Der Draft rückt immer näher - SPOX gewährt einen Blick hinter den Kulissen! Im Interview verrät NFL-Network-Draft-Experte Daniel Jeremiah seine persönlichen Favoriten und gibt eine Quarterback-Prognose ab. Darüber hinaus erzählt er von seinen aktiven Tagen als NFL-Scout, und gibt seine Einschätzung zu den Chancen von Moritz Böhringer ab.
SPOX: Daniel Jeremiah, Sie sind beim NFL Network einer der absoluten Draft-Experten. Wie kam es dazu?
Jeremiah: Ich habe insgesamt acht Jahre als Scout gearbeitet, für die Baltimore Ravens, die Cleveland Browns und die Philadelphia Eagles, bevor ich zu den Medien gewechselt bin. Das ist mittlerweile mein fünftes Jahr beim NFL Network, wo ich mich vor allem auf mein Spezialgebebiet konzentriere: den Draft. Im Herbst steht die NFL im Mittelpunkt, aber den kompletten Frühling über bin ich Teil unserer Draft-Coverage. Ich beobachte also die All-Star-Games, gehe zur NFL-Combine und bereite dann den Draft vor.
SPOX: Wie viel Tape müssen Sie als Draft-Experte denn im Schnitt abarbeiten?
Jeremiah: In diesen Tagen vor dem Draft natürlich besonders viel, da dürften es jeden Abend drei bis vier Stunden sein, wenn ich nicht mehr auf Sendung bin. Am Wochenende bleibt dann noch etwas mehr Zeit, was ich auszunutzen versuche: Da sind es dann bis zu fünf Stunden. Es ist so, als würde man sich auf eine Abschlussprüfung vorbereiten.
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SPOX: Und während der Saison? Schauen und scouten sie auch während der Saison College-Football?
Jeremiah: Ich schaue mir unheimlich viel NFL-Tape an, weil wir darüber ja am meisten sprechen. Normalerweise komme ich jeden Dienstag und Donnerstag ins Büro um halb sechs Uhr morgens ins Büro und sehe mir drei Stunden lang NFL-Tape an. An den Samstagen bin ich so oft wie möglich unterwegs und schaue mir die College-Kids live an. Damit beginnt quasi der Draft-Prozess. Und sobald es dann mit den Bowl Games losgeht, stehen vielleicht 40 bis 50 Bowl Games auf dem Programm. Dann beginnt für mich sozusagen eine neue Zeitrechnung und ich konzentriere mich nur noch auf den Draft.
SPOX: Welche Positionen sind dieses Jahr besonders stark?
Jeremiah: Bei den Defensive Backs ist es ein großartiger Jahrgang: In Sachen Cornerbacks und Safeties waren wir schon sehr lange nicht mehr so gut aufgestellt. In der Offense sind vor allem Running Backs und Tight Ends sehr tief und talentiert. Danach würde ich sagen sind die Edge-Rusher auch ziemlich gut. Die einzige Position, auf der wir nicht die absoluten Toptalente haben wie in den vergangenen Jahren, sind für mich die Quarterbacks und Offensive Tackles. Da war es in den letzten Jahren auch schon etwas besser.
SPOX: Quarterbacks und Running Backs, die in der ersten Runde gedraftet werden, ziehen immer besonders viel Aufmerksamkeit auf sich. Wie viele QBs und RBs sehen Sie denn in der ersten Runde vom Board gehen?
Jeremiah: Wir werden ganz sicher zwei Quarterbacks in der ersten Runde sehen. Deshaun Watson und Mitchell Trubisky werden beide in der ersten Runde gedraftet werden. Und danach rechne ich noch mit einem dritten Quarterback. Da sehe ich drei potenzielle Kandidaten: Patrick Mahomes von Texas Tech, Davis Webb von Cal ist ebenfalls sehr beliebt, es könnte aber auch DeShone Kizer von Notre Dame sein. Ich glaube, dass am Ende drei Quarterbacks vom Board sein werden. Was die Running Backs angeht: Leonard Fournette, Delvin Cook und Christian McCaffrey sind drei sichere Kandidaten, alles andere wäre schon eine große Überraschung. Ich glaube aber, dass in der zweiten und dritten Runde nochmal eine ganze Menge Running Backs ausgewählt werden.
