Fehlende Identifikation mit dem VfL Wolfsburg konnte man Marcel Schäfer noch nie nachsagen. Zehn Jahre lang trug der gebürtige Aschaffenburger das Trikot der Wölfe, ehe er nach nur einer Saison in den USA im vergangenen Sommer als Sportdirektor zu den Niedersachsen zurückkehrte.
Im großen Exklusiv-Interview mit SPOX und Goal erklärt der 34-Jährige seine besondere Beziehung zum VfL und seine neue Rolle außerhalb des Rasens, spricht über das überraschende Aus von Trainer Bruno Labbadia, die Suche nach einem Nachfolger und verrät, warum er nichts von Playoffs in der Bundesliga nach amerikanischem Vorbild halten würde.
Herr Schäfer, erinnern Sie sich noch an den 12. April 2016?
Marcel Schäfer: Ich muss raten. Habe ich da mein letztes Bundesliga-Tor erzielt?
Nein. Vielleicht hilft Ihnen ja der Name Cristiano Ronaldo auf die Sprünge.
Schäfer: Ach ja, stimmt. Das Champions-League-Viertelfinale in Madrid.
Ronaldo hat Sie und Ihre Kollegen nach einem 2:0-Sieg im Hinspiel mit drei Toren rausgeschossen. Die wohl bitterste Niederlage der jüngeren Vereinsgeschichte des VfL.
Schäfer: Das würde ich nicht sagen. Wir haben sicherlich eine große Chance verpasst, ein dickes Ausrufzeichen in Europa zu setzen. Insgesamt haben wir aber eine tolle Champions-League-Saison gespielt, Deutschland in Europa sehr gut vertreten. Trotz des Ausscheidens im Santiago Bernabeu bleibt mir diese Zeit positiv in Erinnerung. Soll ich Ihnen mal von meiner bittersten Niederlage erzählen?
Nur zu.
Schäfer: Das 0:2 hier in Wolfsburg gegen Eintracht Braunschweig in der Saison 2013/14. Wir haben seit gefühlt einer Ewigkeit wieder ein Bundesliga-Spiel gegen unseren Erzrivalen bestritten - und verloren. Das war ganz schlimm für mich. Auch die Tage und Wochen danach.
SPOXDennoch ging es nach jenem 0:3 in Madrid für den VfL von außen betrachtet steil bergab. Trainer und Verantwortliche wurden verschlissen, einige Stars suchten nach und nach das Weite - auch Sie verließen den Verein.
Schäfer: Das hatte in meinem Fall aber nichts mit dem Verein zu tun. In dieser Zeit wurde ich sportlich nicht mehr so häufig berücksichtigt. Es war nach zehn Jahren beim VfL, mit 32, einfach an der Zeit für mich zu gehen und Platz für jüngere Spieler zu machen. Wir hatten außerdem längst vereinbart, dass ich anschließend in einer anderen Funktion zurück nach Wolfsburg kehre.
Ihr Weg führte zu den Tampa Bay Rowdies nach Florida, einem amerikanischen Zweitligisten. Warum?
Schäfer: Es gab Anfragen aus der Bundesliga, die finanziell reizvoller waren als in die zweite amerikanische Liga zu gehen, aber es hätte sich für mich nicht ehrlich angefühlt, wenn ich innerhalb Deutschlands noch einmal gewechselt wäre und gegen den VfL gespielt hätte.
Bei Ihrem Wechsel ging es nicht nur darum, aktiv Fußball zu spielen, sondern sich im Rahmen ihres Sportmanagement-Studiums weiterzubilden.
Schäfer: Richtig. Ich habe schon mit Mitte 20 diverse Fernstudiengänge und auch am VfL Campus eine Weiterbildung im Bereich Sportmanagement absolviert. Es war mir früh wichtig, mich weiterzubilden und auf die Zeit nach meiner aktiven Karriere vorzubereiten. Das wollte ich nach meiner Zeit beim VfL forcieren. Ich habe 2017 auch mit einigen Klubs aus der MLS gesprochen, die mir zwar mehr Geld, aber nur einen Vertrag als Spieler angeboten haben. Die Tampa Bay Rowdies haben mir dagegen die Möglichkeit eröffnet, Praktika zu absolvieren, bei umliegenden Sportvereinen reinzuschnuppern und Kontakte zu Verbänden, Colleges und Universitäten herzustellen. Das war eine Bildungsreise für mich und meine Familie.
Inwiefern?
