Auf Hitzfelds Spuren

Johannes Mittermeier
24. September 201409:40
Willy Sagnol trainierte ein Jahr die französische U-21-Nationalmannschaft - dann lockte Bordeauxgetty
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Kam er an den Ball, rief das Publikum begeistert seinen Namen. Kam er zu Wort, war das ein Singsang mit kernigem Inhalt. In diesem Sommer kam der Trainer Willy Sagnol zu Girondins Bordeaux - als Lückenfüller. Mit deutscher Disziplin und jugendlichem Elan soll die Legende des FC Bayern an vergilbte Erfolge anknüpfen. Bisher läuft es prima. Aber Sagnol kennt die Schnelllebigkeit des Geschäfts aus leidvoller Erfahrung.

Graue Vorzeit damals. Es war ein nasskalter Abend im November 2009, als sich der FC Bayern München und Girondins Bordeaux letztmals auf sportlicher Ebene kreuzten. Champions League, Vorrunde. Die Bayern wankten bedenklich nach der 0:2-Heimniederlage, der zweiten Pleite im zweiten Vergleich mit dem französischen Meister.

Es war jene Saison, die München mit Louis van Gaal schmückte, und die mit der magischen Nacht von Turin ihre Kehrtwende finden sollte. Bei Bordeaux stand Laurent Blanc in der Verantwortung, Yoann Gourcuff führte glänzend Regie und Marouane Chamakh schoss sich ins Schaufenster. Der Stratege und der Stürmer trafen beim Sieg in München - und die Hausherren ins Mark. Tristes Ambiente, trister Fußball, triste Stimmung. Die Allianz-Arena, ohnehin nicht als Tempel der Temperamente verschrien, schwieg sich mal wieder aus.

Willyyyyyyyyyy

Als der Trainer Norbert Meier einmal berichten sollte, warum sein Spieler Tobias Willi ständig mit Sprechchören gefeiert wurde, sagte Meier, "Willi" wäre eben kompatibler als "Egon". Vielleicht dachten die Münchner Fans ähnlich - und falls nicht, machte es keinen Unterschied, denn einen Egon hatten die Bayern nicht im Team.

So erwachte das vermeintliche Opern-Publikum stets aus seiner Trägheit, wenn sich das Geschehen auf die rechte Spielfeldseite verlagerte. Ambiente, Fußball und Stimmung waren dann irrelevant. Kaum berührte der Außenverteidiger mit dem Hang zur Nonchalance den Ball, legte sich ein akustisches Tiefdruckgebiet über das Stadion. Eine Choreografie als Zelebration der Gemeinschaft: Willyyyyyyyyyy.

Fünf Jahre nach dem einschneidenden Sieg in München, der eine Reise einläutete, die erst im Viertelfinale endete, vereinigt Willy Sagnol die Schnittmenge zwischen Bayern und Bordeaux - als Coach bei Girondins. "Ich weiß nicht, ob wir unsere Stellung jetzt so massiv verändert haben", sinnierte er nach dem starken Saisonstart. "Aber wir haben realistische Ansprüche auf den Titel." Willy, der Ex-Bayer.

Zidane wollte nicht

Mit 13 Zählern aus sechs Partien rangiert der Vorjahressiebte auf Platz zwei der Ligue 1, punktgleich mit Tabellenführer Marseille. Vor der Saison war Sagnol mit einem Dreijahresvertrag ausgestattet worden, inklusive der Quasi-Gewissheit, bloß Lückenfüller zu sein. Girondins hatte mit Zinedine Zidane verhandelt, aber die Klubikone bevorzugte seinen Co-Trainer-Posten bei Real Madrid.

Also zögerte Präsident Jean-Louis Triaud nicht, dem Ersatzkandidaten eine Portion "Frische und Schwung" zu attestieren. Und: Ein Auge für die Jugend.

Als wolle er seinen Boss bestätigen, holt Sagnol auf der Vereinshomepage zu einem Monolog aus. Gefragt, ob es wichtig wäre, die Denkweise junger Spieler zu verstehen, antwortet er: "Es ist nicht wichtig - es ist eine Verpflichtung. Als ich damals nach München kam, wunderte ich mich, warum die Dinge hier so sind, wie sie sind. Ich dachte: Zuhause ist es anders, und das ist besser. Eines Tages wurde mir gesagt, dass sich 80 Millionen Deutsche nicht wegen eines Franzosen wandeln werden. Genauso gebe ich es meinen Spielern weiter. Es liegt nicht an ihnen, sich anzupassen. Es liegt an uns, ihre Wünsche, Bedürfnisse, ihre ganze Kultur zu verstehen. Ansonsten kann es zu einem Generationszusammenprall kommen."