SPOX: Was sind denn ihre Top 5 Spieler im Draft?
Jeremiah: Meine Top 5? Im Moment sehe ich Pass-Rusher Myles Garrett von Texas A&M ganz oben, er ist einfach ein außergewöhnliches Talent. Danach kommt Jamal Adams, der Safety von LSU. Wie schon erwähnt Leonard Fournette von LSU, auch ein besonderes Talent. Solomon Thomas, der Edge Rusher von Stanford, ist ebenfalls richtig gut. Danach kommt eine kleine Gruppe, zum Beispiel Jonathan Allen, Defensive Lineman von Alabama, der sehr vielseitig einsetzbar ist. Marshon Lattimore, der beste Cornerback in diesem Draft. Oh, und ich habe Malik Hooker vergessen, Safety von Ohio State, der für mich der dritt- oder viertbeste Spieler im Draft ist. Aber die gesamten Top Ten sind insgesamt sehr stark.
SPOX: Die Cleveland Browns haben in diesem - und auch im nächsten - Draft eine ganze Reihe an Picks angesammelt. Geht es einfach nur darum, so viele junge Spieler wie möglich zu wählen, oder steckt doch noch etwas anderes dahinter?
Jeremiah: Naja, viele Picks sind schön und gut, da haben sie einen guten Job gemacht. Die große Herausforderung wird es nun sein, auch die richtigen Spieler zu draften. Früher oder später werden sie einen Quarterback finden müssen. Ich bin mal gespannt, ob sie das schon dieses Jahr probieren, oder noch ein Jahr warten. Das wird natürlich der Schlüssel zum Erfolg sein, den richtigen QB zu finden und zu entwickeln. Aber mit zwei Erst- und Zweitrundenpicks in diesem und sogar drei Zweitrundenpicks im nächsten Jahr sind sie gut aufgestellt. Jetzt müssen die richtigen Spieler her.
SPOX: Man könnte sagen, dass sie sich den Zweitrundenpick der Texans mehr oder weniger gekauft haben. Ist das ein ganz neuer "Moneyball"-Ansatz? Werden wir davon in Zukunft mehr sehen?
Jeremiah: (lacht) Es ist auf jeden Fall kreativ, und ich glaube sogar, dass es für beide Teams die richtige Entscheidung war. Houston wird den teuren Vertrag (von Brock Osweiler, d. Red.) los und Cleveland hat eine Menge Cap Space und einen Besitzer, der den nötigen Scheck ausgestellt hat. So haben sie sich schon einen Zweitrundenpick "gekauft", wenn man so will. Aber in Brock Osweiler haben sie gleichzeitig einen weiteren Vermögenswert: Wenn sie ihn erst einmal halten und abwarten, verletzt sich im Laufe der Saison vielleicht ein Starting Quarterback eines anderen Teams und sie bekommen noch einen Pick für ihn obendrauf. Eine sehr kreative Taktik.
SPOX: Sie haben es schon angesprochen: Picks sind das eine, die richtige Wahl das andere. Wenn es um das Scouting von Spielern geht: Was kann man vorhersagen und was ist schlicht und ergreifend Glück, wenn es um die Talente geht?
Jeremiah: Ja, Glück spielt auf jeden Fall eine große Rolle. Tom Brady ist bis in die sechste Runde gefallen und jetzt ist er der größte Spieler aller Zeiten. Das zeigt schon, dass es keine exakte Wissenschaft ist. Bei den Teams, für die ich gearbeitet habe, war der Ansatz folgender: Im Schnitt hat man sieben Picks im Draft - hoffentlich einen oder zwei mehr. Aber unser Ziel war immer, mit diesen Picks drei Starter zu finden. Das können die ersten drei Picks sein, aber auch die letzten drei. Aber mit diesen sieben Picks will man dreimal ins Schwarze treffen. Möglichst nahe an die 50 Prozent.
