Für Timo Boll und Dimitrij Ovtcharov steht mit der Tischtennis-WM in Düsseldorf (29. Mai bis 6. Juni) ein absolutes Karriere-Highlight an. Im Doppel-Interview mit SPOX diskutieren die besten deutschen Spieler nicht nur über Chancen und Druck bei der Heim-WM, sondern geben tiefe Einblicke in eine seltene Freundschaft im harten Profialltag. Außerdem berichten sie, warum Ausdauer bei der Kritik an mangelnden Preisgeldern und Materialdoping gefragt ist und wie der DTTB-Nachwuchs langfristig mit Asien mithalten kann.
SPOX: Herr Ovtcharov, mein Chef bei SPOX ist nachweislich ein riesiger Timo-Boll-Fan, hat ihn letztens erst in einer All-Time-Liste der besten deutschen Sportler überhaupt deutlich in seine Top-Ten gewählt. Vor wichtigen Fußballgrößen.
Bei Ovtcharov und Boll bricht Gelächter aus.
SPOX: Das war kein Witz. Er findet Timos Art, seine Erfolge und den Fair-Play-Gedanken, den er in sich trägt, einfach klasse. Wo würden Sie Ihren Nationalmannschaftskollegen platzieren?
Dimitrij Ovtcharov (Nachdem sich beide gefrotzelt haben, setzt er ernsthaft an): Was Timo im und für das Tischtennis erreicht hat, das können wirklich nicht viele andere Sportler in dieser oder anderen Sportarten vorweisen. Wie Ihr Chef schon bemerkt hat, hat das nicht nur mit seinen sportlichen Leistungen zu tun. Wie er mit seiner angenehmen Art, dem Fair-Play-Gedanken seit mehr als einem Jahrzehnt unseren Sport repräsentiert, landet er auf jeden Fall unter den Top Ten. Dieses Bild wurde durch die Wahl zum Fahnenträger in Rio auch nochmals gestärkt. Aber wie hoch ich ihn genau platzieren würde, dazu müsste ich nochmal ganz genau in mich gehen. (schmunzelt) Da hat sich Ihr Chef sicherlich mehr Gedanken gemacht.
SPOX: Herr Boll, Dimitrij Ovtcharov ist deutlich jünger und hat Sie zumindest in der Konstanz und in der Weltrangliste seit 2013 überholt. Dennoch nennen Sportfans beim Stichwort Tischtennis zumeist zuerst noch Ihren Namen. Glauben Sie, dass er Sie in dieser Wahrnehmung auch noch überholen wird? Schließlich werden Sie die aktive Karriere früher beenden.
Ovtcharov (grinst): Wer weiß, wie lange er noch durchhält!
Timo Boll (lacht): Hoffentlich nicht länger als Du. Nein, Dimas beste Jahre kommen jetzt erst noch. Zumindest waren diese drei, vier Jahre zwischen Ende 20 und Anfang 30 bei mir gefühlt die Besten. Da kann er sportlich noch so viel erreichen und das traue ich ihm zu, denn er ist immer noch so unglaublich heiß und akribisch in der Trainingsarbeit und längst nicht satt. Dann kommt das mit der Wahrnehmung sicherlich von alleine.
Ovtcharov: Cool, weiter arbeiten. Wenn es so einfach ist, merke ich mir das.
Boll: Wer weiß, was noch alles kommt!
Beide schauen sich vielsagend an und schmunzeln.
SPOX: Sie beide sind erst vor wenigen Tagen ausgerechnet im Champions-League-Finale Ihrer Teams Borussia Düsseldorf und Gazprom Fakel Orenburg im Einzel aufeinandergetroffen. (Ovtcharov und Orenburg setzten sich nach Hin- und Rückspiel durch Anm. d. R.) Das Spiel endete mit 14:12 in der Verlängerung des Entscheidungssatzes denkbar knapp für Sie, Herr Ovtcharov. Aber spielen Sie beide eigentlich gern gegeneinander oder nervt es eher, weil Sie Ihr Spiel in- und auswendig kennen?
