Timothy Gallwey gilt als Vater des modernen Coachings. Sein in den 1970er-Jahren erschienenes Buch "The Inner Game of Tennis" hat sich millionenfach verkauft. Die legendäre Billie Jean King bezeichnet es als ihre "Tennisbibel". Auch Superstars aus anderen Sportarten wie Tom Brady schwören darauf. Im Interview mit SPOX spricht Gallwey über die spektakuläre Erfolgsstory seines Buches und verrät, warum ein katastrophaler Volley der Auslöser für alles war.
Außerdem erklärt der inzwischen 83-Jährige, was die mentale Stärke von Superstars wie Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic ausmacht. Dazu: Gallweys Botschaft an Alexander Zverev.
Herr Gallwey, Ihr Buch "The Inner Game of Tennis" ist bis heute eines der meistverkauften Tennisbücher. Wie ist die persönliche Geschichte, die hinter dem inneren Spiel steht?
Timothy Gallwey: Alles fing an, als ich mit 15 Jahren einen ganz einfachen Volley verschlagen habe. Es ist eine lange Geschichte.
Wir haben Zeit.
Gallwey: Es war bei den nationalen Jugendmeisterschaften. Die übrigens auf Sand ausgetragen wurden - ich hatte vorher noch nie auf Sand gespielt! Aber irgendwie lief es gut für mich. Ich schlug Spieler, gegen die ich vorher immer verloren hatte, und kämpfte mich bis ins Achtelfinale vor. Ich durfte sogar immer auf dem Centre Court spielen, das war klasse. In der Runde der letzten 16 kam ich dann gegen die Nummer 7 des Landes. Den ersten Satz gewann ich 6:3, den zweiten verlor ich 0:6. Plötzlich hörte ich einen älteren Mann von draußen reinrufen: "Du musst einen Lob spielen!" Er wollte mir wohl helfen, weil mein Gegner die ganze Zeit ans Netz gerannt kam und ich einfach keinen Weg fand, ihn zu passieren. Die Lob-Taktik ging aber erstmal auch nicht auf. Erst als ich merkte, dass er den Schmetterball immer in dieselbe Ecke setzte und ich mich immer schon frühzeitig dorthin bewegte, wendete sich das Blatt. Er wurde immer frustrierter, weil ich die Bälle jetzt zurückbrachte. Ich führte im dritten Satz schließlich 5:3 und 40:15 bei eigenem Aufschlag.
Was passierte dann?
Gallwey: Oje, ich habe heute noch Albträume, 68 Jahre später! Diese Geschichte enthüllt viel zu viel über mich! (lacht) Aber okay, ich erzähle es Ihnen. Vor meinem ersten Matchball habe ich ein Stoßgebet Richtung Himmel geschickt. "Lieber Gott, vielen Dank, dass du mich so weit gebracht hast. Bitte lass es mich jetzt zu Ende bringen." Ein Ass wäre doch ein schönes Ende, schoss mir in den Kopf. Klappte nicht. Ein Ass mit dem Zweiten wäre auch stark. Klappte auch nicht. Aber ich hatte ja noch einen Matchball. Und diesmal kam der Aufschlag. Ich stürmte ans Netz und hoffte, ihn damit nervös zu machen. Ich musste einen schwierigen Halbvolley-Stopp spielen, keine Ahnung, wie ich das gemacht habe. Aber der Ball kam gut und schien ein Winner zu werden. Aber er kam gerade noch ran und spielte mir den Ball perfekt auf den Schläger. Ich musste ihn nur noch wegdrücken. Game, Set and Match. Es war eigentlich ein Kinderspiel. Aber der Ball kam so schrecklich langsam auf meine Seite getrudelt, dass ich nicht wusste, was ich machen sollte. Ich war wie paralysiert, mein Handgelenk ist weggeknickt und ich habe den Volley unten ins Netz gehauen. Einstand. Was für eine Katastrophe. Danach waren wir beide noch nervöser und haben nur noch ewig lange Ballwechsel gespielt. Am Ende ging es 10:8 für ihn aus. Ich war raus.
Was hat das mit Ihnen gemacht?
