"Von vorne bis hinten hintergangen"

Frederick Müller
12. August 201513:35
Fabienne Kohlmann will als saubere Athletin Zeichen setzengetty
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Fabienne Kohlmann ist über 800 Meter in der Weltspitze angekommen. Erstmals seit zwölf Jahren schaffte eine deutsche Läuferin eine Zeit unter zwei Minuten. Im Gespräch mit SPOX kritisiert sie die mediale Aufmerksamkeit von König Fußball, rechnet mit gedopten Konkurrentinnen ab, stellt das Verhalten des Weltverbandes in Frage und erklärt, warum sie sich manchmal verschaukelt fühlt.

SPOX: Frau Kohlmann, auf Ihrer Homepage sieht man ein Bild von Ihnen, wie Sie als Teenager mit dem Speer hantieren. Wie weit ging es denn damals?

Fabienne Kohlmann (lacht): Ich glaube meine Bestleistung liegt bei 26,5 Meter.

SPOX: Wann haben Sie erkannt, dass das mit den Wurfdisziplinen doch nicht das Richtige ist?

Kohlmann: 2005 hab ich zum ersten Mal einen 400-Meter-Hürdenlauf gemacht, und der war direkt gut. Da deutete sich an, dass das in eine erfolgreichere Richtung geht. Davor bin ich aber auch schon recht erfolgreich 800 Meter gelaufen. Dass ich keine Werferin werde, war eigentlich von Anfang an klar.

SPOX: 2007 waren die Weichen für eine Karriere in der Weltspitze mit dem EM-Titel über 400 Meter Hürden bei den U20-Juniorinnen gestellt. Trotzdem dauerte es nochmal acht Jahre, bis Sie dort angekommen sind. Was ist seither passiert und warum läuft es nach Ihrem vergangenen Seuchenjahr so gut?

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Kohlmann: Die Frage muss ich mir auch immer wieder neu beantworten (lacht). Ich glaube, dass mein Trainer und ich sehr viel sehr gut gemacht haben, seit ich meine Verletzungen im Frühjahr endlich auskuriert habe. Wir versuchten nicht, die verlorene Zeit wieder einzuholen. Stattdessen achteten wir noch viel mehr auf die Qualität des Trainings. Auch die Pause an sich lüftete mir den Kopf durch.

SPOX: Und neuer Ehrgeiz ist dadurch auch entstanden?

Kohlmann: Ja, natürlich! Als ich wieder laufen konnte, dachte ich mir: So, jetzt machst du es richtig. Ich war wirklich dankbar. Als ich nach den ersten Schritten feststellte, dass es gut geht und ich schmerzfrei bin, war klar: Ich werde nie wieder mit meinem Trainer diskutieren, ob ich einen Lauf weniger machen kann. Ich bin dankbar für jeden Lauf. Wie kam ich jemals auf die Idee, weniger machen zu wollen?

SPOX: Bei der Universiade sind Sie kürzlich als erste Deutsche seit mehr als zehn Jahren unter zwei Minuten gelaufen. Wie kam es dazu?

Kohlmann: Ich ging in dieses Finale rein und sagte mir: Jetzt kommt die Bestzeit. Während des Laufs und auch beim Endspurt hab ich immer mal wieder auf die Uhr gelinst und festgestellt: Die Zeit ist gut, mit der Zeit kann ich das schaffen. Ich fühlte mich so schnell, das konnte gar nicht über zwei Minuten gewesen sein. Das Gefühl hat mich zum Glück nicht getäuscht.

SPOX: Am Ende war es Bronze in 1:59,54 Minuten und das Ticket für die WM in Peking.

Kohlmann: Ich hatte in dem Moment das Gefühl, als hätte ich gerade einen Baum ausgerissen. Ich hatte etwas geschafft, das ich lange für unerreichbar hielt. Und auf einmal sieht die Welt ganz anders aus.

SPOX: Und damit war der Knoten geplatzt. In Bellinzona und Nürnberg sind Sie direkt wieder unter zwei Minuten geblieben. Wird das jetzt zur Norm?

Kohlmann: Ich gehe jetzt anders in meine Läufe, weil ich weiß, was ich kann. Erst recht, wenn ich mir vor Augen führe, in welchem Zustand ich beim ersten Mal die zwei Minuten gelaufen bin. Bei der Universiade hatte ich ja schon zwei Vorläufe in den Beinen und war dementsprechend müde. Wenn ich jetzt an den Start gehe, denke ich mir immer: Wenn du es damals geschafft hast, dann heute erst recht.

