"Der Kindergarten war der größte Schock"

Bastian Strobl
02. November 201220:02
Firat Arslan musste in seinem Leben viele Schicksalsschläge hinnehmenGetty
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Am Samstag trifft Firat Arslan in Halle auf Cruisergewichts-Weltmeister Marco Huck (Sa., 23.35 Uhr im LIVE-TICKER). Davor spricht der "Löwe" im Interview über schmerzhafte Spitznamen im Kindergarten, seine türkischen Wurzeln und die schwärzesten Stunden seiner Karriere.

SPOX: Herr Arslan, am Samstag steht für Sie der WM-Kampf gegen Marco Huck an. Ist es als mittlerweile 42-Jähriger Ihre letzte Chance, noch mal Weltmeister zu werden?

Firat Arslan: Das weiß ich nicht, damit beschäftige ich mich aber auch nicht großartig. Es kommt nicht auf mein Alter an, sondern darauf, wie ich mich fühle. Und da muss ich sagen: Ich war wohl noch nie so fit wie jetzt. Ich weiß, dass ich mir meinen Traum, noch mal Weltmeister zu werden, erfüllen kann, auch wenn Marco natürlich Favorit ist.

SPOX: Wo sehen Sie Ihre Vorteile im Vergleich mit Huck?

Arslan: Ich glaube einfach, dass ich härter und fleißiger gearbeitet habe als er. Nicht nur in der Vorbereitung auf diesen Kampf, sondern über die letzten Jahre hinweg.

SPOX: Huck könnte sich mit einem Sieg zum Super-Champion küren. Spielt das eine Rolle für Sie?

Arslan: Nein, das ist zweitrangig. Außerdem kann ich auch Geschichte schreiben. Sollte ich gewinnen, wäre ich wohl der älteste deutsche Weltmeister. Ich kann mich zumindest nicht an einen älteren erinnern. Das hätte wohl einen größeren Stellenwert als Marcos Super-Champion-Titel.

SPOX: Bei den öffentlichen Terminen im Vorfeld herrschte viel Respekt zwischen Ihnen und Huck. Sind Sie kein Fan von Trash Talk?

Arslan: Ich respektiere jeden meiner Gegner. Marco ist immerhin Weltmeister, also wäre es vermessen, ihn nicht zu respektieren. Außerdem muss ich mich bei ihm und Sauerland für diese Chance bedanken. Obwohl ich bei drei Weltverbänden unter den Top Ten stehe, war er der einzige Champion, der gegen mich antreten wollte, nachdem der Ausscheidungskampf gegen Alexander Alekseev als Unentschieden gewertet wurde, obwohl ich dieses Duell klar gewonnen hatte.

SPOX: Sie deuten an, dass die anderen Weltmeister Ihnen ausweichen?

Arslan: Ich will keine Namen nennen, aber es ist offensichtlich, dass dies eines der großen Probleme im Boxen ist. Die Zuschauer wollen keine Kämpfe mit irgendwelchen No-Names sehen.

SPOX: Sie werden wie Huck von den Experten nicht gerade als technisch versierter Boxer angesehen. Tut man Ihnen damit Unrecht?

Arslan: Solche Aussagen entsprechen einfach nicht der Wahrheit. Wie hätte ich sonst einen Valery Brudov, der sich vor allem über seine Technik definiert, nach Punkten besiegen können? Ich kann also nicht alles falsch gemacht haben. Mit purer Kraft kann man einen Kampf nicht gewinnen. Aber ich gebe zu, dass ich nicht der größte Techniker im Boxsport bin. Dafür habe ich mit 18 Jahren auch zu spät angefangen. Ich habe eine andere Strategie über die Jahre entwickelt.

SPOX: Wie schaut die aus?

Arslan: Ich habe früh erkannt, dass es gegen Weltklasse-Boxer mit meiner Technik nicht reicht. Also habe ich mich darauf konzentriert, meinen Gegner zu zermürben und ihm keine Zeit zum Durchatmen zu lassen.

SPOX: Sie sprechen Ihre Anfänge an. Wie sind Sie zum Boxen gekommen?

Arslan: Ich war von den "Rocky"-Filmen fasziniert. Zudem war mein Bruder ein guter Boxer, ich war wohl sein größter Fan. Das Urteil der Trainer nach meinen ersten Übungseinheiten war allerdings verheerend: "Da ist Hopfen und Malz verloren!" Aber so schnell wollte ich nicht aufgeben. Vor dem Boxen hatte ich keine Perspektive. Erst durch das Boxen habe ich zum ersten Mal gewusst, was ich machen will.