Gallwey: Ich habe in der Folge jede Nacht wach gelegen und zu mir gesagt: Meine Oma hätte den Punkt gemacht. Es war doch der ganze Platz offen, es war so einfach. Wie konnte ich so versagen? Das gibt es doch gar nicht! Ich habe sehr viel darüber nachgedacht und realisiert, wie meine Angst vor dem Gewinnen die Kontrolle über mein Handgelenk bekommen hatte. Wie so etwas in dramatischen Momenten passieren kann. Plötzlich war ich wie ferngesteuert und mein Körper hat mir nicht mehr gehorcht. Das macht Tennisspieler ja eh aus, dieses ständige von sich selbst enttäuscht sein. Damit muss man umgehen können. Ich kam in dieser Zeit zum ersten Mal mit dem Thema Druck in Berührung. Wie ich später lernen sollte, besteht jedes Spiel aus zwei Teilen. Dem äußeren und dem inneren. Das äußere Spiel tragen wir mit unserem Gegner aus, das innere mit uns selbst. Selbstzweifel und Angst sind hier die größten Hindernisse. Kennen Sie den berühmten Spruch von Vince Lombardi?
Gallwey: "Ich will ohne Angst spielen können"
"Gewinnen ist nicht alles, es ist das einzige."
Gallwey: Genau. Mein Coach hat mir damals immer etwas Ähnliches gesagt. Er meinte: "Der Plan für das Turnier ist es, einen Punkt zu gewinnen. Den letzten." Als ich später in Harvard studierte und in der Tennis-Mannschaft aktiv war, hatte ich immer wieder Drucksituationen, mit denen ich nicht klargekommen bin. Ich habe mich immer tiefer mit der Materie beschäftigt und mich gefragt, was es mit dem Gewinnen wirklich auf sich hat. Wenn wir gewinnen, kriegen wir ein bisschen Applaus. Am Ende vielleicht einen schönen Pokal. Vor allem macht es uns aber stolz. Wir könnten es uns im Leben einfach machen und einfach immer nur gegen Leute spielen, die schlechter sind als wir. Dann würden wir immer gewinnen. Aber niemand will das. Wir wollen die Herausforderung. Wir wollen sie meistern, das ist viel erfüllender. Sonst würden wir uns auch nie verbessern. Also spielen wir gegen Leute, die besser sind als wir. Und deshalb kassieren wir auch Niederlagen, aus denen wir aber öfters viel mehr lernen können als aus Siegen. Ganz entscheidend war dann ein Match in Kalifornien für mich.
Was war das Besondere daran?
Gallwey: Das Besondere war, dass ich mir vorher die Frage nach dem Worst-Case-Szenario stellte. Was ist das Schlimmste, was mir passieren kann? Das Schlimmste wäre, ich verliere 0:6, 0:6 und fliege aus dem Turnier. Und wenn mich jemand fragt, wie es gelaufen ist, muss ich sagen: Ich habe 0:6, 0:6 verloren. Was? Du hast kein einziges Spiel gemacht? Ja, würde ich dann sagen müssen. Wahrscheinlich würde es sich schnell in meinem Klub herumsprechen. Das wäre peinlich. Aber selbst in diesem Fall würde sich nach einer Woche alles wieder normalisieren. Alles wäre wieder wie vorher und kein Mensch würde sich mehr dafür interessieren. Und wenn das doch so ist, dann könnte ich sogar damit leben, 0:6, 0:6 zu verlieren. Ich stellte also fest: So schlimm kann es gar nicht kommen.
Was war dann für Sie die Konsequenz daraus?
Gallwey: Die Konsequenz war, dass ich mich im nächsten Schritt gefragt habe, was ich eigentlich wirklich will? Wonach strebe ich wirklich? Und meine Antwort lautete: Ich will ohne Angst spielen können. Wenn ich es schaffe, meine Angst vor der Niederlage und der schlechten Leistung zu überwinden, wäre das ein Erfolg für sich. Und exakt das ist passiert. Ich verlor das Match 4:6, 3:6, aber ich hatte trotzdem noch nie so viel Spaß auf dem Court. Ich verspürte keine Angst, ich war frei und gelöst. Ich habe einfach Tennis gespielt. Am Ende war er halt der Bessere mit seinem blöden Linkshänder-Aufschlag. (lacht) Aber ich bin trotz Niederlage glücklich vom Platz gegangen und habe mich im Herzen als Sieger gefühlt. Das Ergebnis ist nur ein Ergebnis. Ich hatte etwas viel Größeres begriffen. Ich hatte das innere Spiel verstanden und gewonnen.
Was war das nächste einschneidende Erlebnis?