SPOX: Der Weltrekord datiert von 1983 und liegt bei 1:53,28 Minuten, der deutsche Rekord ist ebenfalls schon 28 Jahre alt. Wieso ist es so schwer, da ran zu kommen?

Kohlmann: (lacht) Das weiß ich leider auch nicht. Vielleicht haben die damals besser, mehr oder anders trainiert. Fakt ist: Die 1:53,28 sind wirklich wahnsinnig schnell. Ich frage mich, wie lange ein Rekord unangefochten stehen bleiben muss, bis man sich die Frage stellt, was hinter diesem Rekord steckt. Offensichtlich sind 30 Jahre nicht genug. Vielleicht stellt man sich in 50 Jahren mal die Frage.

SPOX: Trotzdem sind es "nur" fünf Sekunden Unterschied, wie Außenstehende gerne flapsig sagen. Aber wie viel sind fünf Sekunden in Wahrheit und wie schwer ist es, jede einzelne Sekunde aufzuholen?

Kohlmann: Das hängt von der Disziplin ab: Wären wir jetzt beim Marathon, wären fünf Sekunden überhaupt nichts, beim 100-Meter-Sprint ist es der Unterschied zwischen Bundesjugendspielen und Weltspitze. Eine Sekunde hat je nach Länge der Disziplin eine unterschiedliche Bedeutung. Und fünf Sekunden über 800 Meter herauszulaufen, ist schon eine kleine Welt. Ich wüsste jetzt auf Anhieb nicht, wo ich bei meinem Lauf nochmal fünf Sekunden herholen soll.

SPOX: Eine Ihrer Stärken ist der Kopf, was mit an Ihrem Psychologiestudium liegt. Wie vereinbart sich eigentlich Universität und Leistungssport? Was ist Ihnen wichtiger?

SPOXKohlmann: Genau diese Frage stellte ich mir zum Anfang meines Studiums. Ich musste meine Zeit von Anfang an einteilen: Wieviel gestehe ich der Uni zu und wieviel trainiere ich? Ich habe dann beschlossen, dass ich mich als Leistungssportlerin sehe, die studiert und nicht als Studentin, die Leistungssport betreibt. Theoretisch kann ich auch in zehn Jahren noch studieren, während mein Sport nach oben begrenzt ist. Deswegen muss ich die Zeit, die ich jetzt habe, nutzen. Trotzdem darf ich das Studium aber nicht aus den Augen verlieren. Wenn ich irgendwann keinen Sport mehr machen kann, will ich nicht noch Jahre in eine Ausbildung investieren, sondern beruflich einsteigen. Denn ausgesorgt hat man als Leichtathletin leider nicht.

SPOX: Ist darüber hinaus an ein Studentenleben, wie man es kennt, überhaupt zu denken?

Kohlmann: Jein. Ich habe tatsächlich auch Freizeit (lacht). Aber die hat natürlich einen anderen Umfang als die meiner Mitstudenten. Das typische Studentenleben habe ich nicht mitgemacht, da ich es mir körperlich nicht leisten kann, nachts ständig auf Achse zu sein. Trotz allem feiere ich natürlich gerne und bin ein lebensfroher Mensch. Aber ich muss eben immer abwägen.

SPOX: Auch mit Hinblick auf die WM in Peking. Welche Erwartungen haben Sie?

Kohlmann: Ich möchte mit einer Bestleistung nach Hause fahren. Und nach aktuellem Stand würde mich eine neue Bestleistung ins Finale bringen. Damit liebäugle ich schon.

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SPOX: Nach der WM steht der nächste Traum schon fast vor der Tür. Die IAAF-Norm von 2:01,00 Minuten würden Sie mit einer Bestzeit bei der WM locker erfüllen. Ist Olympia schon ein Thema?

Kohlmann: Olympia spielt auf jeden Fall schon eine Rolle. Meine Zeiten und meine aktuelle Form machen das auf einmal greifbar. Und das gibt mir wahnsinnig viel Selbstvertrauen. Natürlich kann in einem Jahr viel passieren. Aber es tut einfach so gut, das schon einmal gelaufen zu sein und zu wissen, dass man einfach nur das abrufen muss, was man schon einmal erreicht hat.

SPOX: Olympia ist auch deshalb so wichtig, weil man als Leichtathletin eigentlich nur bei Spielen so richtig in den Fokus rücken kann. Alles steht im Schatten des Fußballs. Würden Sie sich mehr Aufmerksamkeit für Ihren Sport wünschen?

