Frage: Sie galten als Typ im Fußball, als Querdenker. Fehlen diese Typen heute?
Paul Scharner: Definitiv, weil es das Ausbildungssystem nicht mehr wirklich zulässt. In den ganzen Akademien wird auf die individuelle Förderung gepfiffen. In Österreich werden Spieler so erzogen, dass sie nicht dagegensprechen, wenn der Trainer etwas sagt, dass sie pflegeleicht sind und dass man sie überall hinschieben kann. Das Resultat ist, dass die Spieler sich nie auf eigene Beine stellen und auch im Bedarfsfall nicht auf den Putz hauen und ihre Meinung sagen, geschweige denn aussergewöhnliche Leistungen in schwierigen Momenten und Situationen bringen können.
Frage: Wo haben Sie denn erlebt, dass man Ihre Meinung nicht hören wollte?
Scharner: Überall (lacht), deswegen bin ich ja an die Öffentlichkeit gegangen. Zuerst wurde einem gesagt, dass man die Probleme intern lösen wird. Wenn ich dann in der Öffentlichkeit gestanden bin, weil natürlich nichts gelöst wurde, hat man mich gefragt, warum ich intern nichts angesprochen habe. Ich habe es immer zuerst intern probiert, nur ist leider zu oft nichts passiert.
Frage: Wie war denn der Zusammenhalt in der Mannschaft, wenn Sie irgendwo angeeckt sind? Sie haben ja oft von brutalen Ritualen gesprochen, die man erdulden musste.
Scharner: Das sogenannte "Pastern" war gang und gäbe bei vielen Vereinen, wo einem mit Schlapfen der Hintern versohlt wurde. Da haben sich die "Führungsspieler" bemüßigt gefühlt so die Hierarchie klarzustellen. Nur weil Fußball ein Teamsport ist, heißt das nicht, dass da überall 11 Freunde auf dem Platz stehen. Mit dem Teamgeist hört es sich ganz schnell auf, wenn z.B. 2 Rechtsverteidiger um einen Platz in der Startelf kämpfen. Es muss natürlich jeder auf sich schauen und zusehen, dass er spielt. Wenn er einen bonusbezogenen Vertrag hat und nur auf der Bank sitzt, dann bekommt er ganz einfach weniger Geld. Man muss im Idealfall die Situation herstellen, dass jeder weiß, wenn ich spiele, dann muss ich das Beste für das Team geben, weil es im Fußball schwierig ist alleine Erfolg zu haben. Aber das war öfter nicht der Fall in meiner Karriere.
Frage: Die Vorstellung der 11 Freunde ist also eine Illusion?
Scharner: Wenn man die individuelle Klasse im Team nicht hat, dann muss man sich auf die 11 Freunde berufen. Das war aber das letzte Mal im Jahre Schnee so (lacht).
Frage: Sie waren in Ihrer Karriere immer wieder Beleidigungen ausgesetzt, Peter Pacult hat sie z.B. einmal einen "selbstverliebten Gockel, der jeden Tag mit einer neuen Frisur kommt" genannt. Wie sind Sie damit umgegangen?
Scharner: Da soll jeder heutzutage ein mal in den Fernseher schauen. Wenn ich mir da die Frisuren der Fußballer ansehe, kann ich über sowas nur lachen. Im Ernst, als junger Spieler hat es natürlich ein bisschen weh getan, aber man entwickelt irgendwann eine Resistenz dagegen und es wird einem ganz einfach egal.
Frage: Glauben Sie, dass die Profis heutzutage zu weit entfernt sind vom "realen Leben"? Leben sie in einer Blase?
Scharner: Auf jeden Fall, das war bei mir dasselbe. Während der Karriere leben die Spieler definitiv in einer Parallelwelt. Man muss sich nur Statistiken zu Ex-Fußballern ansehen. In England lassen sich 80% der Fußballer nach der Karriere scheiden. Das ist ja irre. Und das nächste Problem ist der Verdienst. Zuerst baut man sich ein Leben auf, dass sich ein Normalsterblicher nie leisten kann und das nur aus Luxus besteht und dann ist das regelmäßige Einkommen plötzlich weg. Das kann einen ganz blöd erwischen, wenn man nicht vorbereitet ist.
Frage: Wie sollte man denn vorsorgen?
Scharner: Schon während der Karriere sollte man sich darüber Gedanken machen. Beratung auch nach der Karriere, damit man nachher nicht ins Bodenlose stürzt.
