Hollywoods langer Schatten

Von Adrian Franke
08. August 201614:44
Quarterback Philip Rivers ist San Diegos Hoffnungsträger - und verlängerte im Vorjahr langfristiggetty
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Den San Diego Chargers steht eine schwierige Saison bevor: Hollywood ruft, der mögliche Umzug nach Los Angeles schwebt wie ein permanenter Schatten über dem Team. Dazu kommen sportliche Querelen und jede Menge Fragezeichen. Können Philip Rivers und Co. eine Welle der Euphorie in San Diego ins Rollen bringen? Die Preseason wird als erster Gradmesser fungieren.

Die NFL-Preseason hat mehrere interessante Aspekte zu bieten. Es geht darum, die erfahrenen Starter wieder in den Rhythmus zu bringen. Es geht darum, letzte Kaderplätze zu erobern beziehungsweise zu verteilen. Und vor allem ist Football nach der langen, langen Pause endlich zurück.

Für gewöhnlich ist das zumindest für alle Fans ein schönes Event. Auch wenn es noch nicht um Regular-Season-Siege geht, so kommen die Anhänger doch ins Stadion, um ihr Team wieder zu sehen und Football live zu genießen. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob die Vorsaison ein einziges Debakel war, oder ob sich der Titelverteidiger die Ehre gibt: Euphorie und Antizipation sind meist garantiert.

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Wenn die San Diego Chargers am 19. August ihr Preseason-Heim-Debüt gegen die Arizona Cardinals geben, wird zu dieser Stimmung auch etwas anderes dazugemischt sein. Eine Mixtur aus Unsicherheit und unverbesserlichem Optimismus, gespickt mit einer Prise Wut. Dass die Chargers über die letzten sechs Jahre nur ein Mal (2013, Aus gegen Denver in der Divisional-Round) den Sprung in die Playoffs geschafft haben, ist dabei nur bedingt wichtig. Gleiches gilt für die 4-12-Bilanz in der vergangenen Saison, was die schlechteste Chargers-Spielzeit seit 2003 markierte.

Stattdessen steht etwas anderes im Mittelpunkt: Die Zukunft des Teams hängt in der Schwebe - wieder einmal.

Der Abschied, der keiner war

Ein kurzer Rückblick ins Vorjahr: Es war der 20. Dezember, Weihnachten klopfte bereits an die Tür und die Chargers hatten gerade Miami in ihrem letzten Heimspiel 2015 mit 30:14 geschlagen. Doch war das Ergebnis, es sollte San Diegos letzter Sieg in dieser Saison werden, an jenem Tag zweitrangig.

Die Anzeichen hatten sich zuletzt zu stark verdichtet, dass das Team die Stadt verlässt und nach Los Angeles zurückkehrt. Folgerichtig verabschiedeten sich die Fans, ein letztes Mal mit Bannern bewaffnet, um die Eigentümer vom Verbleib zu überzeugen, von ihren Chargers. Eric Weddle, Philip Rivers, Antonio Gates und Malcom Floyd erhielten Standing Ovations, "San Diego Super-Chargers" hallte noch lange durch das längst baufällige Stadion.

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Immerhin hatte sich Team-Präsident Dean Spanos, nachdem er angesichts der Bedrohung für seinen Markt in San Diego zunächst gegen den Umzug eines Teams nach Los Angeles gestimmt hatte, ausgerechnet mit den im Chargers-Lager verhassten Oakland Raiders zusammengeschlossen.

Die beiden Teams hatten einen Vorschlag eingereicht, um ein gemeinsames Stadion in L.A. zu errichten und so zusammen in den zweitgrößten Medien-Markt der USA zu gehen. Bereits Mitte Juni hatten die Chargers die Gespräche mit San Diego über den Bau einer neuen Arena abgebrochen.

Stichtag 15. Januar

Doch die anderen Team-Eigentümer entschieden anders: Den Zuschlag für den Umzug nach Hollywood erhielten die St. Louis Rams, ein weiteres Ex-Los-Angeles-Team. Und dennoch schwebt das Damoklesschwert des Umzugs weiter über den Chargers: Das Team hat bis zum 15. Januar 2017 die Option, sich den Rams in Los Angeles anzuschließen. Nur falls die Chargers ihre Frist verstreichen lassen, geht die Möglichkeit des Umzugs auf die Raiders über.

Und so wurde ein Thema, das schon im Vorjahr wie ein Klotz am Bein des Teams hin, auch nach 2016 mitgeschleppt. Das Thema Umzug wird omnipräsent sein, erst im November wird sich entscheiden, ob es ein neues Stadion in San Diego gibt. Vorausgesetzt bis dahin ist geklärt, ob eine einfache Mehrheit reicht, oder ob eine Zwei-Drittel-Mehrheit dafür stimmen muss.

Das bringt uns unweigerlich zurück in die Preseason: Um zu verhindern, dass die Fans dem Team den Rücken zukehren und Heimspiele, wie schon 2015, regelmäßig zu gefühlten Auswärtsspielen werden, brauchen die Chargers frühen Erfolg. Nur so kann eine positive Stimmung in der Stadt erzeugt werden - es könnte sehr wohl das Zünglein an der Waage für einen Verbleib in San Diego werden.