Kohlmann: Ja, auf jeden Fall. Mit dem Fußball ist es wie mit der Henne und dem Ei. Wird so viel Fußball gezeigt, weil die Leute das schauen wollen oder schauen die Leute so viel Fußball, weil so viel gezeigt wird? Was definitiv nicht zu leugnen ist, ist das wahnsinnige Ungleichgewicht zwischen Fußball und sämtlichen anderen Sportarten in Deutschland. Man könnte jetzt sagen, die Leichtathletik soll interessanter werden. Aber vielleicht sollte man den Sport nicht direkt ändern, sondern vorher einfach zugänglicher machen, um überhaupt eine Nachfrage zu generieren. Die Frage ist, ob der Zuschauer Leichtathletik nicht sehen will oder ob er es einfach nicht gut genug kennt, um es zu wollen.

SPOX: Wird Ihre persönliche Leistung genug gewürdigt? Glauben Sie, die Leute wissen, was es überhaupt bedeutet, 800 Meter unter zwei Minuten zu laufen?

Kohlmann: Die meisten können schon grob etwas damit anfangen. Spätestens, wenn ich sage, dass 800 Meter zwei Stadionrunden sind (lacht). Ich erfahre schon Würdigung für das, was ich tue. Allerdings bin ich mir auch bewusst, dass sich das in einem Mikrokosmos abspielt, quasi einer Leichtathletik-Kommune. Wenn ich auf die U-Bahn warte, dann sehe ich keine Leinwand, auf der meine letzte Zeit steht, sondern wer das letzte Tor geschossen hat. Dann denke ich mir manchmal, ob manche Medien sich nicht einfach komplett als reine Fußballberichterstatter bezeichnen sollten.

SPOX: In der Weltbestenliste stehen Sie mit Ihrer Zeit aktuell auf Rang fünf. Sehen Sie sich auf Dauer in der Weltspitze?

Kohlmann: Am liebsten will ich natürlich in der Weltspitze bleiben und mich gerne auch weiter nach oben arbeiten. Aber wenn mich die letzten Jahre etwas gelehrt haben, dann dass ich nichts für selbstverständlich nehmen sollte. Es läuft derzeit, aber das wird auch wieder enden, auch wenn ich das nicht will.

SPOX: Wenn wir über das Thema Weltspitze in der Leichtathletik reden, können wir leider auch nicht vermeiden, über Doping zu sprechen. Wie schätzen Sie die aktuellen Entwicklungen ein?

Kohlmann: Als ich von den neuen Erkenntnissen erfuhr, war ich sehr erschüttert, irgendwo auch genervt und frustriert. Aber ich finde es wahnsinnig wichtig, dass solche Recherchen betrieben werden und will nicht, dass das aufhört, nur weil sich ein paar Leute dadurch auf den Schlips getreten fühlen. Für mich kommen diese Ergebnisse nicht unbedingt überraschend. Bis jetzt ist aber hauptsächlich von auffälligen Blutwerten die Rede und nicht von positiven Tests. Was im System läuft da schief, dass solche Auffälligkeiten nicht viel stärker beobachtet werden und dementsprechend gehandelt wird. Offenbar weiß die IAAF ja auch Bescheid, aber warum passiert dann trotzdem so wenig?

SPOX: Fühlt man sich als Athlet betrogen?

Kohlmann: Ich komme mir manchmal als Läuferin vor, als werde ich von vorne bis hinten hintergangen. Man sagt immer, dass man besonders im Sport so viel Fairness beobachten kann und dass Fairness gelebt wird. Das ist Quatsch. Ich wünsche mir mehr Fairness und kann meinen Teil als saubere Athletin beitragen. Aber es gibt andere, die sich dazu entscheiden, nachzuhelfen. Ich kann nicht verstehen, wie man es mit sich selbst vereinbaren kann, jubelnd über die Ziellinie zu laufen, wenn man doch selbst ganz genau weiß, dass die gelaufene Zeit nicht echt ist. Das geht in meinen Kopf nicht rein.

SPOX: IAAF-Präsidentschafts-Kandidat Sebastian Coe reagierte erzürnt und nannte die Recherchen eine "Kriegserklärung" an die Leichtathletik. Wie bewerten Sie das Verhalten des Weltverbandes?

Kohlmann: Auf mich macht der Verband den Eindruck, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Ich setze schon noch voraus, dass auf Seiten des Verbands die Motivation, Doping zu unterbinden, da ist. Aber kritische Nachfragen so abzuschmettern, bringt noch viel mehr Argwohn. Ich wünsche mir, der Verband würde reflektiert damit umgehen. Wenn sie sich wirklich nichts vorzuwerfen haben, dann brauchen sie auch nichts zu verbergen und können die Karten offen auf den Tisch legen.

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