Neue Helme? Neue Offenses? Ein ganz neues Spiel? Und welche Spieler werden die NFL prägen, 2019, aber auch darüber hinaus? Die NFL feiert 100. Geburtstag - SPOX wagt anlässlich der reichen Geschichte der Liga einen Blick in die Zukunft.
Die NFL verändert sich. Permanent.
Man sieht es an den auf den ersten Blick kleinen Dingen - no pun intended - wie der Tatsache, dass mit Baker Mayfield und Kyler Murray in aufeinanderfolgenden Jahren Quarterbacks mit einer Größe von unter 1,86 Metern mit dem ersten Pick im Draft ausgewählt wurden. Kein Football-Experte aus den 80ern, 90ern oder selbst aus dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts würde das vermutlich glauben, hätte man ihn damals damit konfrontiert.
Man sieht es ganz plastisch an den Veränderungen des Helms über die Jahre, am veränderten Zuschauerverhalten durch externe Einflüsse wie Social Media, Fantasy Football und Streaming-Optionen oder auch an der Internationalisierung der Liga, mit längst jährlich fest eingeplanten Auftritten in London, Stadion-Partnerschaften und internationalen Combines.
Und natürlich sieht man es auch auf dem Platz. Man muss gar nicht im Detail in die Statistiken und Trends eintauchen - auch wenn das sicher nicht schadet - um zu erkennen, dass der Football in der NFL über die letzten zehn Jahre mehrere große Schritte dahingehend gemacht hat, dass mehr im offenen Raum des Feldes und weniger in der Enge der Line of Scrimmage stattfindet.
Wohin geht die Reise?
Hal Mumme und der steinige Weg des Pioniers
Hal Mumme ist gewissermaßen der Schöpfer der Offense, die heute als "Air Raid" bekannt ist. Erfolge wies er mit seiner extrem passlastigen Offense in den 80er und 90er Jahren relativ schnell vor, dennoch blieb er lange unbemerkt. Copperas Cove High School, dann auf dem College-Level Iowa Wesleyan und Valdosta State - nicht gerade das "Who is who" der Football-Schulen.
Andere Coaches begegneten seiner Idee mit großer Skepsis, in jeder Liga, in die Mumme kam, herrschte zunächst die Meinung, dass dieser Football "hier auf keinen Fall funktioniert". Bis Mummes Teams ihnen 30, 40, 50 Punkte einschenkten.
Skepsis regierte primär aus eigener Überzeugung und dem Glauben daran, dass Football nur durch das physisch dominante Team gewonnen werden kann. Aber Zweifel an Mummes Idee, Defenses mit vier und fünf Receivern zu attackieren und den Ball 40, 50, 60 Mal zu werfen, kamen teilweise auch daher, dass sich Mummes Erfolge nur sehr träge verteilten.
Bevor man auf Twitter, YouTube und diversen Streaming-Angeboten jedes College-Spiel, das man sehen will, anschauen konnte, bekam man nicht mal eben Zusammenschnitte von Iowa Wesleyan zu Gesicht. Coaches Clinics waren der beste Weg, um Ideen auszutauschen - nur hatte lange kein Coach Interesse an Mummes Ideen, die zu weit weg von allem waren, was die anderen Coaches kannten.
Inspiration ist überall
Heute ist das selbstredend anders. College-Tapes sind, umso mehr für NFL-Coaches, in aller Regel nicht viel mehr als einen Telefonanruf entfernt, falls das überhaupt notwendig ist. Wer sich inspirieren lassen will, wird hier ohne Zweifel fündig; es ist mehr ein Problem der schieren Masse an Spielen, als ein Problem der Verfügbarkeit.
Und trotzdem sind Fortschritte in der NFL häufig zäh und langwierig. Coaches in der NFL sind deutlich weniger mutig als ihre Kollegen im College - teilweise, weil sie in der Regel weniger Jobsicherheit haben; aber auch aufgrund der Tatsache, dass sie schlicht und ergreifend nicht so sehr auf Innovation angewiesen sind, um konkurrenzfähig zu sein.
Einer der größten Antriebe für Innovationen im Football ist ein Ressourcen-Nachteil. Anders gesagt: Man wird kreativ, um qualitative Unterschiede auszugleichen. Wenn Alabama Anfang September New Mexico State empfängt, sollten die Aggies lieber mehr als nur ein paar kreative Ideen im Hinterkopf haben. Wenn die Miami Dolphins die New England Patriots in der kommenden Saison empfangen, dann sind die Patriots zwar das klar bessere Team, doch die Diskrepanz ist längst nicht so groß, dass revolutionäre Ideen notwendig sind, damit Miami das Spiel gewinnen kann.
Und so ist es umso auffälliger, wenn Coaches in der NFL Mut zeigen. Das kann sich auf unterschiedliche Arten darstellen, etwa wenn Doug Pederson bei Fourth Down aggressiver wird, wenn sich Coaches bereitwillig für Analytics-Experten öffnen oder wenn sie sich ganz simpel nach Play-Design-Ideen im College Football umschauen.