Gallwey: Ich habe in meinem Klub in Kalifornien Trainerstunden gegeben, da befand ich mich gerade in einem Sabbat-Jahr meiner akademischen Laufbahn. Eines Tages hatte ich mal wieder einen dieser Schüler, die ihren Schläger im Rückschwung zu weit nach oben nehmen. Aber ich war müde. Ich hatte weder Lust noch die Nerven, mal wieder einem Typen seine schlechten Angewohnheiten auszutreiben. Ich hatte das schon tausend Mal gemacht, es war jedes Mal harte Arbeit. Zu zehn Trainern sei er schon gegangen, sagte er mir. Und ich sollte jetzt der elfte sein, der es nicht schafft? Was soll das bringen? Und Hunger hatte ich auch noch. (lacht)
Was haben Sie gemacht?
Gallwey: Irgendwie habe ich dann bemerkt, dass die Sonne so durch das Fenster schien, sodass wir uns darin spiegelten. Also sagte ich meinem Schüler: Geh' mal da vors Fenster und mach' ein paar Trockenschwünge ohne Ball. Gesagt, getan. Er drehte sich zu mir um und schaute mich völlig entgeistert an: Oh, mein Gott. Ich halte ja den Schläger viel zu hoch. Bist du überrascht, fragte ich? Er hatte das Problem selbst erkannt, selbst korrigiert und zeigte fünf Minuten später auf dem Platz seine neue Topspin-Rückhand. Aus Faulheit bin ich darauf gekommen, dass wir bei den Menschen nur einen Prozess anstoßen müssen - dann lernen sie viele Dinge ganz natürlich für sich selbst. Statt verbal etwas zu erklären und eine formelle Instruktion zu geben, ist es viel effizienter, jemandem etwas zu zeigen und ihn es einfach nachmachen zu lassen. So lernen ja auch Kinder. Babys krabbeln und bringen sich das Laufen selbst bei, weil sie uns beobachten. In anderen Bereichen funktioniert das ganz genauso. Ich gebe ihnen noch ein Beispiel.
Tim Gallwey: Das würde ich Alexander Zverev sagen
Gerne.
Gallwey: Um das Prinzip zu erklären, haben wir damals eine etwas übergewichtige Lady in ihren 50ern genommen, die eine totale Anfängerin war. Ihr Name war Molly. Wir hatten 20 Minuten Zeit, um zu zeigen, wie weit wir sie in dieser Zeit bringen können. Nach den 20 Minuten sollte sie ein Spiel machen, bei eigenem Aufschlag. Obwohl wir nur drei Minuten hatten für ihr Service-Training, machte sie keinen einzigen Doppelfehler. Die durchschnittliche Rally-Länge bei den ersten drei Punkten betrug 13 Schläge. Danach begann ich, härter zu schlagen, aber sie lief ganz ruhig zum Ball und zog durch. Sie traf sogar die Netzkante und der Ball tropfte unerreichbar in mein Feld. (lacht) Am nächsten Tag spielte sie mit Freundinnen ein Doppel. Nach einer halben Stunde sagte eine Freundin zu ihr: "Ich wusste gar nicht, dass du Tennis spielst. Wie lange spielst du?" Und sie antwortete: "Ungefähr seit 20 Minnten". Faszinierend, oder?
Sehr faszinierend. Egal, ob es sich aufs Training oder auf die Psyche im Match bezieht: Was haben die Superstars über das innere Spiel verstanden, was andere nicht haben?
Gallwey: Vorneweg: Potenzial minus Behinderung von außen ist gleich Leistung. Das sehen wir bei allen großen Sportlern. Wir können über Roger Federer sprechen, über Rafael Nadal oder Novak Djokovic. Es macht keinen Unterschied, weil sie alle eines gemeinsam haben. Sie machen sich vor ihrem Match Gedanken, sie machen sich danach Gedanken - aber während sie auf dem Platz stehen, denken sie nicht über ihre Leistung nach. Nur so entsteht Höchstleistung. Sie ruhen ganz extrem in sich und sind viel zu fokussiert, als dass sie sich von irgendetwas ablenken lassen. Sie sind voll und ganz im Flow und lassen die Dinge geschehen. Sie lassen es nicht zu, dass ihr Gehirn sich einmischt. Sie fragen sich nicht mitten im Match: Wie habe ich das gerade gemacht? Es läuft alles ganz natürlich ab.
Alexander Zverev ist ganz offensichtlich noch nicht so weit, wie man an seinem verlorenen US-Open-Finale 2020 gegen Dominic Thiem und seinen Problemen mit dem Aufschlag gesehen hat. Was würden Sie ihm sagen?