Ovtcharov: Also ich spiele nie gerne gegen Timo. Zum einen weil ich ungern gegen einen Freund spiele. Zum anderen, weil er einfach immer noch so ein verdammt guter Spieler ist und mich mit seinem Händchen permanent an meinen Schwachstellen anspielt. Es ist einfach brutal anstrengend. Ich spiele definitiv lieber gegen andere Gegner.
Boll: Mir geht es genauso. Gegen Freunde, das wird dem ein oder anderen ähnlich gehen, ist es doch immer etwas gehemmt von den Emotionen her. Aber wir nehmen es immer sehr professionell und es sind meist sehr enge Spiele und vor allem akzeptieren wir es anschließend direkt, wenn der andere besser war - das mindert sicher nicht unsere Freundschaft.
SPOX: Müssen Sie immer noch Ihr Handy auspacken, um zu sehen, wie es im direkten Vergleich steht?
Ovtcharov: Ich habe das vor mehr als einem Jahr das letzte Mal nachgeschaut. Da war es mit 5:4 relativ ausgeglichen. Zuletzt habe ich das nicht mehr getan. Aber da stehen ja ohnehin nur die internationalen Vergleiche drin und nicht die unzähligen Ligaspiele. Dass es einigermaßen ausgeglichen ist, darauf bin ich schon ganz schön stolz.
Boll fängt an zu lachen.
Ovtcharov: Das können nicht viele auf der Welt von sich behaupten.
SPOX: Herr Boll, Sie haben in der Champions League nur hauchdünn verloren, kurz davor gar die renommierten Korea Open gewonnen und sich damit für die Heim-WM die nicht mehr selbstverständliche Top-8-Setzung gesichert. Sind Sie momentan wieder auf Augenhöhe mit Ovtcharov?
Boll: Puh, Augenhöhe - weiß ich nicht. Dima ist, gerade gegen die Chinesen, der gefährlichere Spieler, weil er einfach athletisch besser ist und über die größere Schlaghärte verfügt. Ich bin nicht mehr ganz so beweglich, steifer geworden. Und das hemmt mich auch ein bisschen gegen die allerbesten Spieler. Technisch gesehen bin ich aber immer noch ganz gut und hatte einen guten Formaufbau, sodass ich an einem guten Tag noch gegen die sehr guten Leute gewinnen kann.
SPOX: Dass Dimitrij Ovtcharov heute gegen die Besten der Welt gewinnen kann, hat auch etwas mit Ihrer intensiven Freundschaft zu tun. Sie hatten in jungen Profijahren stets ein frisch bezogenes Bett in Timo Bolls Haus, wenn Sie zum Training dort waren. Hat sich diese intensive Freundschaft, jetzt als Familienväter, geändert?
Ovtcharov: Timo ist mittlerweile ja auch umgezogen.
SPOX: Heißt: Sie sehen sich außerhalb der Lehrgänge der Nationalmannschaft gar nicht mehr?
Ovtcharov: Natürlich nicht mehr so häufig. Früher war ich tatsächlich jeden Monat bei ihm und seiner Familie zu Besuch und habe mich sehr heimisch gefühlt. Und das war auch viel mehr als das überragende Training mit einem damals viel besseren Spieler, von dem ich so profitiert habe. Ich hatte stets mein eigenes Zimmer und wurde überragend gut bekocht von seiner Familie.
Boll strahlt über beide Ohren.
Ovtcharov: Ja, war so. Wir waren oft draußen, laufen mit dem Hund. Wir waren sogar gemeinsam im Urlaub.
SPOX: Wann war das letzte Mal?
Ovtcharov: Ist tatsächlich länger her. Aber wir haben ja viel später auch hier in Düsseldorf gemeinsam in einem Haus gewohnt, als die Zeit bei Timos Familie im Odenwald zu Ende ging. Nachdem ich dann vor sechs Jahren nach Russland gewechselt bin und selbst eine Familie gegründet habe, wurde das natürlich weniger.