"In mir steckt eine Menge Ottmar Hitzfeld"

Der "WAZ" hat Sagnol vor einiger Zeit verraten, als Jungprofi zum Laissez-faire tendiert zu haben. "Locker, lässig und bequem" nennt er diese Haltung, die sich in Deutschland grundlegend geändert hätte. Neun Jahre war der ehemalige Rechtsverteidiger beim FC Bayern, vor allem eine Lektion hat er verinnerlicht: "Ich weiß nun genau, was Disziplin bedeutet. Ohne Disziplin hat man keine Erfolge. Aber ich muss natürlich Rücksicht auf die französische Kultur nehmen, die eine andere als die deutsche ist", erklärt er.

Wenn Sagnol seine Vorstellungen veranschaulichen will, schlägt er auch immer einen Bogen zur Vergangenheit. Bayern hat ihn begleitet, sein Lieblingscoach geprägt. "In mir steckt eine Menge Ottmar Hitzfeld. Für mich war er der beste Trainer, mit dem ich zusammengearbeitet habe!" Fünfeinhalb Jahre nämlich.

Achillessehne als Achillesferse

184 Mal tauchte Sagnol in der Bundesliga auf, erzielte sieben Tore und servierte den Kollegen deren 39. Flanken aus dem rechten Halbfeld, das war Sagnols Spezialität. Der Franzose verbuchte fünf Meisterschaften, vier Pokalsiege, Champions League und Weltpokal 2001. Für die Nationalmannschaft kam er zu 58 Einsätzen, er debütierte 2000 und wurde 2006 Vize-Weltmeister - in Deutschland.

Begonnen hatte die Laufbahn in Saint-Etienne, seinem Geburtsort. 1997 wechselte er nach Monaco, 2000 lockten die Bayern, weil Markus Babbel Wahl-Engländer geworden war. Die Münchner suchten jemanden, der das Vakuum füllt, sie stießen auf Willy Sagnol, einen 23-jährigen Jungspund, bezahlten 15 Millionen Mark und sollten es nicht bereuen.

"Willy war einer der besten Transfers, die wir je getätigt haben. Ein großes Vorbild, ein perfekter Profi, ein Aushängeschild in der Welt", würdigte Uli Hoeneß den Franzosen, als dieser 2009 zum Karriereende gezwungen wurde. Die Achillessehne als Achillesferse, mit 31 Jahren. "Der Schritt ist in seiner Endgültigkeit ein Drama", bedauerte Hoeneß und verdrückte sich eine Träne.

Ein heimlicher Lautsprecher

Willy Sagnol hatte es zum Favorit des Volkes gebracht, obwohl sein Auftreten dann und wann ein wenig schläfrig wirkte. Er war entspannter als der aufbrausende Derwisch Lucio, matter als das kecke Energiebündel Hasan Salihamidzic, legerer als der eitle Mittelfeldstar Michael Ballack. Kurzum: Sagnol wurde unterschätzt. Nicht unbedingt auf dem Platz, aber daneben, also dort, wo sich die Leistungsfähigkeit im Mundwerk bemisst. Ränkelspiel nennt sich das wohl, oder Streben nach Einfluss. Oder nach Geld.

Sagnol redete nie besonders laut und eindringlich, nein, er wählte seine Worte mit Bedacht. Das soll nicht bedeuten, dass er nichts zu sagen gehabt hätte, oder dass seine Äußerungen inhaltsleer gewesen wären. Sagnol übte sich im dezenten Ton, aber in dezidierter Form. Wahrscheinlich war er sogar einer der heimlichen Lautsprecher bei den Bayern. Nur merkte das niemand, was an diesem französischen Singsang gelegen haben könnte, der ja immer so putzig klingt, wenn er sich in die Auswüchse der deutschen Sprache verirrt.

Des Kaisers Kolumnen

Jedenfalls prangerte Sagnol durchaus an, was ihm nicht passte. Als etwa Hitzfeld 2004 aus dem Vertrag geschieden wurde, entrüstete er sich über diesen "Bullshit". Auch er selbst, drohte Sagnol, werde zum Vorstand gehen, um seinen Vertrag aufzulösen. Letztlich wurde ihm der Gang abgenommen und dafür das Portemonnaie entlastet.

Als Franz Beckenbauer in seiner Funktion als Boulevardflüsterer zu Hochform auflief und bei günstiger Gelegenheit einige weniger günstige Anmerkungen über Sagnol verlor, war der Franzose eingeschnappt. "Ich habe gelesen, dass jemand gesagt hat, es gibt zwei Beckenbauer, den Kolumnisten und den Präsidenten. Das ist wahr", zischte er. Dieser "jemand" war ein 22-jähriger Mitspieler, der sich nicht scheute, dem Kaiser Paroli zu bieten. Er hieß Philipp Lahm.

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Inzwischen ist Sagnol 37, die Schläfen schimmern leicht gräulich, die Wangen sind fülliger geworden. Einen Tick. 2008 heiratete er seine zweite Frau Gwen, eine ehemalige Bayern-Angestellte. Vierfacher Vater ist der Franzose, zwei Kinder stammen aus erster Ehe.

