Verrat in Amsterdam: Frank de Boer empört die Massen - und hat Erfolg

Nino Duit
17. Juni 202112:51
Frank de Boer trainiert seit vergangenen Sommer die niederländische Nationalmannschaft.getty
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Entgegen des Wunsches der meisten niederländischen Fans und Experten lässt Nationaltrainer Frank de Boer nicht das klassische 4-3-3-System spielen - beim EM-Auftakt gegen die Ukraine hatte er trotzdem Erfolg. Vom Verrat am Vermächtnis des in Amsterdam omnipräsenten Fußballlandesheiligen Johan Cruyff.

Für Frank de Boer gibt es schlicht kein Entkommen, denn er ist überall. Er ist vor der Haupttribüne, den Ball führend in Bronze gegossen. Und er ist auch direkt neben dem Parkplatz der Mannschaftsbusse, gestikulierend an die Wand gepinselt. Vor jedem Heimspiel in Amsterdam muss de Boer hier vorbeigehen auf dem Weg in das Stadion, das auch noch nach ihm benannt und im Inneren mit Fotos von ihm behangen ist. Auf dem Weg in die Johan-Cruyff-Arena.

Cruyff ist der Schöpfer des niederländischen Fußballs wie wir ihn kennen. Als genialer Spielmacher und Stürmer in Personalunion führte er das bis dahin international unbedeutende Ajax Anfang der 1970er Jahre zu drei Titeln im Europapokal der Landesmeister. Mit der Nationalmannschaft stürmte er 1974 bei ihrer allerersten Turnier-Teilnahme ins WM-Finale - und verlor tragisch gegen Deutschland. Gemeinsam mit Trainer Rinus Michels entwickelte Cruyff den sogenannten Totaalvoetbal. Permanente Positionswechsel, hohes Pressing, bedingungsloses Angriffsspiel, am liebsten über die Flügel. Der Geheimcode dahinter: 4-3-3.

Es ist das System, das für ewig mit dem niederländischen Fußball verbunden sein wird. Entsprechend hat die Nationalmannschaft immer und zu jeder Zeit so zu spielen, ein bisschen auch einfach aus Prinzip. So sehen es zumindest die meisten Fans und Experten bis heute, geprägt von Cruyffs jahrelangen, mantraartigen Wiederholungen in TV-Shows, Zeitungs-Kolumnen oder wo auch immer. 2016 starb Cruyff zwar, das 4-3-3 aber ist geblieben.

Dem aktuellen niederländischen Nationaltrainer Frank de Boer scheint dieses Vermächtnis aber ziemlich egal zu sein - und zur allgemeinen Überraschung hatte er beim EM-Eröffnungsspiel gegen die Ukraine trotzdem Erfolg. Seine Mannschaft spielte im ungewohntem 3-5-2-System mitreißenden Fußball und gewann dank Denzel Dumfries' spätem Tor zwar etwas glücklich, vor allem aber hochverdient mit 3:2.

Thema ist der vermeintliche Verrat in den Niederlanden aber weiterhin und auch vor dem zweiten Gruppenspiel gegen Österreich am Donnerstag (21 Uhr im LIVETICKER), bei dem beide Nationen den vorzeitigen Einzug ins Achtelfinale fixieren könnten.

Denzel Dumfries rettete den Niederlanden beim EM-Auftakt einen späten Sieg gegen die Ukraine.getty

Fans, Experten und der Himmel wünschen sich das 4-3-3

Begonnen hatte im vergangenen Sommer alles ganz harmlos: De Boer übernahm das Traineramt vom zum FC Barcelona abgewanderten Ronald Koeman und ließ zunächst auch noch ganz brav 4-3-3 spielen. Ergebnisse und Leistungen waren aber nur so mittelmäßig, also probierte er in der unmittelbaren EM-Vorbereitung Anfang Juni mal was Neues.

Was genau, das ist eine Frage für sich und wird in den Niederlanden aktuell intensiv diskutiert. Fest steht: De Boer lässt mit einem Keeper, drei Innenverteidigern, drei zentralen Mittelfeldspielern und zwei Stürmern spielen. Bleiben noch zwei Außenbahnspieler: Stürmer oder Verteidiger? 3-5-2 oder 5-3-2? In den Niederlanden spricht man bei diesem System eher von einem 5-3-2, vielleicht auch, um eine generelle Verachtung zu transportieren. De Boer nennt es lieber 3-5-2, denn er findet: "5-3-2 klingt zu negativ." Wie dem auch sei: Eigentlich will man in den Niederlanden sowieso keines von beiden, sondern einfach nur das 4-3-3.

Das hört de Boer jeden Tag im Fernsehen, das liest er jeden Tag in den Zeitungen. "Cruyff würde sich im Grab umdrehen", klagte ein langjähriger Nationalspieler vor dem Turnierstart bei De Telegraaf. Ach ja, es handelte sich dabei um de Boers Zwillingsbruder Ronald.

Beim Abschlusstraining vor dem EM-Eröffnungsspiel gegen die Ukraine kam dann noch eine letzte verzweifelte Bitte und zwar vom Himmel. Nein, nicht von Cruyff persönlich, sondern von einem Flugzeug, das über dem südwestlich von Amsterdam Mitten im Wald gelegenen KNVB Campus kreiste und ein Banner hinterherzog mit der Aufschrift: "Frank. Gewoon 4-3-3." Frank. Nur 4-3-3. So wie damals, als er Ajax mit diesem System zwischen 2010 und 2016 zu vier Meistertiteln führte. "Danke für den Tipp", sagte de Boer lapidar. "Aber es bleibt beim 3-5-2."

