Handball-EM - Timo Kastening im Interview: "Als ich zehn war, hat mich Dieter Hecking beim Rauchen erwischt"

Felix Götz
11. Januar 202210:30
Timo Kastening tritt mit dem DHB-Team bei der EM in Ungarn und der Slowakei an.imago images
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Timo Kastening hat sich zu einem wichtigen Eckpfeiler der deutschen Handball-Nationalmannschaft entwickelt. Vor der EM in Ungarn und der Slowakei (13. bis 30. Januar) spricht der Rechtsaußen im Interview mit SPOX über eine unangenehme Begegnung mit Dieter Hecking und ein kurioses Treffen mit Stefan Kretzschmar.

Außerdem erzählt der 26-Jährige von der MT Melsungen von einem feuchtfröhlichen Abend mit Darts-Profis und seiner Bewunderung für Bundestrainer Alfred Gislason.

Herr Kastening, mit Florian Hempel hat bei der vergangenen Darts-WM ein ehemaliger Handballer für Furore gesorgt. Auch im Kreise der Handball-Nationalmannschaft wird regelmäßig Darts gespielt. Welchem DHB-Spieler würden Sie am ehesten zutrauen, mit etwas Training ins Ally Pally einzuziehen?

Timo Kastening: Also mir auf jeden Fall schon mal nicht. (lacht) Aber wenn man sich Hempel und Max Hopp anschaut, der auch eine Handball-Vergangenheit hat, scheinen Handballer eine gewisse Affinität zum Darts zu haben. Hendrik Pekeler, der ja leider nicht mehr dabei ist, und Philipp Weber sind die Besten von uns. Die zocken schon groß auf. Ob es für das Ally Pally reichen würde, wage ich mal zu bezweifeln.

Sie selbst haben 2020 bei einer Veranstaltung in Hannover ein Showmatch gegen Michael van Gerwen bestreiten dürfen. Wie haben Sie sich geschlagen?

Kastening: Schon echt schlecht, würde ich sagen. Das war aufgrund der Corona-Situation eine Drive-in-Veranstaltung, wir haben also sozusagen vor 500 Autos gespielt. Das ist nochmal etwas ganz anderes, als wenn man in der Kneipe spielt. Entsprechend war dann auch meine Performance nicht zufriedenstellend.

Bei der Veranstaltung waren neben MvG auch Hopp und Dimitri van den Bergh dabei. Mit den beiden sollen anschließend einige Biere vernichtet worden sein.

Kastening: Ja, wir haben damals in meinen Geburtstag reingefeiert. Werner von Moltke, der Geschäftsführer der PDC Europe, war auch dabei. Wir haben es, wie es sich für Handballer und Dartsspieler gehört, ganz gut krachen lassen.

Timo Kastening tritt mit dem DHB-Team bei der EM in Ungarn und der Slowakei an.imago images

Kastening: "Ein schlechtes Turnier und das Vertrauen bröckelt"

Weg vom Darts, hin zum Handball: Sie wurden durch Ihre bärenstarken Auftritte bei der EM 2020 in Österreich, Schweden und Norwegen einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Im gleichen Jahr wurden Sie zu Deutschlands Handballer des Jahres gewählt, wechselten von der TSV Hannover-Burgdorf zur MT Melsungen und sind längst fester Bestandteil der Nationalmannschaft. Wie bewerten Sie Ihre Entwicklung in den vergangenen Jahren?

Kastening: Es hat mich stolz gemacht, dass es 2020 so gut gelaufen ist und ich mich auch über die Leistungen im Verein in der Nationalmannschaft etablieren konnte. Auch nach dem Wechsel von Christian Prokop zu Alfred Gislason spüre ich Rückendeckung. Dass ich bei den Olympischen Spielen in Tokio auf Rechtsaußen alleine spielen durfte, ist als Vertrauensbeweis des Bundestrainers zu werten. Das ist aber alles Vergangenheit. Ich muss mich wie jeder andere bei jedem Turnier aufs Neue beweisen. Ein schlechtes Turnier und das Vertrauen bröckelt, das ist ganz normal im Mannschaftssport. Deshalb: Niemals aufhören und immer Gas geben.

