Jahren noch Blödsinn machen"
Mittlerweile haben Sie Yoga für sich entdeckt. Was gibt Ihnen das im Vergleich zum Fußball?
Hildebrand: Das Thema Yoga ist das genaue Gegenteil. Es gibt keine Ellenbogen, alle akzeptieren, wie du bist. In dem Thema fühle ich mich wohl, du kannst so sein wie du bist, auch mit Schwächen - was im Fußball ja auch nie stattfindet. Du musst immer irgendwie stark sein, in dieser typischen Männerwelt Fußball habe ich mich sowieso nicht immer wohlgefühlt. Ich habe auch das Leben genossen, habe mir mal einen Maserati geleast oder bin Business-Klasse irgendwo hingeflogen, aber das ist nicht meine Welt. Ich verachte das nicht, aber es gibt Dinge auf der Welt, die wichtiger sind als ein dickes Auto zu fahren.
Seit wann machen Sie Yoga?
Hildebrand: Yoga kam erst nach meiner Karriere in mein Leben, weil ich mich in meinem Körper nach einer OP nicht mehr richtig wohl gefühlt habe. Yoga hilft einem, sich wieder gut zu fühlen. Ich mache es auch, weil ich in Zukunft beweglich bleiben will, allein schon wegen meines Sohnes. Ich will auch in 10 bis 15 Jahren noch Blödsinn mit meinem Sohn machen können - und nicht mit dem Rollator unterwegs sein müssen oder mit meiner Hüfte Probleme bekommen.
Beschreiben Sie Ihr Verhältnis zu Ihrem Sohn.
Hildebrand: Mein Sohn ist der wichtigste Mensch. Es berührt mich immer wieder, auch, weil ich oft an meinen eigenen Vater denken muss, mit dem ich diese Verbindung nicht hatte. Das ist extrem wichtig und ich will jemand anderes für meinen Sohn sein. Man wünscht sich als Sohn eine Vaterfigur, bei der man Halt findet. Und für mich ist es wichtig, diese Figur für meinen Sohn zu sein.
Neben Ihrer Leidenschaft für Yoga ernähren Sie sich auch vegan und sind gerade dabei, ein veganes Restaurant zu eröffnen. Wie sind Sie dazu gekommen?
Hildebrand: Für mich ist es logisch, auf tierische Produkte zu verzichten. Das wurde immer mehr zu meinem Lifestyle, ohne da Aktivist oder Hardcore-Veganer zu sein. Ich bin kein Gastronom, deswegen habe ich gute Partner mit reingenommen und darf das Projekt leiten. Das macht mir brutal viel Spaß. Meine Funktion ist, alles zu überwachen, aber ich habe mir fest vorgenommen, mal als Küchenhilfe zu agieren, weil ich wissen will, was die Jungs jeden Abend leisten werden. Ich glaube, die müssen richtig Gas geben und ich hoffe, dass ich die Jungs nicht aufhalte. Viele Leute hauen bei diesem Thema immer irgendwelche Parolen und Vorurteile raus und geben einem schnell das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, weil man vegan lebt. Aber ich glaube, auch viele Fleischesser haben mittlerweile das Gefühl, sie müssen sich rechtfertigen. Ich denke, man muss die Leute abholen, damit ein Umdenken stattfindet, was es für einen selber und für die Umwelt heißt, Tiere zu essen. Und diese Idee versuche ich mit diesem Projekt voranzutreiben.
Timo Hildebrand: Seine Profi-Karriere in Zahlen
Verein | Zeitraum | Spiele | Spiele ohne Gegentor |
VfB Stuttgart | 1999 - 2007 | 296 | 107 |
FC Valencia | 2007 - 2009 | 39 | 9 |
TSG Hoffenheim | 2009 - 2010 | 42 | 15 |
Sporting Lissabon | 2010 - 2011 | 3 | - |
FC Schalke 04 | 2011 - 2014 | 58 | 15 |
Eintracht Frankfurt | 2014 - 2015 | 3 | - |
Deutsche Nationalmannschaft | 2004 - 2007 | 7 | 1 |