Mit vier Medaillen haben die deutschen Skirennläufer bei der WM in Cortina d'Ampezzo alle Erwartungen übertroffen, seit der WM 2013 in Schladming gab es kein besseres DSV-Abschneiden mehr. Im Gespräch mit SPOX ordnet Legende Marc Girardelli die deutschen Leistungen ein und zieht ein WM-Fazit.
Außerdem spricht der 57-Jährige, der in seiner Karriere fünfmal den Gesamtweltcup, 46 Weltcuprennen, elf WM-Medaillen und zwei olympische Medaillen gewann, über das große Potenzial von Linus Straßer und erklärt, warum der Skisport dringend die Geschwindigkeit reduzieren müsste.
Marc Girardelli über ...
... die positiven Seiten der WM:
"Es war meiner Meinung nach eine tolle und spannende WM. Gerade der Riesenslalom der Frauen ist mir besonders in Erinnerung geblieben - ich habe selten so ein spannendes Rennen gesehen. Und auch viele andere Rennen waren geprägt von großer Spannung und überraschenden Medaillengewinnern. Es müssen ja nicht immer dieselben Leute gewinnen, es kann auch mal Ausreißer geben, das finde ich toll. Wenn wir diese Spannung und diesen Überraschungsfaktor im Weltcup öfter so erleben würden, müsste sich der Skizirkus keine Sorgen um die Werbung für seinen Sport machen."
... die Kritik am Mannschaftswettbewerb:
"Der Mannschaftswettbewerb ist ein Witz. Den würde ich sofort wieder abschaffen, er ist komplett sinnlos. Ich hätte für Luxemburg startend dort früher gar nicht mitmachen können, weil wir zu wenige Läufer hatten. Ich hätte jedes Rennen selbst fahren müssen. Ich hätte natürlich jedes gewonnen, aber das wäre wohl nicht erlaubt gewesen. (lacht) Auch dass man dort als Ersatzfahrer eine Medaille gewinnen kann, ohne selbst auch nur einen Schwung zu fahren, ist lächerlich. Und Skifahren ist nun mal nicht so ein Mannschaftssport."
... die Parallel-Rennen:
"Das Problem lag im Modus, nicht so sehr an den Pistenverhältnissen. Man hätte den maximalen Vorsprung von einer halben Sekunde einfach auf eine Sekunde hochsetzen müssen, dann wäre es gar nicht so ins Gewicht gefallen, dass der eine Kurs so viel langsamer war. Aber weil man das nicht gemacht hat, war die Katastrophe programmiert. Generell glaube ich schon, dass man Parallel-Rennen interessant gestalten kann. Nicht als eigene Disziplin, aber als Auflockerung im Weltcup. Es muss die Zuschauer interessieren, darauf kommt es an. Im Skisport heißt es immer, Rennen ohne Zuschauer sind ein No-Go, aber wir fahren seit 30 Jahren in Lake Louise ohne Zuschauer, obwohl es ein großes Skigebiet ist. Aber es interessiert die Einheimischen nicht. Wenn das so ist, muss ich die Konsequenzen ziehen und dorthin gehen, wo es die Leute interessiert - nach Skandinavien oder Osteuropa. Die Olympischen Spiele nach Südkorea zu vergeben, war auch keine gute Wahl. Wir haben doch gesehen, wie leer die Tribünen waren, das war komplett sinnlos. Für die Sportler kommt kein Wettkampfgefühl auf und vor dem TV kommt für den Zuschauer auch keine Stimmung an."
... das gute Abschneiden der DSV-Athleten:
"Ich denke, jeder war davon überrascht, auch ich. Ein Romed Baumann ist Ewigkeiten im Weltcup herumgegurkt, aber kaum hat er die deutsche Flagge auf seinem Anzug, geht es plötzlich ab. Das ist unglaublich. Das muss für ihn eine gewaltige Motivation gewesen sein. Klar, er konnte schon immer gut Ski fahren, aber er war nie der Überflieger. Und die Silbermedaille von Andreas Sander war genauso überraschend. Aber beide waren auf den Punkt in Topform. Vier Medaillen zu gewinnen, war keine schlechte Ausbeute für Deutschland. Da kenne ich andere Skinationen, die schlechter abgeschnitten haben."
Girardelli: "Was willst du einem 77-jährigen FIS-Präsidenten erklären?"