SPOX: Das klingt nach einer harten Kindheit.

Arslan: Ich habe mich immer als Außenseiter gefühlt. Ich bin mit meiner Familie kurz nach meiner Geburt nach Süssen gezogen. Wir hatten finanzielle Probleme, zudem hat uns mein Vater früh verlassen. Aber der größte Schock war der erste Tag im Kindergarten. Wir hatten ja keinen Fernseher und keine deutschen Nachbarn. Ich wusste also nicht, dass ich in Deutschland bin. Als ich dann in den Kindergarten kam und alle deutsch geredet haben, dachte ich zuerst, sie verarschen mich, weil sie so komische Geräusche von sich gegeben haben. Erst dann wurde mir gesagt, dass ich eigentlich der Ausländer bin. Aber ich wollte nicht anders sein, sondern nur dazugehören. Das habe ich am Anfang allerdings auf die falsche Art versucht.

SPOX: Wie genau?

Arslan: Ich habe andere Leute verprügelt, um ihnen Angst zu machen. Aber das bringt dich nicht weiter. Respekt verdient man sich durch Arbeit, Fleiß und Leistung, aber nicht durch irgendwelche Sprüche. Diese Jahre haben mich geprägt.

SPOX: In Ihrer Autobiographie sprechen Sie auch von Ihrem ersten K.o.-Sieg im Kindergarten.

Arslan: Es gab einen Jungen aus wohlhabendem Haus, der mich lange gehänselt hat. Tante Gerlinde, die Kindergärtnerin, hat immer weggeschaut und nichts unternommen. Er war 40 Kilo schwerer und hat sich häufig einfach auf mich gesetzt. Mein Vater hat uns aber mal gesagt, dass wir uns wehren sollen. Jammern war bei uns zu Hause nicht gerne gesehen. Einmal habe ich wieder alleine in der Ecke gehockt und einen Turm aus Holzklötzen gebaut. Er kam auf mich zu und hat den untersten Klotz herausgezogen. Da sind bei mir die Sicherungen durchgebrannt und ich habe ihm eine blutige Nase verpasst.

SPOX: Danach war vermutlich Ruhe?

Arslan: Genau. Ich habe zwar einen Anschiss bekommen, aber danach wurde ich nie wieder von ihm belästigt. Er war immer der Hahn im Korb, ein kleiner Macho, der alle unterdrückt hat. Ab diesem Moment hat er sich aber nichts mehr getraut. Und ich war dann sozusagen der neue King im Kindergarten. Aber ich habe niemandem etwas getan und habe endlich Freunde gefunden. Das Deutschlernen ging dann fast wie von selbst.

Hier geht's weiter: "Ich hatte kurzzeitig einen Herzstillstand"

SPOX: Wie wichtig war es, die deutsche Sprache zu lernen?

Arslan: Sehr wichtig. Wenn man in einem fremden Land lebt, muss man die Sprache beherrschen, um Probleme zu lösen. Denn Gewalt löst keine Probleme. Deswegen habe ich auch bei der bundesweiten Kampagne "Raus aus der Sprache, rein ins Leben" mitgemacht. Man muss sich seiner Herkunft nicht schämen. Aber man sollte dem Land, indem man lebt, ein wenig Dankbarkeit entgegenbringen. Sind wir doch mal ehrlich: In der Türkei ist auch nicht alles Zuckerschlecken. Jeder Jugendlicher sollte über die Möglichkeiten froh sein, die ihm in Deutschland geboten werden. Schauen Sie mich an: Ich habe zwar die deutsche Staatsbürgerschaft, fühle mich aber trotzdem auch weiterhin genauso als Türke. Die Frage, welches Land man mehr liebt, ist Blödsinn. Das ist, als würde man ein Kind fragen, ob man den Vater oder die Mutter mehr liebt.

SPOX: Sie treten im Ring weiterhin unter Ihrem Geburtsnamen an - im Gegensatz zu Felix Sturm oder Marco Huck. Wollen Sie damit Ihre türkischen Wurzeln ehren?