Schäfer: Wir sind in meiner fußballfreien Zeit viel umhergereist, waren bei vielen Sportvereinen wie zum Beispiel bei Daniel Theis und den Boston Celtics. Rückblickend muss ich sagen: Das war die beste Investition meines Lebens. Wenn ich sehe, wie meine Kinder Englisch sprechen und wie viel auch ich in dieser Zeit gelernt und aufgesaugt habe, wie viele Kontakte ich geknüpft und wie viele gute Gespräche ich geführt habe - ich hätte das sogar ohne Gegenleistung gemacht.
Was können sich europäische Sportvereine denn von amerikanischen abschauen?
Schäfer: Man kann nicht alles eins zu eins übertragen. Wir können von den Amerikanern lernen, sie können aber auch von uns lernen. Für mich war besonders interessant zu sehen, wie viel die Amerikaner in das Team um das Team investieren. Bei den Tampa Bay Buccaneers bestand der Trainerstab beispielsweise aus 17 Personen. Wie bei den meisten Football-Teams gab es dort viele positionsspezifische Trainer. Was die Individualisierung, das positionsspezifische Training betrifft, sind uns die Amerikaner zweifelsohne einen Schritt voraus. Generell sind die Amerikaner offener für Innovationen als wir Deutsche. Sie probieren lieber 50 Ideen aus und verwerfen am Ende 48 wieder. Wir sind da vorsichtiger, holen uns immer erst Feedback, bis wir irgendetwas ausprobieren.
Wo haben die Amerikaner denn konkret Nachholbedarf?
Schäfer: Es gibt zwei Dinge, die ich kritisch sehe. Zum einen, dass man fürs Fußballspielen bezahlen muss. Das schließt viele Talente aus, deren Eltern finanziell weniger Spielraum haben. Straßenfußballer, wie wir sie in Europa nennen, haben Schwierigkeiten, in Amerika Fuß zu fassen. Natürlich können sie auf der Straße oder auf einem eingezäunten Bolzplatz spielen. Wenn sie aber in einer richtigen Mannschaft, in einem richtigen Wettbewerb spielen wollen, müssen sie bezahlen. Das finde ich nicht gut. Zum anderen ist man, wenn man mit 21 oder 22 aus dem College kommt, zumindest in Europa kein Talent mehr. Obwohl ich es als dreifacher Familienvater begrüße, dass die Amerikaner großen Wert auf die bestmögliche Schulausbildung legen, wird es für viele gute Spieler dadurch schwierig, eine große Karriere hinzulegen. Ansonsten glaube ich aber, dass die Amerikaner auf einem sehr guten Weg sind. Der Fußball boomt. Nicht wenige behaupten, dass der Fußball dort mittlerweile der beliebteste Sport unter den Jugendlichen ist. Ich kann selbst bestätigen, dass dort unglaublich viele Jugendliche Fußball spielen. Das war schön zu sehen. Und ich glaube, dass der neue Nationaltrainer Gregg Berhalter etwas Großes aufbauen wird. Er war mein Teamkollege bei 1860 München und kennt neben dem amerikanischen Fußball auch den europäischen sehr gut.
In der jüngeren Vergangenheit wurde rege über die Einführung eines Playoff-Systems nach amerikanischem Vorbild in der Bundesliga diskutiert. Würden Sie das begrüßen?
Schäfer: Für die Zuschauer wären Playoffs bestimmt spannend. Aus der Sicht des Sportlers würde ich sie persönlich aber nicht begrüßen, weil ich eine schlechte Erfahrung bei Tampa Bay gemacht habe. Wir haben damals eine sehr gute Saison gespielt, sind dann aber im Halbfinale der Playoffs gescheitert. So etwas ist schon bitter. In einem Spiel, in dem die Tagesform entscheidet, kannst du dich um die monatelange harte Arbeit bringen. Wenn es Playoffs in Deutschland gäbe, wären die Bayern in den vergangenen Jahren vermutlich nicht immer Meister geworden, weil auch sie vielleicht mal einen schlechten Tag erwischt hätten. Aber ich finde, dass es nur gerecht ist, wenn die über 34 Spieltage beste Mannschaft belohnt wird.
Zurück zu Ihnen: Im Sommer 2018, etwas mehr als nach einem Jahr in den USA, übernahmen Sie beim VfL das Amt des Sportdirektors. Waren Sie die von der schnellen Beförderung überrascht?
Schäfer: In meinem Anschlussvertrag stand ursprünglich, dass ich 2019 hierher zurückkehre und in die sportliche Leitung gehe. Sportlich lief es dann aber bekanntlich eher bescheiden, es kam zu einigen Veränderungen. Jörg Schmadtke wurde Geschäftsführer und signalisierte schnell, dass er mich gerne sofort hier haben möchte. Nach einem persönlichen Gespräch in Frankfurt ging alles ganz schnell. An einem Freitag stand ich zum letzten Mal bei Tampa Bay auf dem Platz, am Montag saß ich schon als Sportdirektor im Büro meines Herzensvereins.