Nach dem Abschied aus München absolvierte er eine Ausbildung zum Sport-Generalmanager, war Fernsehexperte bei "Canal+" und wurde 2010 Aufsichtsrat von St. Etienne. Ein herausforderndes Aufgabengebiet, Sagnol meisterte es mit Bravour, und einen Mann erstaunte das nicht. "Willy ist ein intelligenter Bursche, der in der Lage ist, querzudenken und einen Verein konstruktiv zu führen. Er hat Prinzipien und kann auch furchtbar stur sein." Sagt: Uli Hoeneß.

Zwischen 2011 und 2013 arbeitete Sagnol als Sportdirektor beim französischen Fußballverband, anschließend trainierte er die U-21-Nationalmannschaft. Bei Girondins Bordeaux fand er eine Mannschaft vor, die ein Gebilde ist, keine Aggregation von Individuen. "Mein Vorgänger hat mir eine zusammengeschweißte Gruppe überlassen", lobt Sagnol.

Sein Vorgänger war Francis Cillot, 2012 gewann er den nationalen Pokal. Sechs Meistertitel konnte der 1881 gegründete Verein bisher verbuchen, zuletzt 1999 und 2009 - dem Champions-League-Jahr mit Bayern. Historisch aber ragen die Endspiele um den UEFA-Cup 1996 heraus. Der aufstrebende Zidane hatte den Taktstock umklammert, nur nicht in diesen Finals. Da übertrumpfte Mehmet Scholl jeden. Bayern siegte 2:0 und 3:1.

Cantona, Lizarazu, Manni Kaltz

Zidane war sicher der größte Spieler, der jemals das Girondins-Trikot trug, doch die Palette enthält weitere Prominenz: Didier Deschamps, Jean-Pierre Papin, natürlich Bixente Lizarazu, auch Johan Micoud, selbst Eric Cantona bestritt während eines Leihgeschäfts elf Partien - mit sechs Treffern.

Der deutsche Bezug ist durch Klaus Allofs und Manfred Kaltz gegeben, in der Aktualität bediente sich die Bundesliga öfters in Bordeaux. Anthony Modeste wechselte nach Hoffenheim, Ludovic Obraniak zu Werder Bremen. Umgekehrt, und damit schließt der Bayern-Kreis erneut, wurde Diego Contento in den Südwesten Frankreichs transferiert.

Neben dem Linksverteidiger verpflichte man Tiago Ilori (Liverpool), Wahbi Khazri (Bastia) sowie Nicolas Pallois (Niort, 2. Liga). Dazu wurden acht Jungprofis im Alter von 18 bis 21 Jahren aus der eigenen Reserve befördert, das zeigt schon, welchen Weg Bordeaux eingeschlagen hat. Oder einschlagen muss. Die gesamten Investitionen der Sommerperiode beliefen sich auf 3,5 Millionen Euro. Das ist weniger als nichts im internationalen Kontext.

Auf der Gegenseite schmerzt der Verlust von Lucas Orban, den Verteidiger zog es zum FC Valencia. Auffällig ist die Altersstruktur der Abgänge, außer dem 20-jährigen Hadi Sacko (Sporting) umfasst die Liste gleich fünf Profis aus der Ü-30-Connection. Was wiederum Trainer Sagnol, den 37-Jährigen, leicht ins Gefüge integrieren ließ. "Der geringe Altersunterschied erleichtert zweifellos die Verbindungen", sagt er.

Schleudersitz in der Komfortzone

Bordeaux hat ein Team ohne Superstar. Bekannteste Gesichter dürften Torwart Cedric Carrasso sein, Jaroslav Plasil, der früher in Osasuna spielte, und Marc Planus, seit 2002 im Klub. Der Rest: Viel Jugend.

"Ich habe hier Spieler mit viel Willen, manchmal zu viel", lächelt Sagnol und meint naiven Übermut. Deshalb glauben viele, dass der Höhenflug keine komplette Saison überdauern wird. Kapitän Lamine Sane reagiert fast trotzig: "Ich erwarte, dass wir oben bleiben!"

Sagnol will einen Fußball implementieren, der von einem dominierten Zentrum in rasante Tempoverschärfungen verfällt. Offensive, Effizienz, Varietät, das sind Begriffe aus seinem Jargon. "Wir wissen, dass wir nicht das beste Team in Frankreich haben, wir wissen, dass Bordeaux nicht der größte französische Klub ist. Aber wir besitzen Werte der Arbeit und der Selbstaufopferung", umschreibt er die Ausrichtung mit etwas Pathos. "Das Ziel für eine Mannschaft wie Bordeaux ist, zu überraschen."

Überraschen - ein gutes letztes Stichwort. Nicht erst seit seinem unvermeidlichen Karriereende weiß Willy Sagnol, wie schnell die Winde drehen können. Den Trainerberuf fasst er pragmatisch auf, als Schleudersitz in der Komfortzone. "Angst vor dem Scheitern habe ich keine. Selbstverständlich birgt der Job immer ein gewisses Risiko. Aber das muss man wagen, um Ziele zu erreichen."

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