NFL - Los Angeles Chargers - Ist die Verletzungswelle nur die Spitze des Eisbergs?

Marko Markovic
26. Oktober 202213:21
Brandon Staley sieht einer verletzungsgeplagten Saison entgegengetty
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Die Los Angeles Chargers waren in der Offseason dank aggressiver Moves unter die Titelanwärter geklettert. Umso enttäuschender sind die Fehltritte, die sich das Team seit Saisonbeginn fast wöchentlich erlaubt. Einiges davon ist einer bitteren Verletzungsserie geschuldet, die wenige Teams unbeschadet überstehen würden. Manches davon aber auch nicht.

Ein junger Star-QB auf einem günstigen Vertrag, ein moderner Head Coach, ein wegweisendes und oft kopiertes defensives Scheme und noch dazu beeindruckende Neuzugänge im Frühjahr: Die Chargers hatten kurz vor Saisonbeginn eine der besten denkbaren Aussichten, die ein Playoffanwärter nur haben kann. War man im Februar noch auf Platz 14 bei den Super-Bowl-Quoten der Buchmacher, kletterte man bis September auf Platz 6 - nur die Bills und die Chiefs waren höher in der AFC.

Doch bereits in den ersten zwei Wochen - einem Sieg gegen die Raiders und einer knappen Niederlage gegen die Chiefs - zeigten sich erste Risse im Fundament.

Chargers in der Verletzungsmisere

Zum einen waren etliche Schlüsselspieler bereits Anfang der Saison verfolgt vom Verletzungspech. Der Star-Cornerback der Free Agency, J.C. Jackson, den die Chargers für teuer Geld geholt haben, um ihrer Defense eine echte Shutdown-Option zu geben, verletzte sich im August und verpasste Woche 1. Letzten Sonntag gegen die Seahawks erlitt Jackson eine schwere Knieverletzung, die ihn die Saison kostet.

Joey Bosa und Khalil Mack könnten - wenn gesund - das beste Edge-Duo der Liga werden.getty

Edge Rusher Joey Bosa verletzte sich in Woche 3 gegen Jacksonville und musste auf IR - eine Rückkehr ist nicht ausgeschlossen, aber derzeit klafft gegenüber Khalil Mack, dem anderen Star-Neuzugang, eine große Lücke in der Front 7. Einige der langen Läufe, die die Chargers bisher erlaubt haben (der 41-Yarder von Nick Chubb im Browns-Spiel, der 75-Yarder von Dameon Pierce im Texans-Spiel oder der 74-Yarder von Kenneth Walker im Seattle-Spiel), waren einfache Pitches nach rechts - weg von Mack. Bosa fehlt hier nicht nur als Pass Rusher.

Offensiv war das Verletzungspech nicht geringer: Left Tackle Rashawn Slater musste nach drei Wochen seine Saison mit einer gerissenen Bizepssehne beenden. Center Cory Linsley hat mehrere Spiele mit unterschiedlichen Verletzungen ausgesetzt. Und auch jenseits der Offensive Line hörte das Pech nicht auf.

Wide Receiver Keenan Allen verletzte sich in Woche 1 und kehrte erst letzten Sonntag zurück. Aber bereits zur Halbzeit wurde er wieder rausgenommen, da er nicht die gewünschte Explosivität in den Bewegungen hatte und das Team nichts riskieren wollte.

Kritik an Staleys Umgang mit Verletzungen

Das ist womöglich eine direkte Reaktion auf die Kritik, die Head Coach Brandon Staley für das Handhaben einer anderen Verletzung hatte. Als Quarterback Justin Herbert in Woche 2 einen Bruch im Rippenknorpel erlitt, ließ Staley ihn nicht nur das Spiel beenden, sondern auch die Woche drauf spielen. Sichtlich angeschlagen, konnte er die Chargers-Offense nicht zum Leben erwecken und es setzte eine bittere Niederlage gegen die Jaguars.