Wie hat sich Ihr Leben seitdem verändert?
Schäfer: Als Fußballer war man zwar ständig unterwegs, aber die Zeitumfänge waren zumindest in meinem Fall deutlich geringer als jetzt. Man muss ständig erreichbar sein, hat eine Sieben-Tage-Woche. Das meine ich aber gar nicht negativ, denn ich liebe meinen Job. Aber die eigene Person rückt deutlich in den Hintergrund. Wenn ich ein Fußballer bin und schlechte Flanken schlage, schnappe ich mir einen Ball und schlage 100 Flanken, um mich zu verbessern. Als Sportdirektor muss ich viel mehr Geduld auf der Suche nach Lösungen mitbringen.
gettySchnappen Sie sich ab und zu auch mal einen Ball nach dem Training und bolzen ihn aufs Tor?
Schäfer: Ich habe leider keine Zeit dazu. Die wenige freie Zeit, die ich habe, versuche ich mit meiner Familie zu verbringen. Ich vermisse es auf der einen Seite schon, Profi zu sein, weil man wirklich sagen kann, dass es keinen schöneren Beruf gibt. Aber ich habe mir den Job des Sportdirektors bewusst ausgesucht. Wer mich kennt, der weiß, dass ich schon als Spieler mit viel Herzblut und Leidenschaft dabei war. Das bin ich jetzt auch in meiner neuen Funktion.
Wie sehen Ihre Aufgaben konkret aus?
Schäfer: Ich bin die Schnittstelle zwischen der Mannschaft und der Geschäftsführung. Ich habe mehrere komplexe Aufgaben, aber in erster Linie verantworte ich den sportlichen Bereich. Ich führe viele Gespräche mit den Spielern. Mir kommt natürlich zu Gute, dass ich selbst Spieler war und mich in meine Gegenüber hineinversetzen kann. Ich habe alle Facetten, die ein Bundesliga-Profi erleben kann, durchlebt. Vom Nationalspieler und Mannschaftskapitän hin bis zum Ersatzspieler oder nicht eingesetzten Spieler auf der Tribüne. Ich habe erlebt, wie man hochgejubelt wurde, als es gut lief, wie man ausgebuht wurde, als es schlecht lief. Wenn zum Beispiel ein Spieler zu mir kommt und sagt "Es kotzt mich an, dass ich nicht spiele" oder "Ich bin total unzufrieden", weiß ich genau, wie sich derjenige fühlt und wie ich ihm helfen kann. So etwas kann man nicht studieren. Auf der anderen Seite gibt es natürlich noch viele Bereiche, in denen ich dazulernen muss. Ich lerne sehr viel von Jörg Schmadtke. Mit ihm ein Team zu bilden, ist für mich die perfekte Konstellation. Ich finde es immer besser, wenn die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt wird. Man hört es nicht gerne, aber Fußballvereine sind heutzutage eben Wirtschaftsunternehmen. Je größer die Kompetenz, desto besser.
Ihre Beförderung zeigt, dass sich in den vergangenen Jahren nach jener Niederlage in Madrid einiges geändert hat in Wolfsburg. Der VfL gibt auch auf dem Platz jüngeren, lernfähigen Spielern die Chance anstatt fertige Stars wie Nicklas Bendtner oder Andre Schürrle zu verpflichten. Wie lautet die Identität des neuen VfL?
Schäfer: Es geht in erster Linie um den Verein. Wir haben uns gesagt, dass wir die Werte unseres Vereins, unserer Stadt, unseres Partners Volkswagen wieder auf den Platz bringen müssen. Dass wir unseren Slogan Arbeit, Fußball, Leidenschaft mit Leben füllen müssen. Ich glaube, das tun wir in dieser Saison. Wir spielen gut, nicht immer schön, aber immer mit bedingungslosem Einsatz. Jeder brennt darauf, mit diesem Verein erfolgreich zu sein. Das war nach zwei schwierigen Jahren unser oberstes Ziel für diese Saison.
Spielern wie Bendtner oder Schürrle wurde fehlende Identifikation mit dem Verein nachgesagt. Setzt der VfL auch deshalb vermehrt auf jüngere Spieler aus dem eigenen Nachwuchs statt viel Geld in vermeintliche Söldner zu investieren?