... das enttäuschende Ergebnis von Linus Straßer im Slalom:
"Eigentlich dachte ich, dass ihm der Kurs liegen müsste, weil er ähnlich war wie in Zagreb, wo er ja gewonnen hat. Aber man muss ehrlich sagen, dass nach dem Sieg in Zagreb und dem tollen Ergebnis in Adelboden nicht mehr viel kam - danach war seine Form praktisch weg und er hat seine gestiegenen eigenen Erwartungen nicht mehr verkraftet. Dennoch war diese Saison für ihn extrem wichtig. Du musst dieses Gefühl erleben, dass du an einem Tag alle geschlagen hast. Das hat er jetzt. Und technisch hat er alles drauf, er hat gezeigt, dass er super fahren kann. Ob er das Zeug zum Olympiasieger hat? Natürlich hat er das, er hat alle Voraussetzungen."
... den Schlüssel für Straßer auf dem Weg zum regelmäßigen Siegfahrer:
"Es gab in der Geschichte immer wieder Leute, die kurze Zeit ganz oben waren, danach aber in der Versenkung verschwunden sind. Der Schweizer Luca Aerni hat 2017 WM-Gold in der Kombination gewonnen, mit mehr Glück als Verstand, seitdem war er nicht mehr auf der Landkarte. Weil er den Druck nicht verkraftet hat - und so geht es vielen. Es geht darum, wie gut du mit der Angst und Nervosität umgehen kannst. Jeder spürt diese Nervosität. Ich habe mal Ingemar Stenmark gefragt, wie es ihm ergangen ist, weil er doch so viel gewonnen hat. Er meinte zu mir: 'Ich brodele jedes Mal vor dem Start so sehr, dass es mich fast zerreißt.' Aber er konnte damit umgehen. Ich hatte auch Phasen in meiner Karriere, als ich meinen Kopf nicht so unter Kontrolle hatte und meine Leistung nicht bringen konnte, weil ich Angst hatte, zu versagen. Aber es hilft nichts, du musst Eier in der Hose haben. Manche schaffen das besser, manche weniger gut. Ich bin gespannt, wie sich Linus entwickelt."
... das größte Problem im Skisport:
"Wir führen seit 20 Jahren die gleiche Diskussion darüber, dass wir die Geschwindigkeit reduzieren müssen, um die Athleten vor Verletzungen zu schützen. Die Carving-Ski erlauben es den Sportlern, vom Start bis ins Ziel mehr oder weniger auf der Kante zu fahren. Es ist überhaupt kein Vergleich zu uns früher. Wir mussten noch akrobatische Leistungen vollbringen. Wir sind ein Drittel der Kurve hereingerutscht und gedriftet, um dann mit Glück im zweiten Teil 50 Prozent noch auf der Kante rauszuziehen. Das war richtige Akrobatik, jeder musste das so machen. Eigentlich unvorstellbar, dass niemand nicht viel früher auf die Idee gekommen ist, kürzere Ski mit einer stärkeren Taillierung zu erfinden. Aber es ist, wie es ist."
... nötige Veränderungen:
"Wir müssten die Kurssetzung so verändern und die Tordistanzen so verkürzen, dass die Leute wieder rutschen müssen, um die Kurve zu bekommen. Wir müssen diese Rutschphasen provozieren. Dadurch wird das Tempo drastisch reduziert und dadurch sinkt dann auch das Verletzungsrisiko enorm, weil die Belastung auf Hüfte, Knie und Rücken nicht mehr so stark ist. Ich habe schon gehört, dass es dann ja wieder mehr stauben würde und es nicht mehr so schön aussehen würde ... was für ein Blödsinn! Wen interessiert es, ob es da ein bisschen staubt. Das sagen nur Leute, die von nichts eine Ahnung haben. Wir müssten die Geschwindigkeit reduzieren und es entschärfen, gerade auch für die jungen Sportler, die noch im Wachstum sind, wäre das ganz wichtig, um die körperliche Belastung zu reduzieren. Aber was willst du einem 77-jährigen FIS-Präsidenten (Gian Franco Kapser, Anm. d. Red.) und anderen Funktionären erklären, die in der Vergangenheit leben? Sie glauben leider, dass einige kosmetische Veränderungen ausreichen. Das tun sie aber nicht."