SPOX: Obwohl Sie drei ihrer vier Weltcup-Siege im Riesenslalom feierten, galten Sie als Allrounder. Warum gibt es heute - mit wenigen Ausnahmen bei den Damen - keine klassischen Allrounder mehr?
Albrecht: Zu Beginn der Nullerjahre wurden die Carving-Skier eingeführt. Zu dieser Zeit konnte man mit dem richtigen Gefühl für die Kräfte in allen Disziplinen schnell fahren. Mit etwas mehr Training gab es eine Handvoll Läufer, die alle Disziplinen fuhren. Für mich war klar: Ich fahre gerne Ski, mir ist es egal ob es eine Abfahrt oder ein Slalom ist. Zu Beginn war ich noch optimistisch, es klappte ganz gut. Doch dann nahm die FIS enorme Änderungen vor.
SPOX: Änderungen im Material?
Albrecht: Zunächst im Slalom, dann aber auch im Riesenslalom. Man muss sich vorstellen: In Zeiten, als Bode Miller Slaloms gewann, gab es Torabstände von rund 15 Metern. Heute stehen wir bei zehn Metern. Es ist also etwas langsamer geworden. Jetzt ist es eine Millimeterarbeit, heutzutage gibt es im Slalom überhaupt keinen Spielraum mehr. Diese Rennen brauchen wesentlich mehr Perfektion und genaues Fahren.
SPOX: Als Allrounder gingen Sie in der Saison 2008/09 auf den Gesamtweltcup los, ehe am 22. Jänner 2009 in Kitzbühel der folgenschwere Sturz beim Zielsprung passierte. Wie viele Schutzengel hatten Sie, dass Sie als gesunder Mensch aus dieser Geschichte hervorgegangen sind?
Albrecht: Eine Menge. Ich überlebte den Sturz nur knapp. Wäre der Unfall in gewissen anderen Ländern passiert, wäre ich nicht mehr hier. Drei Wochen bangte man um mein Leben. Schließlich kam ich wieder zu Bewusstsein und musste mehrere Monate im Spital bleiben. Ich machte aber schnell Fortschritte und habe heute das große Glück, trotz meines schweren Schädel-Hirn-Traumas kaum bleibende Schäden davongetragen zu haben. Der Normalfall sieht nämlich deutlich schlechter aus.
Daniel Albrecht über die Folgen des Kitz-Sturzes
SPOX: Inwiefern macht sich der Sturz in Ihrem heutigen Leben noch bemerkbar?
Albrecht: Ich habe heute das Gefühl zu wissen, wie mein Leben vor dem Sturz aussah. Die Überzeugung, immer alles im Griff zu habe, fehlt heute manchmal. Leute mit Hirnverletzungen ermüden auch sehr schnell. Das liegt daran, dass man automatisierte Abläufe ganz bewusst wieder durchführen muss. Dies kostet sehr viel Energie, die reicht dann vielleicht für eine Stunde. Ein normaler Tag kann daher schnell anstrengend werden.
SPOX: Haben Sie auch Erinnerungslücken?
Albrecht: Das Abfahrtstraining von Kitzbühel ist noch voll präsent. Was mir fehlt, ist der Tag von dem Sturz. Hinzu kommen die drei Wochen im Koma, sowie vier, fünf weitere Wochen nach dem Koma.
SPOX: Sind solche Symptome für diese Art der Verletzung normal?
Albrecht: Absolut. Glücklicherweise fehlt mir danach recht wenig. Es gibt Patienten, deren Gedächtnis monate- oder jahrelang gelöscht ist. Ich weiß aber heute wieder, wie es war, ich zu sein. Sich daran wieder erinnern zu können, ist ein wunderbares Gefühl.
SPOX: Gab es einen bestimmten Moment, an dem Sie diese Erinnerungen wiederfanden?
Albrecht: Es geht alles ganz langsam, über Monate und Jahre. Man kann sich die Dinge nicht einfach erzählen lassen, sondern muss die Gefühle suchen und bestimmte Fragen selbst stellen, etwa jene nach meinem Namen.
SPOX: Sie wussten nicht, wie Sie heißen?