Schäfer: Wenn wir nicht darum bemüht wären, Eigengewächse an das Profiteam heranzuführen, könnten wir unsere Akademie schließen. Wir wollen immer wieder jungen Spielern aus unserer Akademie die Gelegenheit geben, sich im Profiteam zu beweisen. Ich möchte trotzdem nicht ausschließen, dass wir irgendwann wieder Geld in die Hand nehmen und einen Topspieler verpflichten. Wer hohe Ziele hat, muss früher oder später so agieren. Die Vergangenheit hat auch gezeigt, dass wir immer dann am erfolgreichsten waren, wenn wir Spieler geholt haben, die hungrig darauf waren, den nächsten Schritt in ihrer Karriere zu machen und gleichzeitig uns als Verein helfen, besser zu werden. Kevin de Bruyne ist ein Paradebeispiel. Der war zwar schon ein Toptalent, als er zu uns kam, aber auch sehr hungrig, weil er beim FC Chelsea nicht die Möglichkeit auf Einsätze hatte.
Wie schwierig ist es, Topspieler von dem Verein und von der Stadt zu überzeugen?
Schäfer: Wir versuchen jedem Spieler, den wir verpflichten wollen, die Stadt und die besondere Konstellation mit Volkswagen näher zu bringen. Der VfL ist in gewisser Weise Volkswagen. Das ist eine für die Bundesliga einzigartige Konstellation. Jeder Spieler, der hierher kommt, soll genau wissen, worauf er sich einlässt. Ein Spieler muss nicht zehn Jahre hier bleiben, aber er muss in der Zeit, in der er hier ist, mit voller Überzeugung zu Werke gehen und versuchen, das Maximum abzurufen. Wir wollen Spieler, die sich mit dem VfL und unserem eingeschlagenen Weg identifizieren.
Gibt man das Wort Wolfsburg bei Google ein, erscheint zuallererst der Satz "Wolfsburg ist hässlich".
Schäfer: Ich kann nach den knapp zwölf Jahren, in denen ich jetzt Wolfsburg kenne, mit Recht behaupten, dass die ganzen Vorurteile über die Stadt nicht fair sind. Jede Stadt hat ihre Vorzüge und wiederum auch Seiten, die nicht schön sind. Wolfsburg ist eine sehr lebenswerte Stadt. Gemeinsam mit meiner Familie fühle ich mich hier sehr wohl. Wir haben ein Haus gekauft und ein gutes Gefühl dabei, unsere Kinder hier aufwachsen zu sehen. Auch weil alle drei Kinder hier geboren sind, ist Wolfsburg für uns eine Heimat geworden. Und seien wir ehrlich: Für einen Fußballer zählt nicht in erster Linie, in welche Stadt er kommt, sondern welche Arbeitsbedingungen er dort vorfindet, um seine bestmögliche Leistung zu bringen. Und die Bedingungen hier beim VfL suchen in der Bundesliga ihresgleichen. Man kann hier in Ruhe arbeiten bei einem Verein, der seine sportliche Qualität schon mehrmals national und international unter Beweis gestellt hat.
Zuletzt aber eher weniger. Wo soll die Reise des VfL in den nächsten Jahren hingehen?
Schäfer: Vielleicht kommen wir da ja wieder hin, wo wir vor ein paar Jahren waren. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich rufe jetzt nicht die Meisterschaft als Ziel aus. Aber ich halte es beispielsweise nicht für unmöglich, irgendwann wieder den DFB-Pokal zu gewinnen. Unser Ziel für die nächsten Jahre lautet, im europäischen Geschäft vertreten zu sein. Daran arbeiten wir. Schritt für Schritt. In Ruhe.
Ab der neuen Saison mit einem neuen Trainer. Bruno Labbadia verlässt den Verein - auf eigenen Wunsch. Wie bewerten Sie diese Entscheidung?
Schäfer: Zunächst einmal muss ich sagen, dass die Mannschaft fit ist und eine positive Entwicklung genommen hat. Daran haben Bruno und sein Trainerteam einen großen Anteil. Dass sich Neuzugänge wie Wout Weghorst, Jerome Roussillon oder Daniel Ginczek hier so gut eingefügt haben, ist ebenfalls Bruno zu verdanken. Eigentlich stand ein gemeinsames Gespräch aus, aber er hat dann für sich die Entscheidung getroffen, ab dem Sommer etwas anderes zu machen.
Als Nachfolger für Labbadia wird Marco Rose von RB Salzburg gehandelt. Würde Rose denn zum VfL passen?
Schäfer: Wir kommentieren grundsätzlich keine Namen. Wichtig ist: Wir müssen einen Trainer finden, der nicht nur die Entwicklung fortführt, sondern die Werte des Vereins in sich hat und sich mit dem VfL identifizieren kann. Ich bin überzeugt, dass wir einen solchen Trainer finden - ohne eine Zeitschiene zu nennen. Die Suche läuft, wir setzen uns dabei aber nicht unter Druck und wollen auch nicht, dass das Thema die Mannschaft negativ beeinflusst. Wir wollen uns am Ende der Saison nicht nachsagen lassen, nicht alles gegeben zu haben.