SPOX: Sie haben in der Vergangenheit die gemeinsame olympische Medaille 2008 in Peking als Schlüsselmoment tituliert, der Ihre Freundschaft auf eine andere Stufe gehoben hat. Das ist jetzt immerhin schon neun Jahre her.
Boll: Das Problem ist halt wirklich der Faktor Zeit, um die Erfolge - danach sind ja noch einige zu feiern gewesen - auch wirklich gemeinsam zu nutzen. Die wenige Freizeit widmet man dann selbstredend seiner Familie. Wir trauern diesen Zeiten glaube ich auch beide ein stückweit nach. Als Familienvater liegt definitiv der Fokus nun auf den Kids. Aber das Bett steht immer noch parat für den jeweils anderen - sowohl bei mir als auch bei ihm.
SPOX: Eine intensivere Freundschaft auf einer anderen Ebene?
Boll: An der Freundschaft hat und wird sich auch nichts ändern. Wir schreiben uns noch nach jedem Spiel, nach jedem Erfolg und gönnen uns alles. Das ist sehr herzlich und ehrlich und im Sport nicht normal.
Ovtcharov: Und zum Glück sind wir beide auch noch nicht zu alt, hören irgendwann mit Tischtennis auf und haben wieder mehr Zeit für uns.
SPOX: Aus Fansicht hoffentlich nicht allzu bald: Immerhin treten Sie nach der WM bei der neuartigen Asian Pacific Table Tennis League beide an.
Ovtcharov: Ja, und da reisen wir auch beide mit den Familien an und werden sicherlich einiges an Zeit miteinander verbringen.
SPOX: Vor der WM gab es aufgrund der Doppelmeldung das erste Mal öffentlich Misstöne von Ihnen, Herr Ovtcharov. Es ging um einen nicht unerheblichen sportlichen Aspekt, der auch Timo Boll betraf. Haben Sie ihn als Freund vor Ihrem Schritt an die Öffentlichkeit eigentlich informiert?
Ovtcharov: Das war eine sehr kurzfristige Entscheidung von mir, nachdem die Trainer mir mitgeteilt hatten, dass ich bei der WM nicht im Doppel starten darf. Das hatte aber null mit Timo und seinem Start mit dem Weltranglistenersten Ma Long zu tun.
Boll nickt zustimmend.
Ovtcharov: Wenn es nach diesem Gesichtspunkt ginge, müsste ich ja jeden Nationalmannschaftskollegen, der bei der WM antritt, vorher anrufen. Das war einfach meine Entscheidung, nach dieser für mich nicht einfach hinzunehmenden Entscheidung. Sowohl Timo als auch ich hatten Anfragen an die Chinesen laufen, die sich dann aber nur für eine Paarung entschieden haben. Dann hätte ich gerne mit einem meiner beiden Teamkollegen aus Russland, zum Beispiel dem besten Nichtchinesen, Jun Mizutani, gespielt. Der wollte auch. Es kam jedenfalls sehr überraschend, dass die Verantwortlichen nach der Absage der Chinesen gesagt haben. "Nee, dann spielst Du gar kein Doppel." Damit war ich nicht glücklich. Ich bin kein begnadeter Doppelspieler, aber mit Jun wäre einiges möglich gewesen und ich hätte gerne in Düsseldorf die Möglichkeit gehabt, mich vor den Fans so oft es geht zu präsentieren. Deshalb habe ich es in einem Interview erwähnt, was legitim ist und nichts mit Timo oder unserem Verhältnis zu tun hatte.
SPOX: Wie können sich das Ihre Fans vorstellen, Herr Boll. Dass Sie mit Ma Long Mails oder gar Whatsapp-Nachrichten austauschen, wenn Sie zusammen Doppel spielen wollen?