Gallwey: Sein Problem war, dass er nicht damit gerechnet hat, die US Open zu gewinnen. Er hatte sie vorher ja noch nie gewonnen - das Gleiche galt für Dominic Thiem. Als sie kurz vor dem Triumph standen, sind sie mental durchgedreht. Oh mein Gott! Ich könnte das tatsächlich gewinnen! Bei jemandem wie Roger Federer ist das anders, das kann man von außen gut beobachten. Er weiß, dass er es gewinnen wird, wenn er sein bestes Tennis spielt. Er vertraut sich zu hundert Prozent. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass er dann immer diese sensationellen Schläge auspacken kann. Weil er innerlich relaxt ist. Deshalb würde ich zu Zverev sagen: Sascha, ich will, dass du so Tennis spielst, wie es aus deinem Inneren herauskommt. Lass es laufen. Vergiss Sieg oder Niederlage, verbanne die Monster der Zukunft aus deinen Gedanken, je weniger wir uns darüber Gedanken machen, desto besser ist das Ergebnis. Vertraue dir, bleibe im Moment und ziehe durch. Um dein wahres Potenzial zu erreichen, brauchst du einen ruhigen Kopf. Ein ruhiger Geist kann sich fokussieren, aber gleichzeitig nicht das behindern, was der Körper tut. Das würde ich ihm sagen.
Gallwey über seinen Einfluss auf die Golden State Warriors
Alles, was Sie in Ihren Büchern schreiben, gilt genauso für andere Lebensbereiche und natürlich auch generell für den Sport. Tom Brady hat gerade zum siebten Mal den Super Bowl gewonnen. Auch er soll Ihr Buch gelesen haben.
Gallwey: Das stimmt. Brady hat mein Buch gelesen. Er hat auch einen Auszug daraus mal auf seiner Instagram-Seite gepostet. Dabei ging es auch darum, dass wir nur zu Höchstleistungen fähig sind, wenn wir nicht nachdenken und ständig im Kopf kalkulieren. Wenn wir die Unbekümmertheit aus der Kindheit wiedererlangen. Wenn wir Brady spielen sehen, sehen wir jemanden, der mental zu den stärksten Sportlern aller Zeiten gehört. Seine Ruhe ist beeindruckend. Aber Brady ist nicht der Einzige, der von meinem Buch beeinflusst wurde.
Wer noch?
Gallwey: Steve Kerr zum Beispiel. Das muss man sich mal vorstellen. Ein Tennis-Buch hatte seinen Anteil an der Ära der Golden State Warriors, das macht mich ein wenig stolz. Ich weiß gar nicht genau, wie er an mein Buch gekommen ist, aber er hat vieles daraus auf den Basketball übertragen. Wenn Steph Curry seine Jumpshots nimmt und meistens auch trifft, dann lässt er es auch passieren. Auch er denkt darüber nicht nach. Er hat Vertrauen in seinen Wurf, er ruht in sich und drückt ab. Steve hat einmal gesagt, dass er immer zehn Bücher gleichzeitig hat, weil er sie gerne im Freundeskreis verteilt. Er hat es zum ersten Mal gelesen, als er noch Spieler bei den Bulls war. Er hatte einen brutalen Druck in seiner Rolle als Bankspieler. Wenn er aufs Feld kam, musste er die paar Würfe, die er bekam, treffen. Sonst war es keine gute Leistung. Eine meiner Methoden ist es, so zu tun, als ob man ein anderer Spieler wäre. Steve hat das manchmal gemacht und so getan, als ob er Jeff Hornacek wäre. Hornacek war ja damals einer der besten Schützen überhaupt, das hat ihm offenbar geholfen.
Letzte Frage: Was würden Sie als Ihre wichtigste Botschaft bezeichnen?
Gallwey: Sportler verbringen unglaublich viel Zeit damit, ihre tennisspezifischen Fähigkeiten zu entwickeln. Aber wenn ich sie frage, was sie vom Tennis lernen können, bekommt man den Eindruck, dass sie sich mit dieser Frage nie beschäftigt haben. Dabei sind die fundamentalen Dinge beim Lernen gar nicht auf den Sport beschränkt. Wenn wir das verstehen würden, wären Sportler nach der Karriere viel mehr bereit für das, was auf sie als Nächstes zukommt. Wie wir mit uns selbst sprechen, wie wir mit Stress umgehen - das sind alles Erfahrungen, aus denen man lernen kann. Im wahren Leben werden sie ähnliche Hindernisse überwinden und ähnliche Kämpfe mit sich selbst ausfechten müssen, wie auf dem Platz, auf der Piste oder auf dem Fußballfeld. Wenn sie das frühzeitig verstehen, haben sie eine größere Chance, ein erfülltes Leben zu leben. Und darauf kommt es am Ende doch für uns alle an.
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