Frage: Haben Sie während der Karriere vorgesorgt?
Scharner: Zu wenig. Diese Erfahrungen möchte ich ebenso weitergeben.
Frage: Glauben Sie, dass im Fußball gedopt wird?
Scharner: Ich denke schon, ja. Ich habe es nicht direkt miterlebt, außer, dass uns Schmerzcocktails gegeben wurden, auf die ich aber gerne verzichtet habe. Damit habe ich nichts anfangen können, weil es mich nur betäubt hätte. Der Umgang mit Schmerzmitteln und Substanzen wird in jeder Gesellschaft anders aufgefasst. In England ist es ganz normal, dass schon Kleinkindern und Säuglingen Schmerzmittel gegeben werden, damit das Kind ruhiger ist und besser schläft. Und die Einstellung hat auch den Profisport beeinflusst. Ich habe mich oft gefragt, wie meine Kollegen nach den Cocktails überhaupt spielen konnten.
Frage: Weiß man da als Profi überhaupt noch, was einem verabreicht wird?
Scharner: Der Daniel Agger, der bei Liverpool gespielt hat, ist ein gutes Beispiel. Der hat über Jahre alles genommen, was ihm die medizinische Abteilung verabreicht hat. Dann ist er zurück nach Dänemark gekommen, hat vor einem Spiel Medikamente eingenommen, wie er es gewohnt war und auf den Weg zum Match ist er im Bus eingeschlafen. Dann hat er sich wieder aufputschen müssen und während des Matches war er dann so voll mit Substanzen, dass er kollabiert ist, weil sein Körper einfach genug hatte. Er hat dann später in einem Interview gesagt, dass man vielleicht nicht alles nehmen sollte, was einem gegeben wird. Das ist ja das Problem, viele Clubs quetschen die Spieler aus und wenn es nicht mehr geht, werden sie verabschiedet. Da sind wir wieder beim Thema der fehlenden Querdenker. Natürlich ist es ein Karriererisiko, wenn man nicht alles tut, was einem gesagt wird, aber die Gesundheit ist mindestens genauso wichtig. Die Spieler sollen nicht denken: Der Verein weiß alles und der Verein darf alles.
Frage: Was halten Sie denn von Machtpersönlichkeiten wie Sepp Blatter?
Scharner: Was hältst du denn von dem Spruch, dass der Fisch am Kopf beginnt zu stinken (lacht)? Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie es in den unteren Etagen der Fifa aussieht, wenn die Führungspositionen in dem Ausmaß in Korruption versinken.
Frage: Sollten die Nationalteams der WM 2022 in Katar Ihrer Meinung nach, aufgrund der Menschenrechtsverletzungen, die dort alltäglich sind, fernbleiben?
Scharner: Da fand ich es immer besonders amüsant, wenn der Sepp Blatter gemeint hat, dass der Fußball unpolitisch wäre. Aber die WM findet in einem Land statt, wo tausende Leute im Zuge der Vorbereitungen bereits gestorben sind und sterben - das wurde ja nicht eingestellt. Das ist das Problem einer generellen Entwicklung. Nämlich, dass alles was Kommerz ist, sakrosankt ist - koste es was es wolle.
Frage: Da wären wir wieder bei den Querdenkern. Sollte man da nicht als Spieler dagegen aufstehen?
Scharner: Natürlich, aber durch den Systemzwang hast du halt ein Problem. Stehst du dagegen auf, musst du die Konsequenzen tragen können. Das kann auch dein Karriereende bedeuten. Ich kann mir da keine Spieler vorstellen, die bereit wären ihre Karriere aufs Spiel zu setzen.
Frage: Jose Mourinho spricht immer wieder davon, dass gewisse Teams während des Spiels bevorzugt werden. Teilen Sie diese Meinung?
