Handball-EM - Christian "Blacky" Schwarzer im Interview: "Die EM bewegt sich in Richtung Farce"

Felix Götz
18. Januar 202210:56
Christian Schwarzer wurde 2007 mit Deutschland Weltmeister.imago images
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Christian "Blacky" Schwarzer ist eine der großen Legenden der deutschen Handball-Geschichte. Im Interview mit SPOX spricht der 52-Jährige über die Faszination Nationalmannschaft und die Corona-Situation beim DHB-Team, die sich am Mittwoch durch weitere Fälle weiter verschlimmerte.

Der Weltmeister von 2007 verrät vor dem Spiel gegen Polen (18 Uhr im LIVETICKER), warum ihm vor allem Philipp Weber große Hoffnung macht. Und er erklärt, in welchen Bereichen sich die Mannschaft noch steigern muss.

Corona-Chaos immer schlimmer! Nächste Ausfälle beim DHB-Team

Herr Schwarzer, das Ende Ihrer Nationalmannschaftskarriere liegt mittlerweile fast 15 Jahre zurück. Würden Sie sich zu Beginn eines großen Turniers trotzdem am liebsten immer wieder ein Trikot überziehen und auf die Platte stürmen?

Christian Schwarzer: Gedanklich ja, körperlich nein. (lacht) Es gibt nach wie vor eine Mannschaft der Ehemaligen, mit der wir in Zeiten ohne Corona vier, fünf oder sechs Mal im Jahr spielen. Mit den alten Kollegen zusammenzukommen und den Ball nochmal selbst in die Hand zu nehmen, macht unheimlich viel Spaß. Aber auch bei diesen Spielen fällt zunehmend auf: Der Kopf kann alles, aber der Körper setzt die Dinge leider nicht mehr so um, wie man sich das vorstellt.

Was hat für Sie den besonderen Reiz von Turnieren mit dem DHB-Team ausgemacht?

Schwarzer: Den Adler auf der Brust zu tragen, sich mit Kumpels zu treffen, Spaß zu haben, Dinge im Training zu erarbeiten und dann im Turnier so umzusetzen, dass dabei Medaillen herausspringen oder man gemeinsam etwas aus dem Pokal trinken kann. Das mit den Medaillen hat zum Glück ganz gut geklappt bei mir. Leider war der WM-Pokal 2007 so eine komische Figur und die EM-Trophäe 2004 ein Teller. Da konnte man maximal draus essen. Die Nationalmannschaft hat mich immer fasziniert. Ich durfte viele Momente erleben, die du dir nicht kaufen kannst.

Christian Schwarzer wurde 2007 mit Deutschland Weltmeister.imago images

Lassen Sie uns über die EM sprechen. Am Montagabend gab es den nächsten Corona-Hammer. Nach Julius Kühn und Nachrücker Hendrik Wagner wurden auch Andreas Wolff, Kai Häfner, Timo Kastening, Lukas Mertens und Luca Witzke positiv getestet. Wie bewerten Sie die Situation?

Schwarzer: Ich habe am Montagabend Handball geschaut und plötzlich erzählte Kretzsche als Experte, dass es fünf weitere Coronafälle im deutschen Team gibt. Ich dachte im ersten Moment, das wäre ein schlechter Scherz. Dann kamen ruckzuck mehrere WhatsApp-Nachrichten und mir wurde klar, dass es die bittere Wahrheit ist. Ich weiß gar nicht, was ich zu dieser Situation sagen soll. Die Frage ist: Wann kommt das Ende? Man muss ja fast damit rechnen, dass es noch weitere positive Fälle geben wird.

Es ist ja nicht so, dass nur die deutsche Mannschaft von Corona betroffen ist. Wird die EM sportlich gesehen nicht allmählich zur Farce?

Schwarzer: Die EM bewegt sich in Richtung Farce, das muss man so sagen. Es ist ja auch völlig unklar, wie das jetzt mit den nachnominierten Spielern weitergeht. Man muss sich nur mal vor Augen führen, wie es mit Wagner gelaufen ist. Der kommt nach Bratislava und muss direkt ins Quarantäne-Hotel. Es ist eine wahnwitzige Situation für ihn und insgesamt sehr gewöhnungsbedürftig, das Turnier unter solchen Bedingungen zu spielen. Es wäre bitter und für unsere Sportart schlecht, wenn am Ende die Mannschaft Europameister werden würde, die die wenigsten Coronafälle hat. Das Beispiel von Julius Kühn & Co. zeigt, dass es dich auch dann erwischen kann, wenn du nichts falsch machst. Aber: Die Mannschaften tun alles, halten sich an Protokolle und dann hörst du die Berichte von Nikola Karabatic aus Ungarn vor der EM, die ich erschreckend fand. Es ist für mich unbegreiflich, wie es sein kann, dass in diesen Zeiten neben den Mannschaften noch normale Gäste im gleichen Hotel untergebracht werden. Wir müssen aufpassen, dass es am Ende nicht heißt: Die Handballer sind nicht ganz dicht und haben noch nie etwas von Corona gehört.

