Am kommenden Samstag droht dem SV Werder Bremen der erste Abstieg aus der Bundesliga seit 40 Jahren: Zwei Punkte und vier Tore fehlen auf den Relegationsplatz und Fortuna Düsseldorf. SPOX beantwortet die Fragen zum grün-weißen Niedergang.
Werder Bremens Krise: Wie konnte es so weit kommen?
"Es sind Fehler gemacht worden, und die darf man natürlich nicht wiederholen", sagte Willi Lemke am Samstagabend, nachdem der SVW 1:3 gegen Mainz verloren hatte. Der 73-Jährige hat die Hochzeiten an der Weser miterlebt, zunächst als Manager (1981-1999) und später im Aufsichtsrat (1999-2016). Darunter fällt auch die Ära Otto Rehhagel (1981-1995), und schon König Otto wusste: "Im Erfolg macht man die größten Fehler."
Der Erfolg, er liegt in Bremen schon einige Jahre zurück: Von 2004 bis 2010 spielte der Klub in sechs von sieben Jahren in der Champions League. Ein dauerhafter (finanzieller) Erfolg, in einer wirtschaftlich schwächeren Region und einem notorisch klammen Stadtstaat umso wichtiger.
Doch es gelang dem Klub nicht, die eigene Wettbewerbsfähigkeit an der Tabellenspitze zu zementieren. So wurde von 2008 bis 2011 etwa das Weserstadion für teures Geld umgebaut, doch die Kapazität blieb bei knapp über 42.000 Zuschauern. Über 70 Millionen Euro kostete der Umbau, den vor allem der Verein schulterte, doch der führte nicht zu den erhofften Mehreinnahmen. Auch gegen einen Verkauf des Stadionnamens wehrten sich die Fans jahrelang erfolgreich, was den Klub Millionen Euro kostete.
Werder Bremens Bundesliga-Platzierungen seit dem Titel 2004
Saison | Punkte | Tore | Platzierung |
2003/04 | 74 | 79:38 | 1 |
2004/05 | 59 | 68:37 | 3 |
2005/06 | 70 | 79:37 | 2 |
2006/07 | 66 | 76:40 | 3 |
2007/08 | 66 | 75:45 | 2 |
2008/09 | 45 | 64:50 | 10 |
2009/10 | 61 | 71:40 | 3 |
2010/11 | 41 | 47:61 | 13 |
2011/12 | 42 | 49:58 | 9 |
2012/13 | 34 | 50:66 | 4 |
2013/14 | 39 | 42:66 | 12 |
2014/15 | 43 | 50:65 | 10 |
2015/16 | 38 | 50:65 | 13 |
2016/17 | 45 | 61:64 | 8 |
2017/18 | 42 | 37:40 | 11 |
2018/19 | 53 | 58:49 | 8 |
So machte sich der Nachteil in puncto Wirtschaftsstandort umso stärker bemerkbar, als die Einnahmen aus dem Europapokal schließlich ausblieben und Transfers nicht zündeten, gleichzeitig aber ein teurer Kader, zusammengestellt für die Königsklasse, bezahlt werden wollte (siehe: 04, Schalke). Und die nötigen Investitionen in die Infrastruktur und ein erstklassiges Nachwuchsleistungszentrum lassen ebenfalls auf sich warten: Das Internat ist weiterhin im Stadion untergebracht, doch ein geplantes NLZ in der Pauliner Marsch wird von den Anwohnern blockiert. Das Stadtgebiet verlassen will Werder nicht - nicht romantisch genug.
Damit wäre ein weiteres Problem des Vereins genannt: Werder will "anders" sein, ist stolz auf den eigenen Sonderweg im Vergleich zur unmittelbaren Konkurrenz. Eine familiäre Vereinsführung mit alten Recken auf den wichtigsten Positionen im Stile des FC Bayern, keine vorschnellen Trainerwechsel, und wenn, dann wird der U23-Trainer befördert. Ständig ist man auf der Suche nach dem nächsten Rehhagel, dem nächsten Thomas Schaaf - und so werden Trainer lieber zu spät als zu früh entlassen. Das kann gutgehen, muss es aber nicht.