Boll: Beim allerersten Mal haben die Chinesen das von ihrer Seite aus eröffnet. Da hat Dima mit Yan An gespielt und ich mit Ma Long bei den China Open und das hat gut funktioniert. Wir waren damals auch im Doppelfinale. Daraufhin haben Ma und ich das auch bei der vergangenen WM probiert. Jetzt haben wir über den Verband angefragt. Wir haben ein sehr respektvolles Verhältnis miteinander.
SPOX: Im Doppel wie im Einzel geht es direkt im K.o.-System los. Es kann also bei vier Gewinnsätzen bis elf ganz schnell vorbei sein. Diese Erfahrung haben Sie beide auch schon machen müssen. Ist das in der ersten Runde vor heimischem Publikum eher noch mehr Druck oder kann es beflügeln?
Ovtcharov: Das Heimpublikum kann nur positiv sein. Es ist immer schwierig, in so ein riesiges Event reinzukommen. Dann können die Fans hoffentlich positiv einwirken und mir helfen.
Boll: Man hofft, dass es von Anfang an in die richtige Richtung läuft. Nicht, dass man nach einem schlechten Start eine Bürde verspürt und dann ein Raunen durchs Publikum geht.
Ovtcharov: Man kann sich nie ganz sicher sein, wie es zum Start läuft. Die Fans sind ein wichtiger Faktor, um es positiv zu gestalten.
SPOX: Sie haben nach Ihrem Viertelfinalaus im Einzel der Olympischen Spiele 2016 zugegeben, nicht ganz die richtige Mischung zwischen Anspannung und Entspannung gefunden zu haben. Gerade mit dieser Erfahrung und den aus Ihrer Sicht nicht ganz so erfolgreichen Einzel-Weltmeisterschaften: Wie lautet Ihre Zielsetzung?
Ovtcharov: Die WM ist nochmal um einiges schwerer als Olympia. Dort war ich an drei gesetzt, vor mir nur zwei Chinesen. Im Halbfinale wäre ich auf Zhang Jike getroffen, gegen den ich fast jedes zweite Match gewonnen habe. Diese Chance kommt vielleicht nur einmal im Leben und da habe ich mich etwas verrückt gemacht. Bei der WM sind es gleich vier Chinesen, gegen die zu gewinnen, da muss viel zusammen kommen und das wäre eine größere Überraschung. Da darf ich mich nicht verrückt machen, werde an meine Stärken und mein Spiel glauben. Dann geht vielleicht etwas. Favorit auf die Einzelmedaillen sind wir jedenfalls nicht.
SPOX: Herr Boll, Sie haben bereits Ihre körperliche Unterlegenheit im Kampf gegen China angesprochen. Schielen Sie dennoch in Richtung Reich der Mitte oder eher in Richtung Japan, Korea und den stärksten Europäern?
Boll: Vor den Spielen bin ich eh immer relativ pessimistisch - gegen jeden schon ab der ersten Runde.
Ovtcharov fängt an zu lachen.
Boll: Ja, das ist so und damit bin ich auch ganz gut gefahren in der Vergangenheit. Dadurch habe ich immer den Respekt und die Anspannung vor dem jeweiligen Gegner und dann ist die Leistung auch besser. Im Spiel ändert sich das zu einem realistischen Denken. Also ist es weniger personenabhängig als vielleicht gedacht.
SPOX: Wenn es im Sinne Ihres Sportes ist und Sie es für angebracht halten, üben Sie nicht selten Kritik an der Sportart oder dem Verband. Sie haben sich für bessere Bedingungen und höhere Preisgelder auf der Pro Tour, der Weltcup-Serie, ausgesprochen. Wie ist da die Entwicklung?
Ovtcharov: Es hat sich etwas gebessert, aber nicht so, wie es unter Profibedingungen angemessen wäre.
Boll: Es war früher auch schon mal höher, oder?
Ovtcharov: Ja, definitiv. Ein kleines Beispiel?