Bitterer Start für Joey Bosa

Damit rückt der Druck automatisch auf die Coaches, denn sportlicher Erfolg war in San Diego im Vorjahr nicht gerade an der Tagesordnung. Ein erster Baustein hierfür sollte Nummer-3-Overall-Pick Joey Bosa werden, um in Südkalifornien endlich wieder für Pass-Rush zu sorgen. Allerdings wird dabei unweigerlich klar: Von der Mission "guter Start" sind die Chargers ein gutes Stück weit entfernt.

Das Team hat es noch immer nicht geschafft, sich mit dem Rookie auf einen Vertrag zu einigen - und somit hat Bosa am Freitag seinen Holdout anstatt die Saisonvorbereitung gestartet. "Er muss als Rookie unbedingt hier sein", monierte Coach Mike McCoy anschließend und fügte hinzu: "Jeder muss hier sein, vor allem die jungen Spieler, um Spielzüge zu lernen und sich an ihre Mitspieler zu gewöhnen."

Bosa, der mit starken Auftritten in den frühen Offseason-Workouts bereits für Vorfreude gesorgt hatte, ist nicht nur ein Spieler, der das Team besser macht - er ist auch ein Spieler, der Zuschauer ins Stadion locken kann. Stattdessen sehen die Fans jetzt ihren Top-Pick im Streik und schon kann die Stimmung in Teilen ins Gegenteil umschlagen.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Keine Hoffnung also in San Diego? Ganz so dramatisch ist es noch nicht. Da wäre, um im Thema der Defensive Line zu bleiben, Brandon Mebane. Die Chargers holten den Defensive Tackle aus Seattle, Mebane soll als neuer Anker im Zentrum der D-Line fungieren. Das wird nicht nur der Run-Defense helfen - Mebane, der bereits öffentlich von der Qualität der Defense schwärmte und sie mit dem Talent in Seattle verglich, fordert erhöhte Aufmerksamkeit von der Offensive Line, was Corey Liuget, Jeremiah Attaochu und Melvin Ingram mehr Eins-gegen-Eins-Situationen ermöglichen wird.

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Eine gar noch größere Baustelle als die Defensive Line war zuletzt San Diegos Offensive Line, und auch hier ist Besseerung in Sicht: Mit Max Tuerk kam im Draft ein enorm athletischer Center, Tackle Joe Barksdale hat einen neuen Vertrag erhalten. Vermeiden die Chargers hier das unglaubliche Verletzungspech aus dem Vorjahr - das gilt auch für Top-Receiver Keenan Allen, der bis zu seinem Nierenriss auf Rekord-Kurs für Catches in einer Saison war - sollte Rivers in der Pocket wieder mehr Spaß haben.

Breakout-Jahr für Melvin Gordon?

Unweigerlich damit verknüpft ist auch das Schicksal von Melvin Gordon: Der Running Back spielte nicht nur statistisch eine enttäuschende Rookie-Saison, hatte oft aufgrund desolaten Run-Blockings aber auch kaum eine Chance. Laut den Adjusted Line Yards von Football Outsiders, in die unter anderem Down, Stärke des Gegners und die Formation der Offense einberechnet werden, war nur San Franciscos Line in der vergangenen Saison schlechter im Run-Blocking. San Diego schaffte es in 16 Spielen nie, zwei Mal die gleichen fünf O-Line-Starter aufzubieten.

Auch Gordon wurde von den Verletzungen nicht verschont, im Januar unterzog er sich einer Knie-OP und arbeitet sich seither zurück. Die Berichte sind hierbei ermutigend. "Ich fühle mich wohl mit dem Playbook, ich fühle mich wohler in meiner Haut. Ich hatte ein Jahr, um das alles zu verinnerlichen. Es war eine lange Saison. Ich habe die Offseason gebraucht und habe mit einem Coach gearbeitet, der mich wirklich gepusht hat. Das hat mir gut getan", verriet Gordon, der sich in der Offseason auch von Adrian Peterson Tipps geholt hat, der San Diego Union-Tribune.

Zudem scheint Rookie Hunter Henry die Lücke, die der nach Pittsburgh abgewanderte Ladarius Green hinterlassen hat, schneller schließen zu können, als vermutet. "Manche Jungs werden wir schneller ranführen als andere", bestätigte McCoy auf der Team-Website. "Er wird einer dieser Jungs sein, die früh spielen."

Die Wahrheit liegt neben dem Platz

Und doch: Die Bewertung dieser Chargers-Saison wird letztlich maßgeblich von Ereignissen abseits des Rasens bestimmt. Für den 8. November ist die Abstimmung über die rund 1,8 Milliarden Dollar teuren Stadion-Pläne der Chargers in Downtown San Diego angesetzt, welche unter anderem die Anhebung von Hotel-Steuern für die Unterstützung bei der Finanzierung vorsehen. In unter sechs Wochen hatte die Petition des Teams über die Abstimmung mehr als 110.000 Unterschriften gesammelt.

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Der Machtkampf hierfür ist längst in vollem Gange. Jerry Sanders, früherer Bürgermeister und heute Präsident der Regional Chamber of Commerce, sprach dem Projekt seine Unterstützung aus - gleichzeitig hat sich bereits eine Opposition unter dem Titel "No Downtown Stadium" gebildet, der mehrere Stadträte angehören. Ihre Kritik: Zu hohe Kosten, zu hohes Risiko und falsche Verwendung von Geldern, die in Straßenbau und Schulprogramme fließen sollten.

So erhält bereits die Preseason in San Diego einen Beigeschmack wie nirgends sonst. Es wird ein erster Gradmesser für den möglichen Umzug nach Los Angeles.

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