Müsste die EHF einen Abbruch in Betracht ziehen?

Schwarzer: Es ist viel Geld im Spiel, TV-Gelder, Sponsoren-Gelder und so weiter. Deshalb weiß ich nicht, ob die EHF bereit ist, das Turnier einfach abzubrechen. Einerseits bin ich geneigt zu sagen, dass die Abwägung, das Turnier abzubrechen oder nicht, ein schmaler Grat ist. Andererseits darf es für mich gar kein Abwägen geben, weil es um die Gesundheit der Beteiligten geht. Die kannst du mit keinem Geld der Welt bezahlen. Es ist unheimlich kompliziert.

Muss sich nicht auch der DHB die Frage stellen, ob es sinnvoll wäre, das Turnier von sich aus abzubrechen? Schließlich trägt der Verband die Verantwortung für die Gesundheit seiner Spieler.

Schwarzer: Der DHB muss sich dieser Verantwortung bewusst sein. Wir haben ja aktuell beim FC Bayern das Beispiel mit der Herzmuskelentzündung bei Alphonso Davies. Auch wenn da offenbar nicht eindeutig klar ist, ob das nun von Corona kommt oder nicht. Trotzdem kann es Spätfolgen geben. Und da steht der DHB seinen Spielern und den Vereinen gegenüber in einer riesigen Verantwortung. Kann man es beispielsweise zulassen, dass eventuell Kühn, wenn er denn negativ getestet wird, in der Hauptrunde wieder mitmischt? Da sind sicherlich intensive Untersuchungen nötig. Wenn einer von den Jungs gesundheitliche Schäden davontragen würde, wäre das der absolute Super-GAU.

Der DHB hat Johannes Bitter, Rune Dahmke, Sebastian Firnhaber, Paul Drux und Fabian Wiede nachnominiert. Ergibt sich plötzlich die absurde Situation, dass der deutsche Kader besser besetzt ist als zuvor?

Schwarzer: Das würde ich so nicht sagen. Damit würde man den Jungs unrecht tun, die bislang dabei waren. Es zeigt aber, wie viele gute Spieler wir in Deutschland haben. Selbst mit vielen Ausfällen ist der DHB in der Lage, noch viel Qualität nachzunominieren. Dass die Jungs die Vorbereitung nicht mitgemacht haben, ist aber natürlich nicht gerade optimal.

Deutschland ist mit zwei Siegen gegen Belarus und Österreich ins Turnier gestartet. Wie fällt - unabhängig von den Coronafällen - Ihr Zwischenfazit aus?

Schwarzer: Gut spielen und verlieren ist immer schlecht. Dann lieber zwei Arbeitssiege und noch Luft nach oben haben. So muss man die Auftritte der Mannschaft bislang bewerten, damit kann man sehr gut leben. Klar sind Belarus und Österreich keine Spitzenteams. Aber bei einer EM muss man jeden Gegner total ernst nehmen. Ein Beispiel sind die überraschend starken Niederländer, die mich bisher begeistert haben. Der Vorteil des DHB-Teams war bislang der breite Kader. Es gibt eine ganze Reihe von Spielern, die mal in einer Partie groß auftrumpfen können. Gegen Belarus waren das Kai Häfner und Julius Kühn, gegen Österreich Timo Kastening und Till Klimpke.

Ohne eine Steigerung wird es aber in den kommenden Partien eng, oder?

Schwarzer: Das ist klar. In der Hauptrunde, die im Prinzip schon mit dem letzten Vorrundenspiel gegen Polen beginnt, warten andere Kaliber. Die Mannschaft muss stabiler werden und darf sich nicht solche Schwächephasen wie zu Beginn der bisherigen Partien erlauben. Wenn man gegen ein Topteam so beginnt wie in den ersten zehn Minuten gegen Belarus, dann kann das Spiel schon weg sein.

Alfred Gislason hat in den ersten beiden Spielen im Tor überraschend zu Beginn jeweils Till Klimpke den Vorzug vor Andreas Wolff gegeben. Ist der Bundestrainer damit ein großes Risiko eingegangen?

Schwarzer: Ich finde überhaupt nicht, dass Alfred damit ein Risiko eingegangen ist. Wenn ich nach zehn Minuten als Trainer das Gefühl habe, dass mein Torhüter keinen Ball hält, dann wechsele ich eben. Das ist noch kein Drama. Ich finde grundsätzlich nicht, dass es bei den Torhütern im Handball eine klare Nummer eins oder Nummer zwei geben muss. Meistens geht es bei der Frage, wer anfängt, eher um das Bauchgefühl des Trainers. Ich freue mich einfach für Till Klimpke, dass er gegen Österreich so ein tolles Spiel gemacht und ins Turnier gefunden hat.