Andy Reid verändert die NFL
Letzteres ist ein fester Bestandteil der Routine von Andy Reid, Head Coach der Kansas City Chiefs und Architekt einer der schematisch besten Offenses der letzten drei Jahre. Tatsächlich legt Reid so großen Wert darauf, dass er mehrere seiner Assistenz-Coaches damit beauftragt hat, College-Spiele nach Plays zu durchsuchen, die auch für die Chiefs funktionieren könnten. Das kann ein Play bei Alabama sein, es kann aber auch North Dakota State sein.
Er hat damit eine permanente Vorreiterrolle und steht gleichzeitig sinnbildlich für den Trend der Zeit. "Im College werfen viele Teams so viel, und das gerne aus Spread Options heraus. Egal, ob man das mit der Read Option kombiniert oder nicht, man kann sie als Passer evaluieren", erklärte Reid in einem Interview mit The Undefeated. Für ihn ist das die wichtigste Veränderung in der NFL in den vergangenen Jahren: "Es gibt mehr Gelegenheiten, den Ball zu werfen. Das ist in der jüngeren Vergangenheit ein konstanter Bestandteil in der NFL."
Keine Offense arbeitete letztes Jahr derart intensiv mit Pre-Snap-Motions wie die Chiefs, um Abstimmungsfehler in der Defense zu erzwingen und Matchups zu kreieren. Reid gelingt es, für die Defense komplex zu wirken und gleichzeitig dem Quarterback die Arbeit möglichst leicht zu machen: Unter Quarterbacks mit mindestens 250 Pässen warf nur Nick Mullens prozentual weniger Pässe (12 Prozent) in enge Fenster als Mahomes (12,2 Prozent) - Mahomes gelang das Kunststück aber bei durchschnittlich 1,8 Yards weiterer Target-Tiefe.
Und das lässt sich fortsetzen: Nur die Steelers hatten letztes Jahr mehr Yards nach dem Catch (2.883) als die Chiefs (2.649) - Steelers-QB Ben Roethlisberger warf allerdings auch fast 100 Pässe mehr als Mahomes. Das Spiel für den eigenen Quarterback möglichst leicht zu machen, statt sich auf die Fähigkeiten eines Ausnahme-Quarterbacks zu verlassen, und diese Fähigkeiten eher als Bonus zu verstehen; das ist der Weg für eine außergewöhnliche Saison wie sie Mahomes letztes Jahr hatte.
Mahomes, Mayfield - Murray? Die Zukunft der NFL
Mahomes' Ausnahme-Spielzeit hat ihn zum Superstar gemacht. Er ist auf dem neuen Madden-Cover zu sehen und kaum jemand würde widersprechen, wenn man Mahomes als das Gesicht der NFL für das kommende Jahrzehnt prognostiziert. Oder, wie Tight End Travis Kelce es so auf den Punkt bringt: "Er ist ein Rockstar."
Und er ist auch ein Musterbeispiel dafür, wie sich die NFL verändert. Genau wie auch Rams-Quarterback Jared Goff kam Mahomes aus einer Air Raid Offense im College, in Mahomes' Fall noch extremeren Ausmaßes als bei Goff. Umso größer waren auch die Fragezeichen, wie sich sein College-Spiel auf die NFL übertragen würde. Hatte man doch in den vergangenen Jahren mehrfach gesehen, wie Air-Raid-Quarterbacks in der NFL floppten.
Reid wählte bei Mahomes den gegensätzlichen Weg. Er fokussierte sich auf die Dinge, die Mahomes im College bei über 1300 Pässen gelernt hat mit dem Wissen im Hinterkopf, dass er und seine Coaches dem jungen Quarterback die weiteren Werkzeuge an die Hand geben können, um auch in der NFL erfolgreich zu sein.
Wie sehr das Stigma der Air Raid Offense verblasst, haben dann die vergangenen beiden Drafts gezeigt. Zunächst wählten die Browns 2018 Baker Mayfield vor etwa einem Sam Darnold, den man vor zehn Jahren noch viel eher als das prototypische Quarterback-Prospect angesehen hätte. Die Cardinals gingen dieses Jahr dann noch einen Schritt weiter, indem sie zunächst mit Kliff Kingsbury einen Air-Raid-Coach und dann auch noch mit Kyler Murray an Nummer 1 einen Quarterback drafteten, der keine 1,80 Meter groß ist.
Diese drei Quarterbacks einen mehr Dinge als nur der Air-Raid-Background. Alle drei sind akkurate Passer, alle drei sind - zu unterschiedlichem Grade, zugegeben - mobil und können Verteidigern ausweichen und alle drei können den Ball aus unterschiedlichen Winkeln präzise anbringen. Alle drei gehören ohne Zweifel zu den Spielern, die die kommende Saison prägen werden; auf die eine oder die andere Art und Weise.