Arslan: Als ich im Kindergarten war, habe ich meinen Namen gehasst. Firat war ein sehr ungewöhnlicher Name. Und wie Kinder nun mal sind, bekam ich Spitznamen wie "Dreirat" oder "Zweirat" verpasst. Ich habe mich selber gefragt, wie man einem Kind so einen blöden Namen geben kann. Als Profi hat man mir dann einen deutschen Namen angeboten, auch aus Vermarktungsgründen. Aber damals hatte ich als Firat Arslan bereits so viele Schlachten geschlagen. Er ist ein Teil meines Lebens geworden. Entweder habe ich als Firat Arslan Erfolg, oder eben nicht.

SPOX: Ihre schwärzeste Stunde erlebten Sie 2009 bei einem Fahrradunfall.

Arslan: Ich war gerade im Trainingslager und sollte eigentlich bereits damals gegen Marco kämpfen. Bei einer Fahrradtour um den Chiemsee kam es dann zum Unfall. Ich wollte mit meinem Betreuer ein Traktor überholen. Der Fahrer vergaß aber den Schulterblick und bog ab. Mein Betreuer ist vor mir gefahren und konnte noch auf den Grünstreifen ausweichen, aber ich musste eine Vollbremsung hinlegen. Ich habe einen Salto geschlagen und bin mit meinem Kopf auf den Asphalt gelandet. Dadurch ist das Schlüsselbein-Brust-Gelenk aus der Brustbeinpfanne gesprungen und mein Halsmuskel ist zerrissen.

SPOX: Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie bewegungslos am Boden lagen?

Arslan: Es hört sich verrückt an, aber ich dachte als erstes: "Scheiße, der Kampf ist geplatzt." Erst als die Sanitäter gesagt haben, dass im Halsbereich lose Knochen sind und sie mich nicht mit dem Krankenwagen mitnehmen können, habe ich Angst bekommen. Ich habe gebetet, dass ich nicht im Rollstuhl ende. In dem Moment war mir Boxen total unwichtig. Dementsprechend groß war die Erleichterung, als zwei Stunden später die Entwarnung kam.

SPOX: Haben Sie Hass- oder Rachegefühle gegenüber dem Landwirt?

Arslan: Nein, ich verurteile ihn nicht. Er hat es ja nicht mit Absicht gemacht. Vor kurzem war die letzte Gerichtsverhandlung. Dort hat er sich sehr ehrenhaft verhalten und zugegeben, dass er den Schulterblick vergessen hatte. Ich wünsche ihm nur das Beste und bin dankbar für seine Ehrlichkeit.

SPOX: Der Unfall war aber nicht der einzige Schicksalsschlag. Ein Jahr später kam die dramatische Niederlage gegen Steve Herelius.

Arslan: Das war der nächste Schock. Ich lag nach Punkten klar vorne, bin aber in der elften Runde dehydriert und wurde mit einem Kreislaufzusammenbruch ins Krankenhaus eingeliefert. Ich hatte sogar kurzzeitig einen Herzstillstand. Später wurde mir gesagt, dass ich insgesamt 9 Liter Flüssigkeit verloren hatte. Das sind ungefähr neun Prozent. Bei zehn Prozent fällt man ins Koma, bei elf Prozent kann man sterben. Im Krankenhaus wusste ich nicht mal, wer oder wo ich bin. Erst als der Name Herelius fiel, kam meine Erinnerung wieder. Aber wenigstens bin ich nicht K.o. gegangen.

SPOX: Ist das Ihr Ernst?

Arslan: Ich weiß, das kann ein normaler Mensch wohl nicht nachvollziehen. Aber als Sportler denkt man an solche Sachen. Ich habe mich offenbar in der elften Runde einfach nicht mehr bewegt. Alles passierte in meinem Unterbewusstsein. Er hat weiter auf mich eingeprügelt, aber ich bin stehen geblieben.

SPOX: Sportlich gesehen war ihre WM-Niederlage gegen Guillermo Jones wohl am schmerzhaftesten.

Arslan: Das war sicherlich eine bittere Pleite. An diesem Tag lief viel schief, aber er war auch der bessere Boxer. Ich wollte trotzdem einen Rückkampf und haben meinem Manager sogar gesagt: "Wenn ich verliere, will ich nichts von der Börse haben." Ich war so von mir selbst überzeugt. Vielleicht bekomme ich ja noch mein Rematch. Aber jetzt zählt erst mal nur Huck.

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