Zusätzlich zu Allens langsamer Genesung, erlitt der andere Starter auf Wide Receiver, Mike Williams, einen verstauchten Knöchel gegen Seattle, der ihn Wochen kosten wird. Jalen Guyton ist bereits seit September auf IR, Josh Palmer ist seit dem Seattle-Spiel im Concussion-Protocol. Hätten die Chargers keine Bye-Week, müssten sie bei einem hypothetischen Spiel am Sonntag sehr viele Snaps von DeAndre Carter, Jason Moore Jr. und Michael Bandy auf WR sehen. Plus, vielleicht, Allen.

Soweit sind die Sorgen der Chargers also verständlich - kaum ein Team muss auf so vielen Schlüsselpositionen angeschlagen agieren. Für manche Teams sind solche Verletzungswellen leichter abzufangen, aber dank dem All-In-Aspekt der Offseason waren eben weniger Ressourcen für Kadertiefe, Backups und Notfallpläne vorhanden. In der Ecke, in die sie sich selbst gebracht haben, ist nun ein Bad Case eingetreten, und die Aufgabe der Coaches ist es, hier trotzdem das Beste aus dem Team herauszuholen.

Fraglich ist, ob dies auch tatsächlich in Los Angeles passiert.

Versucht man das 4-3 nur mit den Verletzungen zu erklären, tut man diesem Coaching Staff aber eben doch auch einen Gefallen. Auf beiden Seiten des Balles gibt es fragwürdige Entscheidungen, die nicht erzwungener Natur sind, und die manchmal Chargers-Spiele zu haarsträubenden Ärgernissen werden lassen.

Chargers Defense: Immer noch enttäuschend

Eine der Hauptgründe dafür ist die Defense. Staley ist als defensiver Head Coach speziell auch dafür ausgewählt worden, um diese Seite des Balles als Komplement zu Herbert zu entwickeln. Im ersten Jahr waren die Resultate sehr ernüchternd. Das ließ sich noch auf das geerbte Personal schieben. Aber im Jahr zwei sind da schon etliche Säulen von Staley selbst installiert worden, Asante Samuel Jr. und Khalil Mack zum Beispiel. Und nicht alles geerbte war ja schlecht. Star-Safety Derwin James Jr, dessen Schweizer-Taschenmesser-Qualitäten für Defensiv-Gurus eigentlich ein gefundenes Fressen sein sollten, macht unter Staley eine Stagnation durch - wenn nicht sogar einen kleinen Rückschritt.

Derwin James ist einer der gefährlichsten Blitzer der Liga.getty

So setzt Staley James zum Beispiel seltener als Pass Rusher ein. Unter Gus Bradley blitzte James auf circa 10 Prozent der Pass-Snaps, unter Staley ist das runter auf 5 Prozent, bei mittlerweile fast gleich großer Sample Size. Selbst eine Verbesserung, die James mittlerweile als Pass Rusher durchgemacht hat, kann die niedrigere Anzahl an Chancen, die er in dem Bereich bekommt, nicht wettmachen. Staleys Scheme fordert natürlich mehr Two High Coverages, die James fast doppelt so oft als Free Safety ins Alignment stellen, und es ist schwieriger von da hinten Pass Rush zu erzeugen, als wenn er an der Line of Scrimmage geparkt wird, wie es Bradley in fast 25 Prozent der Snaps tat.

Aber eben hier wäre schon auch die Frage angebracht, ob ein Coach nicht sein Scheme an einen Spieler anpassen kann, der mit seiner Versatilität eben bewiesen hat, gegnerische Offenses auf eine einzigartige Art und Weise vor Probleme zu stellen. Offenbar verlangt Staley eher umgekehrt, dass sich die Spieler an sein Scheme anpassen, egal was ihre einzigartigen Skills sind, was meistens in der NFL von fehlender Anpassungsfähigkeit und anfangender Hybris als Coach zeugt.