Nicht nur Gislason schätzt Ihre Leistungen. 2019 dachte beispielsweise Sportvorstand Stefan Kretzschmar darüber nach, Sie 2020 zu den Füchsen Berlin zu holen.

Kastening: Das war eine witzige Geschichte. Kretzsche schrieb mir damals und fragte, wie lange mein Vertrag noch läuft. Ich dachte, er würde meine offizielle Vertragslaufzeit in Hannover meinen und antwortete: "Bis 2020." Er meinte dann, dass wir uns zusammensetzen sollten, woraufhin wir uns getroffen haben. Kretzsche ist ja gut vernetzt, weshalb ich glaubte, er wüsste bereits, dass ich in Melsungen unterschrieben habe. Und sein Einstieg bei den Füchsen war damals auch noch gar nicht offiziell. Wir haben uns also getroffen, über Gott und die Welt gequatscht, ehe Kretzsche zum Punkt kam. "Ich hab doch schon in Melsungen unterschrieben", antwortete ich. Und Kretzsche fragte: "Ja warum triffst du dich dann überhaupt mit mir?" Ich wollte einfach mal die Gelegenheit nutzen, mich mit Kretzsche zusammenzusetzen. (lacht)

Hatte das damit zu tun, dass Kretzschmar ein Vorbild für Sie ist?

Kastening: Als großer Fan des FC Bayern, bei dem ich Mitglied bin, war mein Vorbild als kleiner Junge immer nur Oliver Kahn, weil er alles für den maximalen Erfolg getan und das tagtäglich ausgestrahlt hat. Trotzdem ist Kretzsche jemand, der den Handball durch sein Auftreten, sein Aussehen und seine Leistung über die Grenzen der Handball-Szene hinaus populär gemacht hat. Solche Leute tun der Sportart unheimlich gut.

Stefan Kretzschmargetty

Kastening: "Für mich ist das zu viel Wischiwaschi"

Es gibt seit Jahren die Diskussion, dass dem deutschen Handball heute solche Typen fehlen würden. Welche Meinung haben Sie dazu?

Kastening: Egal ob es um Handball oder Fußball geht: Alle schreien so lange nach Typen, bis es welche gibt. Wenn heute einer den Mund aufmacht, bekommt er gleich eine drüber. Die Gesellschaft ist diesbezüglich sehr flach geworden, das gilt für Fans und Medien gleichermaßen. Jede Aussage und jeder Typ wird so hingehalten, wie es gerade gebraucht wird. Man muss sich entscheiden: Will man Typen und akzeptiert dann Ecken und Kanten? Oder will man eben keine Typen haben? Für mich ist das heutzutage zu viel Wischiwaschi.

Wenn man sich in Handball-Kreisen umhört, werden Sie als echter Typ beschrieben, der gleichzeitig sehr bodenständig ist. Spielt dabei Ihre Herkunft eine Rolle? Ihre Eltern führen einen landwirtschaftlichen Betrieb.

Kastening: Das Elternhaus und der Freundeskreis spielen eine große Rolle. An einem Tag bist du Handballer des Jahres, am nächsten kommst du nach Hause, gehst in den Hühnerstall und mistest dort die Scheiße aus. Da besteht keine Gefahr, abzuheben, ich kenne es gar nicht anders. Durch Erfolg oder eine Auszeichnung ändert sich weder bei mir noch bei meiner Familie irgendetwas.

Apropos Elternhaus: Sie sind in unmittelbarer Nachbarschaft zum bekannten Fußball-Trainer Dieter Hecking aufgewachsen. Stimmt eigentlich die Geschichte, dass er Sie als Kind beim Rauchen erwischt hat?