Scharner: Wie zum Beispiel Chelsea letztens wieder (lacht)? Ja, denke ich auch. Ich habe das in England selbst erleben können, dass man als kleines Team oft gar keine Chance mehr hat. Da werden viele kleine Entscheidungen von den Schiedsrichtern getroffen, die dann große Auswirkungen haben. Die großen Vereine werden bevorzugt, weil sie bei einer so großen Kommerzialisierung für die Liga besser vermarktbar sind. Leicester hat zwar letztes Jahr das Machtgefüge gesprengt, aber die haben dieses Jahr von Anfang an keine Chance mehr gehabt, weil es von der englischen Schiedsrichterkommission eine Regeländerung gab. Die Stärke der beiden Hünen in der Verteidigung, Morgan und Huth, war, dass sie die Stürmer die ganze Zeit mit ihren Händen bearbeitet haben. Mittlerweile ist das sofort eine gelbe Karte bzw. ein Foul, weswegen sie das nicht mehr machen können. Huth hat letztens darüber ein Interview gegeben, in dem er genau das angesprochen hat. Das hat sie ihrer großen Stärke beraubt. Nur um das klarzustellen: Mir gefällt die Regelung grundsätzlich, weil ich als Spieler auch kein Ringer auf dem Platz war, aber es hat für mich einen seltsamen Beigeschmack.
Frage: Sie waren jahrelang Stammspieler bei Wigan Athletic. Was sagen Sie dazu, dass Trainer Warren Joyce nach nur 134 Tagen entlassen wurde?
Scharner: Da hat viel mitgespielt. Zuerst steigt man mit einem Punktrekord in die Championship auf, dann wird das komplette Team fast ausgewechselt, indem 14 neue Spieler kommen. Das signalisiert natürlich, dass der Führung die Aufstiegsmannschaft nicht gut genug für die Liga ist. Dann sind die Spieler, die zuerst noch euphorisiert durch den Aufstieg waren, dementsprechend frustriert. Dann wird noch der Aufstiegstrainer rausgeschmissen. Das ist summa summarum einfach Fehlplanung. Bei Warren Joyce war das Problem, dass er mit gesundheitlichen Problemen gekommen ist und somit nicht immer bei der Mannschaft sein konnte. Das hat alles dazu beigetragen, dass man jetzt wieder abstiegsgefährdet ist. Das große Problem, vor dem Wigan steht ist, dass nach der Saison die Parachute Payments aufhören, mit denen die Premier League die abgestiegenen Teams subventioniert, damit sie nicht ins Bodenlose fallen, weil die Budgetunterschiede so groß sind.
Frage: Glauben Sie, dass das Team es trotzdem schafft die Klasse zu halten?
Scharner: Es sind jetzt 5 Punkte Rückstand auf die Nichtabstiegszone. Und du musst ja in der Championship circa 50 Punkte erreichen, damit du nicht absteigst. Derzeit haben sie 34 Punkte bei 9 ausstehenden Spielen. Da kann man sich ausrechnen, wie schwierig das wird. Mit 50 Punkten wird man in Österreich ja manchmal sogar Meister (lacht).
Frage: Die nächsten Gegner sind Newcastle und Aston Villa. Wie wichtig wären 2 Siege für das Team, so kurz nach der Entlassung des Trainers?
Scharner: Wie gesagt, es zählen nicht nur die nächsten 2 Spiele. Alle Spiele sind entscheidend. In solchen Situationen braucht es einen Lauf, mit dem man 3, 4 Spiele hintereinander gewinnt, sonst wird es ganz brenzlig.
Frage: Wie Sie dort gespielt haben, hat man noch den FA-Cup gewonnen. War das der größte Erfolg Ihrer Karriere?
Scharner: Mit Sicherheit. Der FA-Cup ist ja der älteste Fußballwettbewerb der Welt und den dann vor versammelter Familie im ausverkauften Wembley-Stadion zu gewinnen, ist mit nichts zu vergleichen. Außerdem war es eine Entschädigung für die vielen familiären Entbehrungen während meiner Karriere. Somit war es ein perfekter Abschluss fürmich.
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Frage: Wer war bei Wigan Ihr bester Mitspieler?
Scharner: Antonio Valencia, der ja dann zu Recht zu Manchester United gegangen ist.
Frage: Wie erklären sie sich allgemein das Schwächeln der englischen Clubs auf internationalem Niveau?
Scharner: Das ist nicht nur auf den Spielstil zurückzuführen, sondern auch auf die Gehaltsstruktur in England. Du bekommst alleine für den Premier League Spielerstatus sehr viel Geld. Wenn es hart auf hart kommt, gehen viele nicht über ihre Grenzen, weil das Geld sowieso auf ihr Konto kommt. Da nimmt dir das hohe Gehalt die Motivation. Man muss sich nur Manchester City ansehen. Manchester ist wirklich nicht die schönste Region zum Wohnen, noch dazu hat der Verein nicht das Ausmaß der Tradition, wie zum Beispiel Liverpool. Also warum spielen die meisten Spieler dort?