Bayern kann es sich leisten, frühere Spieler einzubauen. Läuft es mal nicht, wie etwa vor einigen Jahren bei Christian Nerlinger, kann es der Klub verkraften. Und Werder? Frank Baumann wurde ohne Erfahrung im Job Geschäftsführer Sport, Clemens Fritz ohne Vorkenntnisse Chef der Kaderplanung. Als Outsider Thomas Eichin 2013 für Klaus Allofs übernahm, bremste er zwar den finanziellen Sturzflug, war aber intern nicht kompatibel: Im März 2016 trennte man sich von ihm statt von Trainer Viktor Skripnik - ein paar Monate später war Skripnik jedoch ebenfalls Geschichte.
Ist Werder Bremens Kader nicht gut genug für die Bundesliga?
Auf dem Papier ist der Kader allemal gut genug für einen gesicherten Mittelfeldplatz, die Webseite transfermarkt.de führt ihn in Sachen Marktwert auf Rang elf.
Veteranen, junge Talente wie Josh Sargent, dazu Leihspieler wie Kevin Vogt, Leonardo Bittencourt (beide Hoffenheim), Ömer Toprak (BVB) oder Davie Selke (Hertha)- gleich mehrere Faktoren haben die Leistungsfähigkeit der Werderaner in dieser Saison jedoch stark eingebremst.
- Fehlender Ersatz für Max Kruse: 21 Scorerpunkte (11 Tore, 10 Vorlagen) hatte Kruse in der letzten Saison beigesteuert und war damit der klare Unterschiedsspieler im Kader. Als die Vertragsverlängerung mit dem mittlerweile 32-Jährigen scheiterte und er nicht gerade im Guten in die Türkei wechselte, wurde einerseits Niclas Füllkrug als Ersatz verpflichtet, andererseits sollte die Last auf mehrere Schultern verteilt werden. Resultat: Der verletzungsanfällige Füllkrug riss sich im September das Kreuzband, Osako und Co. konnten nicht in die Bresche springen. "Max Kruse gehen zu lassen, ist im Rückblick ein krasser Fehler", wusste auch Lemke.
- Fehlende Physis und Galligkeit: Werder ist in dieser Saison einfach viel zu brav und zu bieder - auch hier wird Kruse natürlich schmerzlich vermisst. Es fehlt der Leader, der die Mannschaft mitreißt, auch mal dazwischengrätscht, nicht nur verbal. Gleichzeitig schlägt sich die fehlende Körperlichkeit im Verteidigen von Standards nieder: 22 Gegentore hat man nach Standards schon kassiert.
- Verletzungen: Die Krankenakte der Werderaner, sie hat in dieser Saison Überlänge. So viele Ausfälle hat Kohfeldt zu beklagen, dass er im Mai angesichts von "nur" vier oder fünf fehlenden Stammspielern von einer "sehr guten personellen Situation" sprach. Gerade Muskelverletzungen beutelten den Klub, viele Rückkehrer verletzten sich nur wenige Wochen später erneut. Die Frage ist, ob es sich dabei nur um Zufall handelt. Jedenfalls handelte Werder und holte im Winter einen neuen Teamarzt, Athletiktrainer und Physiotherapeutin.
- Fehlende Fitness: Schon in der Hinrunde machten Beobachter bei den Spielern eklatante läuferische Mängel fest, gerade in Sachen Sprints und intensive Läufe - den Spielern ging zum Spielende hin regelmäßig die Luft aus. "Die Mannschaft war nachweislich nicht fit, in keinster Weise", sagte etwa Werder-Legende Uli Borowka zu SPOX und Goal. Diese Defizite wurden im Winter jedoch nicht angegangen, stattdessen legte Kohfeldt andere Schwerpunkte. Erst seit dem Corona-Restart konnte der Rückstand auf die anderen Klubs in dieser Hinsicht aufgeholt werden.
Taugt Werder-Trainer Florian Kohfeldt als Sündenbock?
Monatelang verband den Bremer Vorstand eine Nibelungentreue zu Kohfeldt, eine Trennung war trotz der sportlichen Misere kein Thema. "Wir bleiben gemeinsam drin oder steigen gemeinsam ab", betonte Aufsichtsratschef Marco Bode im Februar. Ob der 37-Jährige auch im Falle eines Abstiegs noch Trainer bleibt, ist offen: Diese Gespräche werde man erst noch führen", sagte Bode am Sonntag.