Kastening: Die Geschichte stimmt. Ich bin seit vielen Jahren und bis heute eng mit Dieters Söhnen Aaron und Jonas befreundet. Irgendwann, ich muss so zehn Jahre alt gewesen sein, spielten mein Bruder, Jonas, Aaron und ich bei uns auf dem Bauernhof Fußball. Irgendwie kamen wir auf die blöde Idee, dass der Verlierer zum Automaten gehen und eine Packung Zigaretten kaufen muss. Der Verlierer war ich. Wir haben uns neben dem Fußballplatz hinter eine Hecke gesetzt und erstmal eine geraucht.

Was geschah dann?

Kastening: Plötzlich kam der Dieter um die Ecke. Er hat uns nur einen unmissverständlichen Blick zugeworfen und wir wussten alle, dass es jetzt an der Zeit ist, sofort nach Hause zu gehen. Später wurden wir dann noch ziemlich ins Gebet genommen. (lacht)

Lassen Sie uns über die anstehende EM sprechen. Die vergangenen beiden Turniere liefen mit Platz 12 bei der WM in Ägypten und Rang sechs bei Olympia in Tokio nicht wie gewünscht. Das lag einerseits an einigen Ausfällen und Absagen. Muss man andererseits nicht feststellen, dass die öffentliche Erwartungshaltung - von einer deutschen Handball-Nationalmannschaft wird eigentlich immer das Halbfinale verlangt - schlichtweg zu hoch und damit unrealistisch ist?

Kastening: Der DHB ist der größte Handballverband der Welt. Deshalb ist es auf der einen Seite normal, dass man an Medaillen oder an Platzierungen gemessen wird. Klar ist aber auch: Abgesehen vom EM-Triumph 2016 wurden meistens nicht mehr die Ziele erreicht, die man sich erhofft hatte. Wenn sich diese Ergebnisse über einen so langen Zeitraum immer wieder bestätigen, muss man feststellen, dass man nicht mehr in den Top-Vier-Nationen vertreten ist. Das ist aktuell die Realität, entsprechend muss man die Erwartungshaltung ein Stück weit herunterschrauben. Dass wir aber in naher Zukunft wieder in die Weltspitze stoßen können und wir auch in der Lage sind, uns während eines Turniers in einen Rausch zu spielen, steht für mich außer Frage.

SPOXimago images

Kastening: "Wir müssen Gislasons System weiter adaptieren"

Zwei schwächere Turniere, erfahrene Spieler wie Uwe Gensheimer oder Steffen Weinhold sind zurückgetreten, die Mannschaft befindet sich in einer Art Umbruch: Eigentlich ist die Situation diesmal ziemlich angenehm, weil der ganz große Druck, etwas Großes erreichen zu müssen, gar nicht da sein kann.

Kastening: Das ist die große Hoffnung. Wir haben eine junge, hungrige Truppe, die schnell als Team zusammenfinden muss. Wir müssen Alfreds System weiter adaptieren, einen guten Start ins Turnier hinlegen, von Verletzungen verschont bleiben und uns in einen Flow spielen. Dann ist vieles möglich. Das ist allerdings eben nur die Theorie. Wir haben eine Vorrundengruppe mit Weißrussland, Österreich und Polen, in der du alle Spiele gewinnen, aber auch an schlechten Tagen alle verlieren kannst. Wenn du die ersten beiden Spiele verlierst, ist alles, was du vor dem Turnier erzählt hast, völlig egal.

Wie schon bei den vergangenen Turnieren verzichten auch diesmal Spieler auf eine Teilnahme, obwohl sie nicht verletzt sind. Pekeler legt eine Nationalmannschaftspause ein, Fabian Wiede und Patrick Groetzki sagten aus familiären Gründen ab. Gislason meinte kürzlich, dass es ihm ein Rätsel sei, warum immer wieder Spieler freiwillig auf Turniere mit dem DHB-Team verzichten und dass dies bei anderen Nationen nicht so häufig der Fall sei. Haben Sie für die Absagen Verständnis?

