Der vierte Pick des diesjährigen Drafts ist in New York heftig umstritten, könnte sich Kristaps Porzingis doch sowohl in Richtung Dirk Nowitzki als auch Darko Milicic entwickeln. Sein Weg führte über Lettland und Spanien, doch eine Erkrankung hätte den NBA-Traum beinahe zunichte gemacht.
Es wurde laut im Barclays Center. Aber es war nicht die gute Art von laut. Keine Euphorie, kein Applaus, kein Jubel. Als Commissioner Adam Silver am Draftabend den vierten Pick der New York Knicks verlas, war die Entsetzung vieler Fans groß.
Ein kleiner Junge begann zu weinen, Männer mit Ewing-Jerseys und orangefarbenen Hüten schlugen die Hände vors Gesicht, aus der ganzen Arena schallten Buh-Rufe in Richtung Podium.
Echt jetzt?
Kristaps Porzingis? Echt jetzt? Das ist nicht euer Ernst! Aus weiter Ferne waren die Gedanken der Supporter an ihren Mienen abzulesen. Die Franchise, die nach einer Saison mit lediglich 17 Siegen dringend einen Spieler benötigt, der sie aus dem Tal der Tränen führt, draftet einen rohen, lettischen Schlaks und halst sich ein langfristiges Projekt mit ungewissem Ausgang auf?
Es ist die alte Leier von Risiko und möglichem Ertrag. Entwickelt sich Porzingis zu einem Power Forward vom Kaliber Dirk Nowitzki, wird die Schulter von Knicks-Präsident Phil Jackson aufgrund der vielen Glückwünsche für seine mutige und weitsichtige Wahl nur so schmerzen. Geht das Projekt schief... - das mag man sich im Big Apple lieber gar nicht vorstellen. Aber wer ist eigentlich dieser Kristaps Porzingis?
Nummer drei
Andris Biedrins, Gundars Vetra. Die Liste der lettischen NBA-Spieler ist durchaus überschaubar und füllt erst ab Schriftgröße 129 eine komplette Word-Seite. Porzingis ist die Nummer drei aus dem kleinen baltischen Staat, doch es besteht kein Zweifel daran, dass er die Karrieren seiner beiden Vorgänger überflügeln wird.
Im Alter von sechs Jahren begann er mit dem Basketball, der Sport lag ihm bereits in den Genen. "Ich habe Basketball im Blut", so Kristaps in einem Interview mit Grantland: "Meine Eltern spielten beide, mein Bruder auch. Also wollte ich auch Basketball spielen und sein wie sie."
Family Guy
Während es Mutter Ingrida bis zur Jugendnationalspielerin schaffte, war Vater Talis in mittleren lettischen Ligen aktiv. Doch sein Einfluss auf Porzingis ist enorm. "Mein Vater ist immer noch bei jedem Spiel dabei", sagte Kristaps: "Er analysiert alles, was ich mache, jeden einzelnen Move. Er spricht viel über Basketball und ich höre aufmerksam zu, um alles aufzusaugen und zu lernen. Es gibt immer noch Dinge, die er mir beibringen kann."
Zu Bruder Janis, der ein paar Mal für Lettland spielte und 2012 in der heimischen Liga zum Allstar gewählt wurde, hat Porzingis eine spezielle Beziehung. "Er ist auf und abseits des Feldes mein Mentor", so der "Zinger": "Ich trage die Nummer sechs, weil das die Nummer war, die Janis getragen hat, als ich mit Basketball anfing. Ihn an meiner Seite zu haben, ist großartig, weil er mir hilft, zusätzlich zum Training an mir zu arbeiten. Selbst an jedem freien Tag bin ich in Sevilla mit ihm in die Halle gegangen und habe mindestens 500 Würfe genommen."
Das Wagnis Spanien
Sevilla, ohne Zweifel ein Abenteuer und das Sprungbrett für den schmächtigen Letten. Die Videoclips, die ein lettischer Spielervermittler nach Italien und Spanien geschickt hatte, weckten die Neugier von Sevilla. Sie luden den damals schon 2,01 Meter großen Porzingis zum Workout ein und boten ihm anschließend einen Platz in der Jugendmannschaft an.
Mit 16 Jahren ging es aus dem beschaulichen Hafenstädtchen Libau in die andalusische Metropole - und das trotz einer gehörigen Portion Zweifel, wie er später zugab. "Als ich zum Probetraining in Sevilla war, habe ich es überhaupt nicht gemocht", so Kristaps: "Ich dachte, ich würde niemals dorthin zurückkehren." Aber dann besann sich Porzingis eines Besseren und zog mit seiner ganzen Familie nach Spanien.