Das einstige DHB-Prunkstück, die Abwehr, war bisher ein Sorgenkind. Es wurden in beiden Partien viel zu viele leichte Anspiele an den Kreis zugelassen. Was muss sich ändern?

Schwarzer: Es war aus meiner Sicht nicht so, dass die Abwehr grundsätzlich geschwächelt hätte. Die beiden ersten Halbzeiten waren nicht gut, dann wurde es aber in beiden Partien deutlich besser. Eigentlich wurden die zuvor begangenen Fehler dann sogar komplett abgestellt. Es ist doch so: Man kann sich im Vorfeld so viele Videos anschauen, wie man möchte. Trotzdem muss man sich erstmal an die Spielweise eines Gegners gewöhnen. Natürlich darf das gegen die kommenden Gegner aber nicht eine ganze Halbzeit lang dauern.

Im Rückraum haben Julius Kühn oder Sebastian Heymann auf links, Philipp Weber in der Mitte und Kai Häfner oder Christoph Steinert auf rechts bislang gut harmoniert. Kann man insgesamt sagen, dass der deutsche Rückraum im Vergleich zu den vergangenen Jahren einen Schritt nach vorne gemacht hat?

Schwarzer: Alfred ist als akribischer Arbeiter bekannt und diese Arbeit trägt im Rückraum derzeit Früchte. Die Ausfälle sind nun natürlich bitter, aber alle fünf genannten Spieler haben sehr, sehr gute Ansätze gezeigt, wirken gut eingespielt. Vor allem bei Weber habe ich das Gefühl, dass er den nächsten Schritt gemacht hat. Obwohl er erst zwei Tore erzielt hat. Er war für mich in der Vergangenheit zu abschlussorientiert.

Wie meinen Sie das?

Schwarzer: Nehmen wir als Beispiel Andy Schmid, einen der besten Spielmacher der vergangenen Jahre. Er kann ein Spiel komplett dominieren, ohne dabei in 60 Minuten auch nur einmal auf das Tor zu werfen. Weber konzentriert sich nun ebenfalls viel mehr darauf, seine Mitspieler mit guten Pässen in Szene zu setzen, als selbst den Abschluss zu suchen. Das macht er wunderbar. Wenn man dann noch das Potenzial bedenkt, dass er natürlich trotzdem als Torschütze noch mehr in Erscheinung treten kann, macht mir das für den Rest des Turniers große Hoffnung.

Johannes Golla ist als Kapitän gefragt, im Mittelblock und im Angriff am Kreis. Wie bewerten Sie seine Rolle bislang?

Schwarzer: Er macht seine Sache in allen Bereichen sehr gut. Ich war bereits vor der EM der Meinung, dass wir uns auf der Kreisläufer-Position trotz der Ausfälle von Hendrik Pekeler und Jannik Kohlbacher keine Sorgen machen müssen. Mit Golla und Patrick Wiencek spielen dort nämlich die beiden Jungs, die sich Woche für Woche in der Champions League beweisen. Wenn du in diesem Wettbewerb spielst, entwickelst du dich fast automatisch noch einmal einen Schritt weiter.

SPOXgetty

Nun steht das wichtige Spiel gegen Polen an, in dem es darum geht, welche Mannschaft Punkte mit in die Hauptrunde nimmt. Was macht die Polen so gefährlich?

Schwarzer: Erstmal muss man sehen, wer bei den Polen überhaupt mitmischen können wird. Aber grundsätzlich zeichnet die Polen ähnlich wie die deutsche Mannschaft ihre Ausgeglichenheit aus. Früher konnte man sich auf einen Bielecki oder Jurecki einstellen. Jetzt sind das eine Reihe von verhältnismäßig unbekannten Spielern, die aber alle ihre Qualitäten haben und entsprechend schwer auszurechnen sind. Eigentlich würde ich von einem Spiel auf Augenhöhe ausgehen. Aber wir wissen ja noch nicht einmal, welche deutschen Spieler überhaupt dabei sein können.

Was also trauen sie der deutschen Mannschaft noch zu?

Schwarzer: Die Mannschaft - ich spreche jetzt vom Kader der ersten beiden Spiele - zeigt nach außen hin einen guten Teamgeist, strahlt Spaß, Freude und Begeisterung aus. Alles, was die Jungs machen, ob auf dem Spielfeld oder auf der Bank, wird mit großer Leidenschaft erledigt. Meiner Meinung nach ist deshalb wirklich alles möglich, wenn sich das Team in einen Flow spielt und etwas konstanter wird. Wir brauchen uns vor keiner Nation dieser Welt zu verstecken. Aber wie gesagt: Corona ist eine Unwägbarkeit bei dieser EM. Dadurch kann sich ganz schnell alles verändern.

Handball-EM: Tabelle der Gruppe D

PlatzLandSpieleSUNToreDiff.Punkte
1.Polen220065:51+144
2.Deutschland220067:58+94
3.Österreich200260:70-100
4.Belarus200249:62-130