Albrecht: Ich lag im Spital und starrte stundenlang an die weiße Decke. Beim Essen begannen die ersten Gespräche, in der ich nach Namen und Alter gefragt wurde. Das musste ich alles selbst suchen. Ich konnte inzwischen glücklicherweise alle meine inneren Fragen beantworten.
SPOX: Für viele Menschen klingt das Szenario der totalen Unwissenheit unheimlich. Erschraken Sie nicht vor sich selbst?
Albrecht: (lacht) Ich fand es nicht unheimlich, ich wusste ja nicht, dass das nicht normal war. Am Anfang fühlte ich mich wie ein unbekümmertes Kind. Der Alltag verlief ganz ohne Druck, Vorgaben oder Vergleichswerte. Niemand wollte mich verändern, ich konnte also das tun, was ich für richtig hielt. Ich war immer schon ein selbständiger, optimistischer Typ, daher war die Zeit im Spital ganz angenehm. Auch deshalb konnte ich die Erinnerungslücken ganz gut schließen.
SPOX: Wie ging es Ihnen im Umgang mit Ihrer Familie?
Albrecht: Meine Frau war die wichtigste Person in meiner Rehabilitation. Sie informierte sich viel über Menschen mit Hirntraumata und akzeptierte die Situation, wie sie war. Sie versuchte, mir zu helfen, ohne Druck aufzubauen. Ich wusste zum Teil gar nicht, wer sie war. Ich merkte aber, dass ich ein gutes Gefühl hatte, wenn sie in meinem Umfeld war.
SPOX: Wie konnten sie ihr gegenseitiges Vertrauen zueinander wiederfinden?
Albrecht: Für sie war es schwieriger als für mich. Ich fühlte mich in ihrer Gegenwart einfach wohl. Sie allerdings hatte plötzlich jemanden an ihrer Seite, der von seiner Entwicklung wie ein kleines Kind war. Sie musste mir mit allem helfen. Das ist schwer nachvollziehbar für Außenstehende.
SPOX: Inwiefern half Ihnen Ihre Frau in dieser Situation?
Albrecht: Sie half mir, mich im Alltag zurechtzufinden. Ohne Druck, ohne Ungeduld, ohne Vorwürfe. Wir hatten es lustig und sie schaffte es, dass ich mich selbstbestimmt fühlte, obwohl dem nicht so war. Heute erkenne ich dieses Gefühl zum Teil bei meiner Tochter wieder, wenn sie etwas unbedingt allein tun will, obwohl ihr eigentlich das Können und die Erfahrung dazu fehlt. Es gibt aber einen großen Unterschied.
SPOX: Welchen?
Albrecht: Machen Kinder Fehler, hilft man ihnen, daraus zu lernen. Man akzeptiert, dass manches nicht gelingt. Bei Erwachsenen werden Fehler schnell stigmatisiert. Man wird bestraft oder verurteilt. Als Vater und Trainer nehme ich meine eigenen Erfahrungen zum Vorbild, wie ich mit anderen umgehe. Ich begleite mehr als dass ich eingreife und entscheide.
SPOX: Können Sie ein Beispiel geben, wie Ihr Alltag im Spital kurz nach dem Koma aussah?
Albrecht: Ich kann mich zum Glück nicht an alles erinnern. Ich musste die einfachsten Alltagsdinge neu lernen. Zum Beispiel wie man sich duscht. Ich wusste auch nicht, wo sich eine Dusche normalerweise befindet. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass ich jeden Tag - über mehrere Wochen - nach der Dusche fragte. Dabei war sie gleich gegenüber von meinem Zimmer. In meiner Erinnerung ist es so, dass ich ein Mal danach fragte, danach wusste ich es. Fakt ist, dass diese Information mehrmals gelöscht wurde. Das ging mir mit allem so.
SPOX: Eine ganz praktische Frage: Mussten Sie Ihre Behandlungen selbst bezahlen?
Albrecht: In der Schweiz bist du als Rennfahrer selbstständig erwerbstätig und trägst allein das finanzielle Risiko. Das heisst: Fährst du schlecht, verdienst du auch kaum etwas. Skifahrer müssen sich über die Krankenkasse unfallversichern lassen. Für längere Ausfälle schliessen manche zusätzlich teure Taggeldversicherungen ab. Sobald du wieder anfängst, rennmässig zu trainieren, fällt dieser Tagessatz aber wieder weg.