Doktor Avivar sei Dank
Es war das Beste, was Kristaps passieren konnte. Die Verantwortlichen wussten um sein Talent und hatten nicht vor, den damals schüchternen Jugendlichen zu verheizen. Behutsam bauten sie ihn auf und selbst eine schwere Diagnose konnte ihren Glauben in Porzingis nicht schmälern.
In der Anfangszeit machten Kristaps die ungewohnt heißen Temperaturen zu schaffen. Zusätzlich zum Heimweh war er schlapp, müde und kaum in der Lage, die Trainingseinheiten zu absolvieren. Ein Besuch beim Ernährungsspezialisten brachte Aufklärung: Die Zahl seiner roten Blutkörperchen war kontinuierlich zurückgegangen. Er litt an Anämie.
Der Klub fackelte nicht lange und stellte den Experten ein, um die für Porzingis beste Therapie zu entwickeln. Doktor Avivar fand eine Lösung und päppelte Kristaps wieder auf. Nun konnte das Abenteuer in der ACB beginnen.
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Der Aufstieg
2012/2013 bekam er die ersten Minuten im Profiteam, ein Jahr später etablierte sich Porzingis als Rotationsspieler. Auch international machte er auf sich aufmerksam: Bei der U18-EM zauberte er im Spiel um Platz 3 gegen Spanien beinahe ein Triple Double aufs Parkett (11 Punkte, 15 Rebounds, 9 Blocks), dennoch verloren die Letten mit einem Punkt Unterschied. Für Kristaps die schlimmste Niederlagen seiner noch jungen Karriere.
Dass ausgerechnet Real Madrid, Porzingis' Lieblingsteam mit dem Ball am Fuß, zu dessen Aufstieg beitrug, ist wohl der Dank für jahrelange Anhängerschaft. Spätestens nachdem Kristaps in der Liga mit Sevilla Reals Elite-Center mit Dreiern, Dunks, Blöcken und Post-Moves ins Schwitzen gebracht hatte, wussten alle us-amerikanischen Scouts, wie man den Namen Porzingis richtig schreibt.
Der damals 18-Jährige legte gegen den Vizemeister der Euroleague 20 Punkte in 20 Minuten auf, auch in den Sozialen Netzwerken blieb das nicht unbemerkt. Zum ersten Mal in der Geschichte von Twitter trendete #Porzingis. Das Heimweh war vergessen.
Konstanter Fortschritt
Der bekennende Hip-Hop Fan blühte nach anfänglicher Zurückhaltung immer mehr auf, fügte zu seinem fließenden Englisch solide Spanischkenntnisse hinzu und wurde eine wichtige Stütze des Teams.
Im Eurocup erzielte er in 21 Minuten durchschnittlich 11,6 Punkte und 4,1 Rebounds. Seine Dreierquote von 45 Prozent war die zwölftbeste des Wettbewerbs, mit 1,2 Blocks pro Spiel knackte er gar die Top 10. Die Auszeichnung zum Rising Star des Events hatte er sich redlich verdient.
Selbstbewusst in New York
Der Makel, der Europäern spätestens seit Draft Bust Darko Milicic anhaftet, ist allgegenwärtig und sorgt nicht gerade für breite Akzeptanz in den Staaten - die muss man sich erst verdienen, vor allem Big Men. Aber Porzingis war vorbereitet.
Äußerst selbstbewusst trat er beim Draft in New York auf, verkündete vorher seine Liebe zu den Knicks und zeigte - zumindest im Auftreten - keine "soften" Anzeichen. Allen Buh-Rufen zum Trotz.
Konkurrenz für Hans
Mit seiner Aussage, sich ein Date mit Rihanna zu wünschen, machte er gleich einmal in den Sozialen Netzwerken auf sich aufmerksam und Joel Embiid Konkurrenz. Schüchtern ist Kristaps schon lange nicht mehr. Wie sich das gehört, hat Porzingis auch schon einen Spitznamen. "Zinger" nennen sie ihn in den USA.
Zugegeben, es gab schon angsteinflößendere Wortschöpfungen, aber mit seinen 19 Jahren hat er noch alle Zeit, um sich von einem lettischen Lulatsch in den "Latviathan", "The Latvian Legend" oder "His Latvian Longness" zu verwandeln. Und niemand hofft darauf mehr als Phil Jackson. Denn wenn die Knicks-Fans mit ein paar Jahren Abstand auf diesen vierten Pick zurückblicken, werden sie ihren Präsidenten entweder vergöttern oder verfluchen.