Olympia: Dimitrij Ovtcharov im Interview: "In dem Moment hätte ich am liebsten alles hingeschmissen"

Florian Regelmann
09. August 202111:59
Dimitrij Ovtcharov in Action.getty
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Dimitrij Ovtcharov war einer der großen deutschen Stars der Olympischen Spiele in Tokio. Der 32-Jährige stockte mit Einzel-Bronze und Mannschafts-Silber sein Medaillenkonto bei Sommerspielen auf sechs auf - das hat vor ihm noch kein Tischtennisspieler der Welt geschafft. Im Interview mit SPOX spricht "Dima" über seine Tokio-Erfahrungen.

Ovtcharov verrät, warum er nach der bitteren Halbfinal-Niederlage im Einzel keinen Bock mehr hatte und wie er eine mentale Schlacht gegen sich selbst führte. Außerdem erklärt er, woher seine Nervenstärke kommt und wie sich die Corona-Spiele angefühlt haben.

Herr Ovtcharov, Glückwunsch zu überragenden Sommerspielen, bei denen einzig und allein das Außerirdische am Ende gefehlt hat: der Sieg gegen China. Wie fällt Ihr Fazit aus?

Dimitrij Ovtcharov: Erstmal vielen Dank! Das waren glaube ich die intensivsten Spiele, die ich bisher erlebt habe. Alle Spiele waren auf einem absoluten Top-Niveau und kaum an Spannung zu überbieten. Auch wenn ich mich über ein paar meiner Fehler ärgere, bin ich am Ende doch super happy mit der Performance, die wir abgeliefert haben. China ist immer der große Favorit, den es zu schlagen gilt. Dennoch wussten wir um unsere eigene Stärke, sind selbstbewusst ins Turnier gegangen und wollten uns eine Chance erspielen. Das haben wir geschafft. Im Finale war China dann in den entscheidenden Momenten etwas abgeklärter und hat verdient gewonnen.

Sie haben während der Spiele den schönen Vergleich gebracht, dass es gegen China wie gegen Rafa Nadal auf Sand in Paris ist. Wobei es ja eigentlich sogar noch schlimmer ist, Nadal hat in Paris wenigstens mal verloren. Was macht es so hart?

Ovtcharov: China ist und bleibt einfach eine absolute Übermacht im Tischtennis. Das liegt insbesondere daran, dass Tischtennis in China einen ganz anderen Stellenwert hat. Dort ist es eine der wichtigsten Volkssportarten und wird schon im Kindesalter so professionell gefördert wie in keinem anderen Land. Sie werden zu perfekten Spielern geformt. Dennoch sind sie schlagbar, dass haben Timo und ich ja bereits zeigen können. Auch hier in Tokio war ich gegen Ma Long im Einzel und gegen Fan im Team sehr nah dran. Leider hat es am Ende nicht ganz gereicht.

Generell waren Sie nicht nur wegen der Medaillen einer der deutschen Stars in Tokio. Ihren epischen Ballwechsel im Halbfinale hat gefühlt ganz Deutschland gesehen und abgefeiert. Was haben Sie davon mitbekommen?

Ovtcharov: Ehrlich gesagt merke ich das jetzt erst so langsam. Während des Turniers war ich völlig im Tunnel und habe alles um mich herum ausgeblendet. Ich habe lediglich den starken Anstieg bei Social Media wahrgenommen. Vor allem bei Weibo (wichtigste digitale Plattform in China, Anm. d. Red.), wo ich jetzt über eine Million Follower habe. Ich freue mich natürlich sehr darüber, dass die Spiele eine solche Begeisterung bei den Zuschauern hervorgerufen haben und ich dazu beitragen konnte, zu zeigen, was diese Sportart alles zu bieten hat.

Ovtcharov: "Eine mentale Schlacht mit mir selbst"

Und der Ballwechsel?

Ovtcharov: (lacht) Ich habe einfach sehr gut ins Turnier gefunden und die Spiele waren auf höchstem Niveau. Diese Ballwechsel zeigen dann zusätzlich nochmal die Intensität. Manchmal sind sie auch spielentscheidend. Als Spieler konzentrierst du dich allerdings direkt auf den nächsten Punkt. Tischtennis ist ein toller Sport und ich würde mir wünschen, dass die Begeisterung auch unabhängig von den Olympischen Spielen bestehen bleibt.