Frage: Sie waren damals einer der ersten Österreicher in der Premier League. Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Liga, vor allem hinsichtlich der finanziellen Möglichkeiten?
Scharner: Meiner Meinung nach leidet das Spiel darunter. Zuviel Geld ist ein Motivationskiller. Man müsste es auf einem Bonussystem aufbauen, aber das ist in England eher selten.
Frage: In China sehen wir derzeit eine ähnliche Entwicklung, die die Premier League sogar noch übertrifft. Wären Sie damals nach China gegangen, wenn der Markt ähnlich aufgestellt wäre wie heutzutage?
Scharner: Nein, weil ich das meiner Familie nicht angetan hätte. Ich habe immer gesagt, dass meine östlichste Grenze die österreichische ist (lacht). Im Ernst, nein, obwohl Angebote aus Russland da gewesen wären, ist das für mich kein Thema gewesen. Keine Karriere ohne meine Familie, die damals schon fünfköpfig war.
Frage: Ist die Premier League die beste Liga der Welt?
Scharner: Das ist immer eine Frage der Sichtweise. Nimmt man die finanzielle Stärke, dann ist es eindeutig England. Bewertet man die internationalen Erfolge, dann hat Spanien die beste Liga.
Frage: Für England spricht die Ausgeglichenheit der Liga.
Scharner: Das stimmt natürlich. Man hat ja mittlerweile 7 Teams, die um den Titel spielen können. Bei mir gab es damals nur die Big Four und das wars. Da spielt natürlich wieder das Geld der Investoren mit, wenn man sich z.B. Manchester City ansieht.
Frage: Wie sehen Sie die Entwicklung der englischen Nationalmannschaft? Bei der EM musste man ja gegen den Fußballzwerg Island die Segel streichen.
Scharner: Naja, ein junges Team mit einem alten Manager kann nicht gutgehen (lacht). Ich kenne Roy Hodgson sehr gut. Sagen wir es mal so: Gute Freunde, die bei einem Kaffee zusammensitzen, sind wir nie geworden (lacht).
Frage: Österreich kann derzeit auf eine sehr gute Nachwuchsarbeit blicken. Die Jungbullen haben gerade einen Erfolgslauf in der Youth League gestartet und immer mehr junge Spieler wechseln ins Ausland. Nimmt Österreich hier bereits eine Vorreiterrolle ein?
Scharner: Es sieht im österreichischen Nachwuchs im Grossen und Ganzen gut aus. Wir können im Nachwuchs international mithalten, der Übergang vom Jugendtalent zum Profi wird aber in Österreich oft verpasst oder schlecht betreut. Die Bullenakademie nimmt sicher eine Vorreiterrolle ein, auch international. Da ist Infrastrukturell und Finanztechnisch alles abgedeckt und die Red Bull Struktur sucht in Österreich sowieso ihresgleichen.
Frage: Woran scheitert es da beim Übergang vom Talent zum Profi?
Scharner: Ich denke, dass es da eine Grauzone gibt, die nicht effizient abgefangen wird. Im Jugendbereich hast du deine Vertrauenspersonen, das sind meistens deine Trainer.Wenn du von dort wegkommst, sind auch deine Vertrauenspersonen dahin. Die zuständigen Spielervermittler stellen für mich keine Vertrauensperson dar, weil die wieder nur auf Provisionsbasis arbeiten und den Spieler schnellstmöglich irgendwohin transferieren wollen. Und da fehlt wieder die Mentalitätbei den jungen Spielern, dass sie mal aufstehen und ihre Meinung sagen, weil sie dazu bewusst nicht erzogen werden. Aber Ausnahmen bestätigen die Regel.
Frage: Was ist da das Mentalitätsproblem?
Scharner: Wenn man Karriere machen will, muss man sich bewusst sein, dass man vieles hintenanstellen muss. Der Valentin (Hobel, Anm. d. Red.) hat mir das immer so erklärt: Die Karriere ist wie ein Gang in die Wüste und da musst du dich durchbeißen. Wenn man schon zufrieden ist, wenn man in der österreichischen Bundesliga spielt, dann sollte ich mich fragen, ob ich wirklich Profifußballer sein will.
Frage: Sollten wir uns in Österreich eingestehen, dass wir eine Ausbildungsliga sind?