Denn Mahomes, Mayfield und Murray sind nicht nur jeder für sich betrachtet interessante Spieler, die lange je große Rollen in der NFL spielen könnten. Vielmehr versinnbildlichen sie auch die Idee des neuen Quarterback-Typs, und das in allen drei Fällen in Offenses, die prägend für die nächsten Jahre sein könnten. Nicht weil sie ein spezifisches Scheme spielen, sondern weil sie effiziente Wege finden, um Spiele zu gewinnen und um offensiv zu dominieren. Bei Mahomes und Andy Reid wissen wir das bereits, Mayfield hat es letztes Jahr angedeutet. Murray muss es in der NFL noch zeigen.
Die größte Aufgabe der NFL: Mehr Sicherheit
Blickt man noch weiter über den Tellerrand, kommen ganz andere Fragen als taktische und individuelle Prägungen in den Mittelpunkt. Wann immer man sich mit der Zukunft der NFL befasst, muss ein Thema ganz oben stehen: Die Sicherheit der Spieler. Die gesundheitlichen Auswirkungen, angeführt von CTE, stehen mehr und mehr im Mittelpunkt, je mehr durch Langzeitstudien bekannt wird.
Football, und das beginnt in dem Fall mit der NFL, muss sicherer werden. Kinder erst später für Tackling-Football zuzulassen und vergleichbare Regeln sind gut, doch werden trotzdem weniger Eltern ihre Söhne Football spielen lassen, wenn sie wissen, was ihre Kinder potenziell im College und der NFL erwartet.
Das führt unweigerlich zu einer Gratwanderung: Wie kann man das Spiel sicherer machen und dabei gleichzeitig die unheimliche Beliebtheit, der sich Football erfreut, aufrecht erhalten?
Das unaufhörliche Weiterentwickeln der Helme ist ein Thema, die alleinige Lösung wird es nicht sein. Die Abschaffung der Kickoffs ist ein Thema, um einige der härtesten Kollisionen zu unterbinden, genau wie noch härtere Strafen für Spieler, die den Kopf senken, um Kontakt zu suchen.
Manche Theorien gehen in die Richtung, dass Spieler an der Line of Scrimmage nicht mehr im Three-Point-Stance (mit einer Hand auf dem Boden) stehen sollten, um die permanenten Zusammenstöße auf Kopfhöhe hier zu unterbinden. Andere, noch extremere Ideen schlagen ein breiteres Spielfeld vor, um Teams gewissermaßen in Spread-Formationen zu zwingen und so das Spiel mehr in die Breite zu ziehen, damit mehr horizontal und weniger vertikal gedacht und gespielt wird.
Wie sieht NFL-Football in der Zukunft aus?
Einiges, vielleicht vieles, in diesem Artikel lässt manche Football-Fans die Zornesröte ins Gesicht steigen. Und genau hier ist der Drahtseilakt für die NFL: Mindestens eine Teil der Faszination NFL kommt durch die Physis des Spiels, durch die Hits und durch den Effekt, wenn vier Defensive Lineman nach dem Snap mit unheimlicher Wucht auf fünf Offensive Linemen prallen, um zum Quarterback zu kommen - oder wenn umgekehrt die beiden Guards zwei Linebacker zerstören, um den Weg für den Running Back zu ebnen.
Vor diesem Hintergrund ist es umso spannender, darüber nachzudenken, wie sich die NFL über die nächsten 20, 30, 40 Jahre verändert. Vor 100 Jahren schien die Idee absurd, den Vorwärtspass als das zentrale offensive Mittel einzusetzen; eine Sichtweise die für viele Coaches noch in den 70er Jahren der eigenen Philosophie entsprach. NFL-Football wird sich über die nächsten Jahrzehnte weiter zu einer offeneren, weniger physischen Version entwickeln, das dürfte außer Frage stehen.
Wie genau der Spagat zwischen den Fans eines traditionelleren Stils auf der einen sowie taktischen Entwicklungen und der Notwendigkeit von mehr Sicherheit auf der anderen Seite gelingt, wird spannend zu beobachten sein. Doch selbst mit dieser schwierigen Aufgabe vor der Brust scheint es schwer vorstellbar, dass die NFL ihre Vormachtstellung in den USA auf absehbare Zeit verliert.
Zu perfekt ist der NFL-Kalender durchgetaktet, vom Super Bowl geht es über in die Free Agency und dann in das Drama des Drafts, der absurde Zuschauerzahlen kreiert. Zu gut sind (die meisten) Teams inzwischen darin, sich selbst zu vermarkten und dabei zugänglicher zu werden; bestes Beispiel dafür sind selbst produzierte Mini-Serien, die Fans im Stil von "Hard Knocks" während der Offseason hinter die Kulissen schauen lassen.
Und doch wird sich die Art und Weise, wie wir Football schauen, was wir auf dem Feld sehen und wen - Stichwort: Internationales Scouting - wir auf dem Feld sehen in den nächsten Jahren weiter verändern. Denn letztlich ist Veränderung die eine Konstante, auch in der NFL.