Sie haben das Halbfinale auf so bittere Art und Weise verloren und mussten auch im Bronze-Match ein unglaubliches Comeback hinlegen. Was war das für ein Gefühlschaos innerhalb von 24 Stunden?

Ovtcharov: Es war wirklich eine wahre Achterbahnfahrt der Gefühle, eine mentale Schlacht mit mir selbst. Nach der bitteren Niederlage war ich völlig frustriert und bin immer wieder einige Spielszenen durchgegangen. Ich war komplett down und konnte in der Nacht nicht schlafen. In dem Moment hätte ich am liebsten alles hingeschmissen. Doch dann habe ich mir klargemacht, dass wenn ich nicht 110 Prozent gebe, ich es mein ganzes Leben bereuen werde. Es ging nach wie vor um eine Einzel-Medaille bei den Olympischen Spielen. Zum Glück konnte ich mich dadurch wieder voll fokussieren. Das Spiel hatte es dann auch nochmal in sich und hat mir mental alles abgefordert. Ich wollte diese Medaille unbedingt und habe nochmal alles reingeworfen. Jetzt schwebe ich auf Wolke sieben.

Ovtcharov: "Es fühlt sich wirklich surreal an"

Sie sind als unglaublich nervenstarker Spieler bekannt, der wie gemacht dafür ist, auch die entscheidenden Matches zu bestreiten. Woher kommt diese Fähigkeit?

Ovtcharov: Diese mentale Toughness habe ich durch das harte Training mit meinem Dad gelernt. Er hat immer probiert, die Trainingsintensität auf höchstem Niveau zu halten, damit es später im Wettkampf leichter fällt. Irgendwie schaffe ich es, mich immer voll auf den nächsten Punkt und mein Spiel zu fokussieren, egal gegen wen ich spiele und wie es steht. Mittlerweile kommt natürlich auch die Erfahrung mit hinzu. Tischtennis ist ein sehr schneller Sport, das Blatt kann sich schnell wenden. Daher darf man nie aufgeben, man muss bis zum Ende konzentriert bleiben und an sich glauben.

Ein Bild der Spiele: Dimitrij Ovtcharov nach dem Matchball im Spiel um Bronzegetty

Sie haben jetzt sechs olympische Medaillen auf dem Konto, kein anderer Spieler hat das in Ihrer Sportart geschafft. Was bedeutet Ihnen das?

Ovtcharov: Ich habe das zum ersten Mal nach dem Einzug ins Teamfinale gehört. Es fühlt sich wirklich surreal an. Jede einzelne olympische Medaille ist für mich etwas ganz ganz Besonderes. Als kleiner Junge habe ich immer davon geträumt, einmal dabei sein zu dürfen. Jetzt war ich bereits viermal dabei und konnte jedes Mal mindestens eine Medaille mit nach Hause nehmen. Meiner Frau sagte ich 2012, dass ich mir nie wieder Stress vor einem Tischtennis-Spiel mache, wenn ich eine Einzel-Medaille gewinne. Den Stress mache ich mir aber mehr denn je vor Matches. Daran sieht man, wie viel mir diese Medaillen bedeuten. (lacht)

Tokio ist gerade erst vorbei, aber wie blicken Sie auf Paris in drei Jahren?

Ovtcharov: Ich muss erstmal Tokio verarbeiten. Das Turnier war physisch und psychisch das Härteste, was ich je mitgemacht habe. Lange Zeit habe ich aber nicht dafür. Paris ist schon in drei Jahren und wer mich kennt, der weiß, dass ich alles dafür tun werde, auch noch die letzte fehlende Medaille zu gewinnen. Der Traum von Gold lebt weiterhin. Das wäre sicherlich der absolute Karrierehöhepunkt.

Sie haben schon einige Sommerspiele erlebt. Es wurde im Vorfeld viel darüber spekuliert, wie die Corona-Spiele wohl sein werden. Wie haben Sie Tokio 2020 im Jahr 2021 erlebt?