Scharner: Auf jeden Fall, aber das tun wir in Österreich bekanntermaßen nicht. Die Schweiz hat das längst begriffen und ihr System vor 15 Jahren umgestellt. Deren Prämisse ist es, dass sie sehr gute Spieler ausbilden und dann ins Ausland verkaufen. Wir in Österreich sind da immer noch ein Entwicklungsland und versuchen lieber irgendwelche Reformen, die nichts bringen. Meiner Meinung nach wäre eine Alpenliga mit der Schweiz sehr interessant.
Frage: Red Bull sticht heraus mit seiner Jugendarbeit und ist derzeit in Deutschland sehr erfolgreich. Verstehen Sie die Kritik von Martin Hinteregger an Red Bull?
Scharner: Er ist zweifellos einer der "Typen", die dem Fußball heute fehlen (lacht). Ich kann ihn gut verstehen. Er wollte in Salzburg bleiben und dort Erfolg haben und dann werden dem Team regelmäßig die besten Spieler weggenommen. Die meisten sagen dazu gar nichts, aber hin und wieder gibt es solche Spieler wie den Hinteregger, die darauf pfeifen, was ihnen gesagt wird. Für ihn persönlich war der Schritt sicher der richtige. Das mindert aber nicht die gute Arbeit, die Red Bull im Fußball leistet.
Frage: Beim österreichischen Nationalteam setzt Marcel Koller traditionell mehr auf Kontinuität, statt auf formstarke Spieler. Wie sehen Sie diese Kaderpolitik?
Scharner: Er verfolgt diesen Plan, um Abhängigkeiten aufzubauen. Zu Beginn seiner Zeit waren die Hälfte der Spieler bei ihren Clubs keine Stammspieler und da hat er ihnen versprochen, dass er zu ihnen steht, auch wenn es mal nicht so läuft, dafür machst du das, was ich will und stehst auch zu mir. Wenn es dann aber zu einer EM-Endrunde geht und es spielen nicht die fitten und formstarken Spieler, weil er sich diese gegenseitigen Abhängigkeiten aufgebaut hat, wird das zu einem Problem. Und dieses Problem war bei der EM offensichtlich.
Frage: Wie sehen Sie denn die derzeitige Situation? EM-Aus, jetzt nur 4. in der Qualifikationsgruppe, was ist da falsch gelaufen?
Scharner: Eigentlich lief vieles falsch ab dem Moment, in dem wir uns qualifiziert haben. Ab dem Moment mussten wir eigentlich nichts mehr erreichen, weil die Qualifikation in Österreich wie der EM-Titelverkauft wurde.. Dazu kam eine Vorbereitung die nicht optimal geplant war, weil sie zu sehr auf Regeneration und Rahmenprogramm abgezielt hat und dann waren da Spieler dabei, die eben nicht in Form , verletzt waren oder die EM dazu benötigten, um einen neuen Vertrag bei einem besseren Klub zu erspielen.
Frage: Ist die WM-Qualifikation noch zu schaffen?
Scharner: Das hängt von den nächsten 2 Spielen ab. Wenn sich die ersten 4 weiterhin die Punkte wegnehmen und keiner davonzieht, wovon ich in der Gruppe nicht ausgehe, dann können wir es auf jeden Fall noch schaffen.
Frage: Wer sind die Schlüsselspieler im Team?
Scharner: Mir gefällt der Alessandro Schöpf sehr gut, der meiner Meinung nach noch viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. Ebenso der Stefan Ilsanker, der bei Leipzig regelmäßig seine Leistung bringt und auch im Team eine fixe Rolle spielen sollte. Dragovic, Junuzovic, Baumgartlinger sind natürlich auch gefordert Verantwortung zu übernehmen. Geschweige denn der David ( Alaba, Anm.d.Red.), er sollte eben auch einmal eine andere Position spielen. Mittlerweile hat das ja sogar der Teamchef begriffen. Er hat zwar ein paar Jahre gebraucht, aber mittlerweile scheint das angekommenzu sein.
Frage: Wie sehen Sie David Alaba und Marko Arnautovic?