SPOX: Sie haben sowohl als "National Scout", als auch als "Area Scout" gearbeitet. Können Sie uns den Unterschied erklären? Beobachtet man als "Area Scout" einfach weniger Spieler?
Jeremiah: Als Area Scout ist man für eine bestimmte Region des Landes unter sich. Ich war der West Area Scout, also war ich für alle Talente in dieser Gegend verantwortlich - also 45 bis 50 Schulen. Alle Spieler dieser Schulen muss man in- und auswendig kennen. Als National Scout pickt man sich die besten Spieler des Landes heraus: Eine Woche ist man in Florida, die nächste vielleicht schon in Kalifornien. Man schaut sich einfach die absoluten Toptalente an und gibt quasi neben den Area Scouts noch eine zweite Einschätzung.
SPOX: Wie groß muss man sich das Gebiet eines Area Scouts vorstellen? Ein Drittel der USA?
Jeremiah: Wir teilen das Land in Gebiete auf. Es gibt vielleicht fünf oder sechs Area Scouts - ich war an der Westküste -, und dann haben die meisten Teams normalerweise zusätzlich zwei National Scouts, die kreuz und quer durch das Land unterwegs sind und nochmal eine Stufe höher stehen.
SPOX: Wie sieht denn ein Jahr als Area Scout aus? Was machen Sie zum Beispiel in der Offseason?
Jeremiah: Wenn wir das Jahr einmal durchgehen: Man geht mit dem eigenen Team ins Training Camp und bewertet erst einmal das eigene Team. Was haben wir - und was brauchen wir? Dann bricht man im August in Richtung Colleges auf und ist den ganzen Herbst über unterwegs, schaut sich Spiele an. Die Ergebnisse gibt man im Dezember ab. Danach kommen Meetings, man sieht sich eine Menge Tape von Spielern außerhalb des eigenen Gebietes an, um eine Gegenprobe zu machen. Das macht man bis zum Draft, dann sind die Draft-Meetings an der Reihe. Anfang Mai nach dem Draft hat man endlich ein bisschen Freizeit, und im Sommer ist man von zuhause aus in Kontakt mit Colleges und informiert sich über die Spieler des kommenden Jahrgangs, damit man im August schon eine Vorstellung davon hat, mit wem man sprechen könnte und wonach man sucht.
SPOX: Wie viele Tage im Jahr ist man damit unterwegs? 200?
Jeremiah: Nicht ganz. Ich würde sagen, ich war vielleicht 150 bis 175 Nächte nicht daheim. Es ist ein ziemlich zermürbender Reiseplan. (lacht)
SPOX: Wie bekommt man überhaupt Wind von aufstrebenden Talenten, die noch nicht in aller Munde sind? NFL-Reporter Ian Rapoport hat uns erzählt, dass er sein eigenes "Netzwerk" an Quellen hat. Sieht das bei Ihnen ähnlich aus?
Jeremiah: Ja, ich habe eine Menge Kontakte in der "Scouting-Welt". Es gibt eine Organisation mit Namen "National Scouting Combine", die den Combine in Indianapolis organisiert. Die hat wiederum Kontakt zu vielleicht 15 bis 18 Teams, und deren Leute verteilen sich im Frühling auf die Colleges und stellen dann eine Liste mit den möglichen Prospects zusammen. Ich komme glücklicherweise an diese Liste heran, und das verschafft mir einen guten Überblick darüber, wo die Spieler sind. Ich schätze sie vielleicht ganz anders ein, aber ich kenne alle Namen und kann mich entsprechend vorbereiten.
SPOX: Wer ist der beste Spieler, den Sie jemals gescoutet haben?
Jeremiah: Die höchste Note, die ich jemals vergeben habe - und im Endeffekt war sie etwas zu hoch -, bekam Reggie Bush, der von 2003 bis 2005 für die Trojans spielte. Aber der beste Spieler, der auch die insgesamt zweithöchste Note von mir bekam, war Andrew Luck in Stanford. Was er bisher natürlich gerechtfertigt hat. In Reggie Bush habe ich mich damals in USC verliebt. Sie hatten ein fantastisches Team und ich dachte er würde seine Position in der NFL verändern und neu definieren. Er hatte ja auch eine gute Karriere, aber am Ende war er einfach auch zu oft verletzt.