Ovtcharov: Auf jeden Fall anders, aber nicht unbedingt schlechter. Olympische Spiele sind immer etwas ganz Besonderes. Das Feeling, die Intensität und die besondere Atmosphäre waren auch diesmal jederzeit spürbar. Der Team-Zusammenhalt war wieder super. Einzig die leeren Zuschauerränge waren sehr schade. Das hat schon gefehlt. Dafür lief viel mehr digital und über Social Media. Unterm Strich muss ich sagen, dass sich Japan als sehr guter Gastgeber präsentiert hat und sich alle Beteiligten größte Mühe gegeben haben, das Beste aus der Situation zu machen. Die Spiele in Tokio werde ich in sehr guter Erinnerung behalten.

Gab es besondere Treffen in der Mensa oder andere Highlights abseits des Wettkampfes?

Ovtcharov: Das ist definitiv immer etwas Besonderes bei den Olympischen Spielen. Es kommen die besten Sportler der Welt und aus den verschiedensten Sportarten alle an einem Ort zusammen. Da gab es auf jeden Fall tolle Gespräche. Es hat mich auch gefreut, mit den anderen Athleten aus dem Team D zu sprechen. Vor allem mit den Handballjungs hatten wir eine gute Zeit. Mit Uwe Gensheimer gab es an einer Platte im Dorf eine schöne Tischtennis-Challenge.

"Gibt viele Berufsgruppen, die mehr Wertschätzung verdienen"

Nach Ende der Spiele wird jetzt viel über das vergleichsweise schlechte Abschneiden von Team D im Medaillenspiegel geschrieben. Wie blicken Sie darauf?

Ovtcharov: Der Medaillenspiegel ist natürlich der einfachste Weg, um Nationen miteinander zu vergleichen. Aber dieser zeigt nur das große Bild und ist für mich nicht relevant.

Was ist für Sie relevant?

Ovtcharov: Erstmal ist es wichtig zu betonen, dass jede Medaille, egal ob Gold, Silber oder Bronze, ein enormer Erfolg ist. Bei den den sogenannten "Top-Nationen" gibt es sicherlich teilweise bessere Voraussetzungen, da dort Leistungssport ein ganz anderes Standing hat und sowohl strukturell als auch wirtschaftlich viel stärker aufgestellt ist. Dennoch ist Deutschland in manchen Sportarten seit vielen Jahren die stärkste Nation oder zumindest unter den Top 3. Ich persönlich hatte das Glück, angefangen vom Kindesalter eine extrem professionelle und gute Förderung zu erfahren. Für die Zukunft würde ich mir wünschen, dass diverse Sportarten mehr Präsenz erhalten und für den Nachwuchs genug Anreize geschaffen werden, Leistungssportler zu werden.

Dimitrij Ovtcharov war einer der großen deutschen Stars in Tokio.getty

Sie sind von den Erfolgen und der Persönlichkeit her ein Superstar, trotzdem konzentriert sich nach wie vor sehr viel auf Olympia und dann wird es wieder ruhiger. Fühlen Sie sich genügend wertgeschätzt als Spitzensportler in Deutschland?

Ovtcharov: Generell fühle ich mich auf jeden Fall genug wertgeschätzt. Tischtennis ist in Asien und vor allem in China so groß, dass wir dort sehr viel Aufmerksamkeit und Präsenz haben. In Deutschland ist es so, dass es neben Spitzensportlern, die manchmal hinter dem Fußball etwas untergehen, auf der anderen Seite noch ganz viele Berufsgruppen gibt, die mehr Wertschätzung verdienen. Zum Beispiel in der Pflege.

Letzte Frage: Nike Lorenz, die Kapitänin der Hockeymannschaft, ist in Tokio mit Regenbogenbinde aufgelaufen. Das wäre bei früheren Sommerspielen niemals denkbar gewesen. Es hat sich viel getan, oder?

Ovtcharov: Ich glaube, dass es nicht nur auf die Olympischen Spiele, sondern den Sport allgemein zutrifft. Durch die gesellschaftlichen Veränderungen und bestimmte Geschehnisse hat es seit einigen Jahren auch immer mehr Einzug in den Sport gehalten. Sportler sind Vorbilder und können ihre Bekanntheit dafür einsetzen, auf Missstände aufmerksam zu machen. Das ist eine gute Sache.