Scharner: Beim Arnautovic würde auf jeden Fall noch einiges mehr möglich sein. Beim Alaba ist das offensichtliche Problem, dass er bei den Bayern in der Verteidigung spielt und beim Team nicht. Mit solchen Experimenten, wie gegen Serbien, wo der Kevin Wimmer Linksverteidiger gespielt hat, tut Koller der Mannschaft und Kevin nichts Gutes. Aber da sind wir wieder beim Thema, dass die Spieler den Mund nicht aufmachen und einfachmal ehrlich kundtun, dass sie zum Beispiel diese Position gar nicht spielen können oder wollen.
Frage: Denken Sie, dass Marcel Koller noch der richtige Mann für das Team ist oder sind seine Ideen und Impulse bereits abgegriffen?
Scharner: Die letzte Qualifikation hat er ja gut geschafft, aber ich bezweifle, dass er der richtige Mann für eine Endrunde ist. Wie ist denn die EM ausgegangen? Nicht besonders erfolgreich, wenn ich mich richtig erinnere. Scheinbar kann er mit der speziellen Situation einer Endrunde nicht wirklich umgehen.
Frage: Aber das ist doch eigentlich verwunderlich bei dem Potenzial, dass in der Mannschaft steckt?
Scharner: Ich sehe das Problem unter anderem darin, dass sich die Spieler nicht individuell entwickeln und ins Team einbringen können. Ich habe das selbst miterlebt, dass die Spieler mehr oder weniger gar nicht einbezogen werden und sowas ist für mich ein Führungsstil, der über lange Sicht nicht funktioniert. Da bekommen die Spieler irgendwann das Gefühl, dass nichts weitergeht und sie sich nicht entfalten können und der Trainer der oder das Wichtigste ist.
Frage: Was ist damals zwischen Ihnen und Marcel Koller passiert?
Scharner: Der große Knacks war genau dieses Thema, dass er gesagt hat: Das ist deine Position, damit bist du zufrieden und sagst auch nix. Und wenn mir jemand sagt, dass ich nach 200 Premier League-Spielen nicht genug Spielpraxis habe, dann fühl ich mich am falschen Ort (lacht).
Frage: David Alaba besteht ja auf seine Position und setzt sich gegen den Trainer durch.
Scharner: Der David hat ein besonderes Standing im Team. Als Champions League-Sieger und mehrfacher deutscher Meister hat er einfach eine gewisse Position, die es ihm erlaubt seinen Kopf durchzusetzen. Da ist er aber auch der Einzige, der das bei Marcel Koller darf. Beim Spiel gegen Irland war das interessant anzusehen. Stefan Ilsanker wird für Kevin Wimmer eingewechselt und versucht dem David klarzumachen, dass er hinten links spielen muss. Der David hat das einfach verweigert und ist im Mittelfeld geblieben, woraufhin der Ilsanker Linksverteidiger spielen musste. Das wurde von niemanden an die große Glocke gehängt und auch nicht von den Medien aufgegriffen.
Frage: Hat sich im Management seit Ihrer Entlassung aus dem Team etwas verändert?
Scharner: Grundsätzlich haben wir uns durch die vielen Legionäre immens weiterentwickelt, das hat Marcel Koller auch sehr in die Karten gespielt. Man muss aber fair sein und sagen, dass der Teamchef schon mit einem dezidierten Plan und einer Vorstellung, wie man spielen sollte, gekommen ist und dieses Konzept zu einem gewissen Teil auch sehr erfolgreich umgesetzt hat.Dass ein Trainer ein Konzept und einen Plan hat, hat es davor im Team überhaupt nicht gegeben.
Frage: Sie hatten ja nicht nur mit Marcel Koller, sondern auch mit Jogi Löw Probleme, unter anderem wegen Ihrer Position auf dem Feld. Wie war dieses Verhältnis zum jetzigen Bundestrainer von Deutschland?
Scharner: Wir hatten zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal Kontakt und da war alles in Ordnung. Er hat auch nach dem Vorfall mit der verweigerten Einwechslung meinerseits ein Interview gegeben, in dem er mich nicht nur negativ beleuchtet hat. Er konnte damals nicht anders als mich zu suspendieren, das respektiere ich auch. Ein halbes Jahr nach dem Vorfall hat er etwas Ähnliches getan. Nachdem ihm der Günther Kronsteiner von Frank Stronach vor die Nase gesetzt wurde, hat er auch gesagt, mir reicht es und ich gehe.
Frage: Wie wichtig ist es als Spieler, dass man seine ideale Position kennt und sich auch durchsetzt, um diese spielen zu können?