Welche Schuld trifft Kohfeldt am drohenden Abstieg? Die Kaderplanung fällt in den Bereich Baumann/Fritz, für die vielen Verletzten kann er nichts. In letzter Konsequenz ist er aber natürlich verantwortlich für schwache Fitness-Werte - und natürlich die vielen Niederlagen. Gerade daheim ist das Team erschreckend schwach (ein Sieg, sechs Punkte insgesamt). In seiner Zeit in Bremen hat Kohfeldt unzählige kleine Veränderungen angestoßen, von den Trainingsplätzen bis hin zum Kabinentrakt. Möglich, dass er sich damit übernommen hat.
imago images / PoolfotoKohfeldt wurde in den vergangenen Jahren zum Gesicht des Vereins, weitere Entscheidungsträger wie Baumann oder eben auch Bode bleiben im Hintergrund. Bei den Medienvertretern ist der umgängliche Trainer beliebt, auch die Fans hielten ihm lange die Treue. Mittlerweile hat sich aber nicht nur bei Teilen des Anhangs die Ansicht breit gemacht, dass man nach dem 0:5 gegen Mainz im Dezember die Reißleine hätte ziehen sollen - im Nachhinein natürlich immer leicht gesagt.
Was man dem Trainer auf jeden Fall anlasten muss: Auch er steuerte nicht gegen, als zu Saisonbeginn unrealistische Zielsetzungen formuliert wurden, sprach von Europa. Als die Mannschaft stetig tiefer in die sportliche Krise schlitterte, kam von den Verantwortlichen nur Dampfplauderei. Kohfeldt hätte gegensteuern müssen, die Mannschaft auf Kratzen und Beißen einstellen. Doch erst nach dem 1:6 gegen Bayern am 15. Spieltag sprach er erstmals vom Abstiegskampf: "Wir haben das Wort bisher vermieden, weil wir gesagt haben, es geht nicht nur ums Kämpfen." Zu diesem Zeitpunkt hatte das Team 14 Punkte auf dem Konto - jetzt sind es 28.
Was würde ein Abstieg für Werder Bremen bedeuten?
1980 trat Werder zuletzt den Gang in die Zweitklassigkeit an. Damals konnten Leistungsträger wie Nationaltorwart Dieter Burdenski gehalten werden, im Februar 1981 kam Otto Rehhagel und es gelang der prompte Wiederaufstieg. Dass es diesmal ähnlich "glimpflich" ausgehen wird, glauben die wenigsten.
Von einem "finanziellen Desaster" und dem sportlichen "Super-GAU" spricht Borowka: "Werder hätte ein massives Problem, sich in der 2. Liga zu behaupten." Schließlich ist die Konkurrenz groß: Mindestens ein halbes Dutzend Vereine werden den Aufstieg 2021 anpeilen, offiziell oder inoffiziell. Eine finanziellen Vorsprung hätte Bremen nicht.
Schließlich hat der Verein Schulden und wird auch in der laufenden Saison weitere Schulden machen - die Corona-Krise tut ihr übriges. Dennoch müsste der Kader von Grund auf umgebaut werden: Kaum ein Leistungsträger wird mit in die 2. Liga gehen, und die Ablösesummen für Stars wie Milot Rashica werden deutlich geringer ausfallen. Zwar kommen talentierte Leihspieler zurück, doch das reicht noch lange nicht. Zum Vergleich: Der VfB Stuttgart gab nach dem Abstieg 2019 19 Spieler ab - und holte 18 neue.
In der Theorie hat es etwas für sich: ein Schnitt im Kader. Teure, alternde Stars abgeben, mit jungen Talenten aus dem eigenen Nachwuchs einen Neuaufbau wagen und neu aufgestellt zurück ins Oberhaus. Wie oft das klappt, kann Werder derzeit beim HSV beobachten: Der Wiederaufstieg wäre eine unglaubliche Herausforderung. Und einen Mäzen wie beim nördlichen Nachbarn hat man in Bremen nicht.
Dazu kommt: Nicht nur beim Kader gibt es Fragezeichen. Das Schicksal von Kohfeldt ist noch offen, auch für Bode und Baumann könnte der Abstieg Konsequenzen haben. Wer übernimmt dann das Ruder? Die Tatsache, dass Lemke in den letzten Tagen plötzlich bei Sky und im Sportstudio auftauchte, lässt tief blicken: Droht gar ein Machtkampf hinter den Kulissen?
Fraglich also, wie schnell man Werder im Falle das Abstiegs wieder in der höchsten Spielklasse sehen würde. Ein Journalist aus dem Umfeld des Klubs drückt es so aus: "Sie bringen viel Potenzial mit, so zu enden wie 1860 München oder der 1. FC Kaiserslautern."