SPOX: Nur zu.
Ovtcharov: Wenn man ins Halbfinale der China Open gelangt, kann ein Sportler seine Kosten decken und die Finalisten machen Plus - und 250 Leute machen Minus. Das geht natürlich nicht und ist ein ganz langer weg. Die neuen Turnierserien, die indische oder die japanische Liga, stehen in den Startlöchern und auch unsere europäischen Vereine tun einiges. Es tut sich viel außerhalb des Weltverbandes ITTF. Das eine ist besser als das andere und Konkurrenz belebt das Geschäft.
SPOX: Aber nur auf Weltcupturnieren der ITTF können Sie Punkte für die Weltrangliste sammeln, die Ihre Setzung jetzt etwa bei der WM festlegt.
Ovtcharov: Und das System soll sogar nochmal umgestellt werden, um alle Spieler zu zwingen, diese Turniere zu spielen. Anreisen, nichts verdienen, nur um eine gute Ranglistenposition zu gewährleisten? Damit die Topspieler dort sind, die ITTF das Turnier gut vermarkten kann? Aber wir Spieler haben davon nichts. Das ist der falsche Ansatz. Und da habe ich noch nicht über die Bedingungen vor Ort gesprochen. Wir sollten einen Anreiz haben, die Turniere zu spielen, weil wir es wollen und es gut ist und nicht, weil wir es müssen.
SPOX: Herr Boll, Sie prangern seit geraumer Zeit Materialdoping an: Glauben Sie, dass Sie auch in Düsseldorf auf Spieler mit illegal präpariertem Material treffen?
Boll (überlegt lange): Das ist schon möglich, aber das ist auch nicht die neue Nachricht. Ich setze mich weiter dafür ein. Es kommen leider wenig Impulse zurück von der ITTF.
Ovtcharov: Das ist das gleiche wie bei anderen Themen.
Boll: Ja, es ist schwer. Aber man merkt schon: Es gibt ja private Initiativen, da werden Sachen ausprobiert, analysiert, Studien gemacht. Da ist einfach ein anderer Zug dahinter als beim Verband, wo die Mühlen sehr langsam drehen, bis ein Antrag gestellt wird. Da vergehen ungelogen Jahre, bis sich was tut.
Ovtcharov: Es müssten einfach viele Spieler mit dem Renommee von Timo in den Gremien sitzen, die selbst die Probleme kennen, nahe dran sind.
SPOX: Gibt es keinen Spielerrat?
Ovtcharov: Den gibt es, aber ohne Stimme und das bringt ja nichts. Es müssten im Executive Commitee and Board of Directors - sagen wir - drei Spieler dabei sein, die wirklich Ahnung von der Materie haben und das nachvollziehen können und das den Funktionären auch glaubhaft vermitteln können, dass diese Dinge gut für den Sport wären. Insgesamt läuft es ja gut bei der ITTF. Aber manchmal wird auf die falschen Dinge gesetzt.
SPOX: Sie hatten beide sehr früh, sehr individuelle Förderer, um professionell zu trainieren und konnten früh in die Weltklasse vordringen und den Chinesen Paroli bieten. Ihre jüngeren Nationalmannschaftskollegen sind auf dem Weg in die Weltspitze schon in ihren Zwanzigern. Ist es mit der Leistungssportstruktur in Deutschland überhaupt möglich, dass zukünftige Generationen im internationalen Vergleich ähnliche Erfolge wie Sie feiern?
Boll: Ich bin ja nicht bei allen Sichtungen dabei.
SPOX: Aber Sie sehen einige Talente im deutschen Tischtenniszentrum trainieren. Stichwort: Arbeitsmoral, Talent, Trainingsbedingungen.