Scharner: Bei mir damals ist es darum gegangen, dass ich nicht mehr auf 7 verschiedenen Positionen im Feld herumgeschoben werden wollte. Da reicht es irgendwann einmal, weil man sich nie auf etwas spezialisieren kann. Aber das Problem hatte ich bis zum Ende meiner Karriere. Kaum hatte ich mich für eine Position entschieden, wollte der Trainer, das sich die andere spiele und umgekehrt (lacht).
Frage: Da fälltmir das 3-5-2-System ein, dass in aller Munde ist. Wäre das Ihr ideales Spielsystem gewesen?
Scharner: 2013 bei Wigan wurde das auch gespielt. Als Innenverteidiger, der auch den Sechser spielt, ist das natürlich ideal gewesen, weil ich von hinten als Libero das Spiel eröffnen konnte.
Frage: Sehen wir Paul Scharner bald als Trainer oder vielleicht sogar Nationaltrainer?
Scharner: Ich weiß nicht, ob sich das als Nachfolger von Marcel Koller ausgeht. Noch habe ich nicht die Qualifikationen, die man benötigt und ich weiß nicht, ob die derzeitigen Verantwortlichen beim ÖFB mit mir als Nationaltrainer einverstanden wären (lacht). Aber wie heißt es so schön: Sag niemals nie.
Frage: Wie sehen Sie denn den Absturz des HSV in den letzten Jahren? Hat der HSV ein unüberwindbares strukturelles Problem?
Scharner: Ich kann nicht sagen, ob es ein unüberwindbares Problem ist. Heribert Bruchhagen als Verantwortlichen zu holen, war jedoch sicher die richtige Entscheidung. Das große Problem in Hamburg ist, dass es zu viele Leute gibt, die mitreden und ihren Senf dazugeben wollen. Das zu überwinden ist sicher die größte Herausforderung. Derzeit sieht es ja fast nach einer Trendwende beim HSV aus, den Ausrutscher beim FC Bayern ausgenommen.
Frage: Die Beziehung zwischen Ihnen und dem HSV war eine leidgeprüfte. Was haben Sie falsch gemacht und welche Fehler wurden auf Seiten desVereins begangen?
Scharner: Mein Fehler war sich anfangs zu verletzen (lacht). Ich bin damals als Garant für den Nichtabstieg
geholt worden. Dieser Garant war ich mehr oder weniger bei Wigan und bei West Bromwich. Mit dem Trainer Thorsten Fink hatte ich leider kein besonders gutes Verhältnis, noch dazu hat dann ein Machtkampf zwischen ihm und dem Sportdirektor Frank Arnesen angefangen. Plötzlich waren die Spieler, die von Frank Arnesen geholt wurden, außen vor und es haben nur mehr die Spieler gespielt, die Thorsten Fink geholt hat.Das hat dann damit geendet, dass Frank Arnesen rausgeschmissen wurde und Thorsten Fink der neue starke Mann war. Das Paradoxe war, dass er Oliver Kreuzer als neuen Sportdirektor wollte, der ihn dann im Endeffekt gefeuert hat. Den Schock stelle ich mir sehr groß vor, wenn du einen guten Bekannten als Sportdirektor holst und der dich dann raus wirft.
Frage: Gab es in der Mannschaft Probleme mit anderen Spielern?
Scharner: Eigentlich nur mit Heiko Westermann, der im gesamten Verein eine riesige Lobby hatte. Ich glaube, ich hatte noch nie einen Mitspieler, der so viele Tore verschuldet hat wie er und trotzdem immer gesetzt war. Von den 60 Toren, die wir bekommen haben, hat er gefühlt 30 verschuldet. Da gibt es ein interessantes Video, das gerade im Netz kursiert. Ich glaube das heißt "Slapstick Westermann" oder so ähnlich.
Frage: Bereuen Sie die Zeit beim HSV?
Scharner: Nein, es war eine schöne Zeit mit der Familie in einer wunderschönen Stadt. Privat haben wir viele Freunde gewonnen. Außerdem wäre ich nicht FA-Cup-Sieger, wenn es beim HSV funktioniert hätte (lacht).
Frage: Eine kuriose Frage zum Abschluss: Sie waren für Ihre extravaganten Frisuren bekannt. Welche Frisur gefällt Ihnen heutzutage am besten?
Scharner: Den Pogba-Stil find ich am lustigsten, der vom Arturo Vidal ist nicht unbedingt meins (lacht).