SPOX: Würden Sie uns Ihren größten Erfolg als Scout verraten? Und Ihren größten Fehlschlag?
Jeremiah: Oh, wow. (überlegt) Ich habe Marshall Yanda eine richtig gute Note gegeben, als ich noch für die Ravens arbeitete. Wir haben ihn in der dritten Runde bekommen und er wurde zum All-Pro-Player, insofern war das schon ein großer Erfolg. Der Stapel mit den Fehlschlägen ist nicht gerade klein ... ich würde sagen ... Naja, ich war in Philadelphia, als wir 2011 Danny Watkins gedraftet haben. Das wird wohl als einer der größeren Busts in die NFL-Geschichte eingehen.
SPOX: Watkins ist in der NFL nicht glücklich geworden.
Jeremiah: Ja, er war ein interessanter Fall. Watkins war ein älterer Spieler und immer sehr an der Feuerwehr interessiert - und das macht er mittlerweile auch. Er ist zweifellos einer der größten Busts, mit dem man mich jemals in Verbindung bringen wird, also ist er meine Wahl.
SPOX: Gibt es dieses Jahr einen noch unbekannten Spieler, den Sie als potenziellen Star auf der Rechnung haben?
Jeremiah: Es gibt ein paar richtig gute Running Backs, die noch unter dem Radar fliegen. Jemand wie Marlon Mack von South Florida. Er wird wohl ungefähr in der vierten Runde vom Board gehen, aber er kann ein ganz besonderer Spieler werden.
SPOX: Sie waren auf dem College selbst Quarterback, bevor Sie Scout wurden. War die NFL jemals eine realistische Option?
Jeremiah: Nein. Glauben Sie mir, ich hatte sehr viel Spaß am Football. Aber ich hatte eine gute gute High-School-Laufbahn, eine durchschnittliche College-Laufbahn - und ich wusste, dass eine Profi-Karriere nicht zur Debatte stand. (lacht)
SPOX: Haben Sie sich damals schon dazu entschieden, Scout zu werden?
Jeremiah: Wahrscheinlich hat es mir im Endeffekt dabei geholfen, aber an eine Karriere als Scout habe ich nie gedacht. Das war eher Zufall: Als ich auf dem College einmal verletzt in der Kabine saß, kam ein Scout vorbei, und ausgerechnet der war auf dem College mit meinem Bruder auf einem Zimmer gewesen - ich wusste überhaupt nicht, dass er als Scout arbeitete. Wir haben uns dann über Scouting unterhalten und so hat sich das aus dem Nichts entwickelt.
SPOX: Reizt es Sie manchmal zurückzugehen und wieder als Scout zu arbeiten?
Jeremiah: Nein. Ich hatte schon Angebote, wieder in die Liga zurückzugehen, aber ich habe damals freiwillig aufgehört. Es ist nicht einfach für die Familie, wenn man so oft unterwegs ist. Meine Kinder sind jetzt auch in einem Alter, da würde das viele Reisen einfach nicht passen.
SPOX: Und wenn die Kinder dann selbst mal aufs College gehen?
Jeremiah: Da habe ich noch einige Jahre vor mir. Aber wenn es soweit ist, überlege ich es mir vielleicht noch einmal.
SPOX: Letzte Frage: Der Draft 2016 hat in Deutschland wegen Moritz Böhringer für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Sie haben Böhringer in Ihrer Sendung getroffen: Haben Sie eine ähnliche Entwicklung erwartet?
Jeremiah: Es war klar, dass der Übergang in die NFL eine unheimlich große Herausforderung für ihn wird. Er ist ein großartiger Athlet, deswegen ist die Chance auf jeden Fall da. Aber es wird ein langer Prozess sein, er muss eben einiges aufholen. Ich bin sehr gespannt auf seine Zukunft, aber wir müssen Geduld haben.