Boll: Das stimmt. Heutzutage gibt es viele andere Charaktere als früher, aber ich will auch niemanden verurteilen. Ich glaube schon, dass die nächsten zehn Jahre nicht einfach werden für das Tischtennis, wenn dann irgendwann auch Dima mal aufhören sollte - ich sowieso. Dann wird ein kleines Loch kommen. Deswegen müssen wir jetzt bei den ganz Kleinen schauen, und einen oder am besten mehrere rauspicken und vielleicht noch individueller fördern. Aber: Es ist natürlich auch nicht leicht, alle zwei Jahre einen neuen Top-Ten-Spieler hervorzubringen. Wir sind nicht China.
SPOX: Aber wollen dennoch mithalten.
Ovtcharov: Wenn man erst nach dem Abitur anfängt, professionell zu trainieren, dann hat man gegenüber den Chinesen zwölf Jahre verloren und zwei Millionen Trainingsstunden Rückstand. Das wird man mit 18 nicht aufholen, höchstens Anschluss finden. Aber ein Spieler wird nicht die Nummer eins werden wie Timo oder die Chinesen ab und an ärgern wie ich. Deshalb ist die Sichtung und Förderung in jungen Jahren so wichtig.
Boll: Es sind besondere Umstände und Maßnahmen nötig, um da mitzuhalten. Die Unternehmungen unserer Förderer waren ja nicht von unserem Sportsystem geschöpft - sein Dad, der sich jeden Tag zweimal mit ihm in den Keller gestellt hat.
Ovtcharov: Oder bei Timo der Verein mit 13?
Boll: Ja, mit 13 ist der Verein zu mir in den Ort gezogen, damit ich bessere Trainingsbedingungen- und Partner hatte. Dazu einen Trainer, der sich besonders fokussiert hat auf mich. So geht es aber fast jedem Spieler, der hier so rumläuft.
SPOX: Das heißt: Es geht nur durch individuellste Förderung?
Boll: Zumindest kommst du im Tischtennis gegen das asiatische Sportsystem nicht an mit den normalen deutschen Bedingungen. Die trainieren dort drei, vier Einheiten am Tag - wir reden hier von sieben, achtjährigen.
Ovtcharov: Die ziehen früh um, gehen früh nicht oder kaum zur Schule.
Boll: Das ist nicht nur in China der Fall, auch in Japan. Da sind die 13-Jährigen so stark. Da war einer bei den Indian Open im Finale gegen Dima. Allein vom athletischen Aspekt hätte ich das niemals für möglich gehalten. Das ist unvorstellbar. Deshalb ist es nicht einfach. Aber wenn alles zusammenpasst, dann ist es schon noch möglich, in diese Phalanx einzubrechen. Durch das normale System eher nicht.
SPOX: Ihnen ist es beiden gelungen. Gibt es eigentlich etwas, was Sie am anderen beneiden. Was Sie noch stärker machen würde?
Ovtcharov: Timos Gabe, Dinge so unfassbar schnell zu erlernen! Nehmen wir zum Beispiel den Rückhandflip, die Banane über dem Tisch. Da benötigt der Typ vielleicht eine Woche, ich ein Jahr.
Boll lacht.
Ovtcharov: Ja ist doch so. Du stellst dich an den Tisch und sagst: "Ja, dann mache ich das jetzt mal." Und dann läuft das.
Boll: Dafür wäre ich gerne nochmal in dem Alter von Dima.
Beide beginnen zu lachen
Boll: Im Ernst. Sein Fleiß und seine Akribie sind der Wahnsinn. Es gibt wenige Sportler, die sich so opfern können und dem Sport alles unterordnen können wie er. Das habe ich so nie gehabt.
Ovtcharov: Wo wir beim Stichwort Gelassenheit wären. Nach einer knappen, harten Niederlage kann Timo sagen: "Das war ein gutes Spiel. Ich habe alle getan, was ich konnte." Und dann geht er heim und alles ist gut. Mir geht es dann mitunter mal drei Tage schlecht. Und wenn er gewinnt, bleibt er auf dem Boden. Da fliege ich dann mal mehr. Diese Mitte ist schon beneidenswert.