Niederlande: 2014 mit einem 3-5-2 im WM-Halbfinale

Zu seiner Verteidigung hätte er durchaus auch erwähnen können, dass die Niederlande bei ihrer bisher letzten Turnier-Teilnahme mit eben diesem System das WM-Halbfinale erreichten. 2014 war das unter Trainer Louis van Gaal, der ebenfalls erst kurz vor Turnierstart von 4-3-3 auf 3-5-2 umstellte.

Van Gaal galt vor dem damaligen Turnier im Land zwar ebenfalls als eher unbeliebt, anders als de Boer aktuell aber immerhin auch als national anerkannte Respektperson. Bei seinen vorherigen Trainerstationen hatte van Gaal große Erfolge gefeiert, das kleine AZ Alkmaar zum Meistertitel und den FC Bayern beinahe zum Triple geführt.

Von solchen Meriten kann bei de Boer keine Rede sein, seine fast schon als selbstverständlich angesehenen Erfolge mit Ajax sind längst verblasst. Bei Inter Mailand und Crystal Palace wurde er nach jeweils nicht einmal drei Monaten entlassen, zuletzt trainierte er den MLS-Klub Atlanta United FC.

Niederlande überzeugen zum Turnierstart gegen die Ukraine

Wie 2014 van Gaal wagte de Boer also sieben Jahre später ebenfalls das Unerhörte und schickte seine Mannschaft mit einem 3-5-2 ins Turnier. Zunächst: de Boer hatte Recht, beim Eröffnungsspiel gegen die Ukraine war es tatsächlich ein 3-5-2. Die beiden Außenbahnspieler Patrick van Aanholt und Denzel Dumfries spielten fast schon provokant hoch.

Vor allem Dumfries, der auf der rechten Seite immer wieder Flankenläufe bis zur Grundlinie hinlegte und in der realtaktischen Aufstellung sogar der offensivste Spieler der ganzen Mannschaft war. Das sollte sich lohnen, denn er leitete die ersten beiden Treffer seiner Mannschaft ein und erzielte das entscheidende 3:2 kurz vor Schluss selbst.

Trotz des ungewohnten Systems zeigten die Niederlande eine offensivorientierte, mitreißende Leistung: Im Mittelfeld harmonierten der technisch versierte Frenkie De Jong und der dynamische Georginio Wijnaldum, vorne ergänzten sich der wuchtige Wout Weghorst und der wendige Memphis Depay.

Der Auftritt war eine positive Überraschung für die Fans, die dem Turnier nicht zuletzt wegen Trainer de Boer äußerst pessimistisch entgegengeblickt hatten. Zum Spiel gegen die Ukraine erschienen sie haufenweise in Cruyff-Trikots, zumindest das hatte aber immerhin nichts mit der System-Debatte zu tun. Das machen sie hier in Amsterdam immer so und das passt auch ganz wunderbar zum allgemeinen Stadtbild.

Johan Cruyff ist in Amsterdam omnipräsent

In wohl keiner europäischen Stadt ist eine lokale Fußballlegende so omnipräsent wie 4-3-3-Prediger Cruyff in Amsterdam. Vielleicht noch Diego Armando Maradona in Neapel, aber das war es dann auch schon. Wird einem in München an jeder Ecke Franz Beckenbauer vor Augen geführt? In Manchester Bobby Charlton? In London Thierry Henry? In Mailand Paolo Maldini? In Madrid Alfredo Di Stefano? Nein. Da gibt es hier und da mal eine Statue, aber damit muss es dann auch getan sein.

In Amsterdam dagegen kann man kaum eine Straße entlanggehen und kaum eine Gracht überqueren, ohne ein Graffiti, einen Sticker oder eine Zeichnung mit Cruyffs Gesicht, seinem Namen oder seiner legendären Rückennummer 14 zu sehen. In den Souvenirläden wird sein Trikot meist am prominentesten präsentiert und dann gibt es auch noch zwei Sportgeschäfte, die seinen Namen tragen. Smit Cruyff Sportspecialisten gehörte ihm einst sogar selbst.

Am Cruyff Institute direkt neben dem Olympiastadion (vor dem natürlich eine weitere Cruyff-Statue steht) kann man Sportmanagement studieren, was unter anderem der aktuelle Spieler des FC St. Pauli James Lawrence gemacht hat. Die Cruyff Foundation setzt sich für Kinder- und Jugendsport ein und ist in der Stadt vor allem durch die eigens errichteten Bolzplätze namens Cruyff Courts omnipräsent.

Wijnaldum: "Jeder hier ist es gewohnt, 4-3-3 zu spielen"

Dort können die Kleinsten erstmals wild gegen Fußbälle treten, ehe sie sich irgendeinem Klub anschließen, um dort fortan mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das 4-3-3-System zu lernen. "Jeder hier ist es gewohnt, 4-3-3 zu spielen", sagte Kapitän Wijnaldum vor dem Eröffnungsspiel, nur um eilig hinterherzuschieben, dass natürlich auch das neue System gut angenommen wurde.

An der Ausrichtung wird de Boer für das zweite Gruppenspiel gegen Österreich nichts ändern. Er und seine Spieler werden auf dem Weg vom Mannschaftsbus ins Stadion also wieder mit dem Gefühl des Verrats am Cruyff-Wandgemälde vorbeigehen müssen. Erspart bleibt ihnen dabei aber immerhin ein Blickkontakt, denn Cruyff ist nur von hinten zu sehen. Wendet er sich vielleicht sogar absichtlich vom Stadion ab?