Kastening: Ich bin ledig, bin kein Familienvater, spiele nicht international und muss entsprechend nicht alle zwei Tage reisen. Wenn wir als Beispiel Hendrik Pekeler nehmen, der eine Familie hat, gefühlt seit zehn Jahren Champions League spielt, im Mittelblock und im Angriff im Einsatz ist, dann kann man das nicht vergleichen. Entsprechend steht es mir nicht zu, darüber ein Urteil zu fällen. Ich kann nur für mich persönlich sprechen: Ich liebe meinen Job, weil er gleichzeitig mein Hobby ist und es sich deshalb nicht wie Arbeit anfühlt. Und ich bin stolz, für die Nationalmannschaft zu spielen.

Juri Knorr wird bei der EM fehlen, weil er sich nicht impfen lassen möchte.

Kastening: Ich habe weder mit Juri darüber gesprochen, noch kenne ich die exakten Hintergründe. Deshalb will ich da kein Fass aufmachen. Ich persönlich bin jedenfalls ein totaler Impf-Befürworter und davon überzeugt, dass wir nur weiterkommen, wenn sich alle impfen lassen.

Mit Johannes Golla hat das DHB-Team nach dem Abschied von Gensheimer einen neuen Kapitän. Eine gute Wahl?

Kastening: In der jetzigen Kaderkonstellation ist er die ideale Besetzung. Obwohl er erst 24 Jahre alt ist, ist Johannes bereits sehr weit im Kopf. Er ist im Angriff und in der Abwehr absolute Weltklasse und verkörpert diese neue Art von Kapitän. Er ist kein Haudegen und kein Lautsprecher, versteht es aber sehr gut, im Hintergrund in ruhigen Gesprächen die Dinge zu managen.

Alfred Gislasongetty

Kastening: "Gislason zeichnet ein guter Mix aus"

Gislason war früher ein harter Hund, im Laufe der Zeit ist er aber deutlich lockerer und milder geworden. Was beeindruckt Sie am Bundestrainer am meisten?

Kastening: Er hat alles erreicht, alles gewonnen und jede Situation schon mindestens dreimal erlebt. Er muss gar nicht laut sein, weil schlichtweg seine Aura dafür sorgt, dass man ihm zuhört. Alfred zeichnet ein guter Mix aus. Er weiß, wann der Ton mal etwas rauer werden muss, und spürt, wenn die Mannschaft eine Verschnaufpause benötigt.

Für Gislason war 2021 ein hartes Jahr. Er erhielt einen abscheulichen Drohbrief und vor allem musste er den Tod seiner Frau verkraften. Konntet Ihr ihn als Mannschaft in irgendeiner Form unterstützen?

Kastening: Ich habe es so wahrgenommen, dass es für Alfred ganz gut war, dass wir diese Themen von unserer Seite nicht ständig aufgemacht haben. Es ging eher darum, ihm einen normalen Alltag in seinem Job zu ermöglichen. Da haben wir uns alle sehr viel Mühe gegeben.

Corona wird leider auch bei der EM wieder eine große Rolle spielen. Wie gehen Sie mit dem Thema um?

Kastening: Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Situation so anzunehmen, wie sie ist. Ich persönlich versuche, mir darüber keinen Kopf mehr zu machen und mich darauf zu konzentrieren, was ich persönlich beeinflussen kann. Klar ist, dass keiner von uns in halbleeren oder ganz leeren Hallen spielen möchte.

Abschließende Frage: Ab wann wäre die EM für das DHB-Team ein Erfolg?

Kastening: Ich glaube nicht, dass es besonders clever wäre, mit einer konkreten Zielvorgabe um die Ecke zu kommen. Wenn, dann machen wir das intern. Entscheidend ist für mich, den Zuschauern zu zeigen, dass wir um jedes Tor und um jeden Punkt kämpfen. Alles andere kommt dann von alleine.

Handball-WM: Spielplan der deutschen Gruppe

DatumUhrzeitTeam 1Team 2
Fr., 14. Januar18 UhrDeutschlandBelarus
Fr., 14. Januar20.30 UhrÖsterreichPolen
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So., 16. Januar20.30 UhrBelarusPolen
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