Defensive Tackle Sebastian Joseph-Day soll die Run Defense stärken.getty

Auch andere defensive Bereiche laufen unrund: Die letztes Jahr noch extrem durchlässige Run Defense wurde mit Sebastian Joseph-Day und Austin Jackson in der Free Agency verstärkt - und erlaubt seither 5,7 Yards pro Lauf, gemeinsamer Höchstwert der Liga mit den Giants. In erlaubten EPA pro Lauf ist das Team auch nicht viel besser (29. der Liga). Manches davon ist sicher von den erwähnten Big Runs verfälscht, die solche Durchschnitte immer stark heben, aber nur einen kleinen Teil der Plays darstellen.

Aber manches ist auch durchaus bewusst in Kauf genommen: Staleys Philosophie der Two High Shells ist für die Passspiele der AFC-Gegner Bills und Chiefs konzipiert. Wenn sich die Liga in einer Antwort auf das neue, von ihm mit-initiierte Coverage-Paradigma aber wie in den ersten Wochen der Saison vermehrt auf das Laufspiel stützt, braucht es defensive Anpassungen. Nicht jeder Gegner ist Mahomes. Wenn Gegner wie die Browns oder Seahawks mehr als 30 Mal laufen wollen, ist es nicht zu viel verlangt, weniger als 200 erlaubte Yards beziehungsweise weniger als 6 erlaubte Yards pro Carry zu erwarten.

Die Chargers Offense bleibt statisch, kurz und unkreativ

Offensiv ist das Bild weiterhin auch jenseits der Verletzungen traurig. Das Laufspiel scheitert am Run Blocking und die Chargers-Pass-Offense bleibt eine auf kurze Pässe ausgelegte Verlängerung des Laufspiels, bei denen etliche Routes zum Stillstand kommen und somit wenig YAC-Möglichkeiten bieten, und die Herberts Arm nicht mal oberflächlich ausnutzen können. Die Chargers haben die meisten Completions der Liga, die für 0 Yards oder weniger gehen.

Staleys Festhalten an Joe Lombardi als Offensive Coordinator wäre da nicht ein großes Problem per se - wenn er denn notwendige Anpassungen von ihm verlangen würde. Aber wenn er Lombardi walten lässt, ohne selbst eine Meinung dazu zu haben, ob das Geplänkel der Stick Routes eine Zukunft hat in der heutigen NFL, in der Defender einfach zu gut reagieren können, ist es seinerseits eine fahrlässig Schwächung des Potentials des Teams.

Andere Offenses zeigen Woche für Woche, wie sie mit deutlich weniger QB-Talent trotzdem kreativ die Probleme, die ihnen gegnerischen Defenses bieten, umgehen. Die Giants haben noch weniger Wide Receiver Talent als der verletzte Chargers-WR-Room. Die Falcons verstecken aktiv ihren QB. Die Vikings und Dolphins verhelfen limitierten QBs mit Play Action zu einem tiefen Passspiel. Alle diese Offenses laufen mehr als die Chargers und haben dennoch mehr EPA/Play und eine höhere Success Rate als die Chargers mit einem waschechten MVP-Kaliber auf QB. Und alle diese Teams haben junge Head Coaches im ersten oder zweiten Jahr, die on-the-fly lernen, in der NFL eine funktionale Offense aufzubauen.

Die Kernfrage wird also in LA bleiben: Kann Staley auch jenseits der smarten 4th-Down-Entscheidungen zu einem adaptiven, guten NFL Head Coach werden? Die Antwort darauf wird entscheiden, was das Team aus dem jetzt vorhandenen Fenster mit Herbert auf einem billigen Vertrag macht. Das Verfehlen der Playoffs - oder ein sofortiges Ausscheiden dort - wäre zwar dramatisch, aber es würde sehr viel davon abhängen, wie es zustande kam.

Nimmt Staley im Laufe der zweiten Saison Anpassungen vor, und die Verletzungen bleiben aber unüberwindbar, wird er gute Argumente haben, die Entwicklung fortzuführen.

Kommen Bosa und Williams irgendwann wieder gesund zurück, und das Team spielt aber weiterhin unter seinem Potential, weil sich im Coaching niemand traut, um die Ecke zu denken, muss sich das Team fragen, ob es sich noch um Growing Pains oder um eine verschwendete Chance handelt.