Todesbiss oder Kobrabeschwörung?

Jan Höfling
15. September 201517:01
Kubrat Pulev (r.) will Wladimir Klitschko vom Thron stoßengetty
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Am Samstag kommt es in der Hamburger o2 World zur Titelverteidigung Wladimir Klitschkos (62-3-0) gegen Kubrat Pulev (20-0-0). SPOX hat beide Kämpfer vor dem Duell (ab 22.45 Uhr im LIVE-TICKER) auf Herz und Nieren geprüft. Der Head-to-Head-Vergleich.

Vorbereitung

Dank Shannon Briggs erlebte Wladimir Klitschko eine etwas andere Art der Vorbereitung. Der US-Amerikaner, der sich durch seine Auftritte einen weiteren Titelkampf erhofft, folgte dem Weltmeister auf Schritt und Tritt. Ob im Trainingscamp, im Restaurant oder als römischer Legionär verkleidet beim offiziellen Wiegen, der 42-Jährige meldete sich stets lautstark zu Wort. Immer dabei: Provokationen und eine Kamera.

Als wäre die konstante Ablenkung nicht genug, zog sich Klitschko im Training einen Muskelfaserriss im Bizeps zu, weshalb der eigentlich für den 6. September angesetzte Kampf um zwei Monate verschoben werden musste. Trotz der ungeplanten Ereignisse dürfte der 38-Jährige sein gewohntes Programm abgespult haben und topfit in das Duell gehen. "Wladimir ist nicht nur der beste Boxer, sondern auch der Champion, der am härtesten arbeitet", betonte Trainer Johnathan Banks.

Dennoch dürfte der Fokus des Ukrainers, dessen Verlobte Hayden Panettiere das erste gemeinsame Kind erwartet, gelitten haben. Ein Vorteil, den Gegner Kubrat Pulev unbedingt nutzen möchte. Im Gegensatz zu seinem Kontrahenten stand der Bulgare nicht im Rampenlicht und konnte sich in Berlin ungestört mit Trainer Otto Ramin auf die Chance seines Lebens vorbereiten.

Kubrat Pulev im SPOX-Interview

Auch die Verletzung Klitschkos spielte ihm dabei in die Karten: "Ich konnte weiter trainieren und so in noch bessere Form kommen, während Klitschko nichts tun konnte", sagte Pulev im Gespräch mit dem "Ring Magazine". Neben der körperlichen Fitness hat der bekennende Schachfan nach eigener Aussage vor allem an einer passenden Strategie gearbeitet, um der erste bulgarische Weltmeister im Schwergewicht zu werden. SPOX

SPOX-Urteil:Vorteil Pulev

Erfahrung

Zwar gab es in der Vorbereitung Klitschkos Störfeuer, dennoch ist seine Erfahrung über jeden Zweifel erhaben. Über 140 Kämpfe, Silber bei den Europameisterschaften 1996 und eine Goldmedaille bei den Olympischen Spielen im gleichen Jahr stehen unter anderem für den Ukrainer als Amateur zu Buche. Hinzu kommen 65 Kämpfe als Profi, bei denen er insgesamt 329 Runden im Ring stand sowie eine Vielzahl von Titelkämpfen - aus der Ruhe bringen dürfte Klitschko also nichts mehr.

Allerdings kann auch Pulev, der bereits mit elf Jahren das Boxen begann, auf eine erfolgreiche Zeit als Amateur zurückblicken. Sei es die Bronzemedaille bei der Weltmeisterschaft 2005 oder der Gewinn der Goldmedaille bei den Europameisterschaften 2008, der 33-Jährige wusste in seinen über 250 Kämpfen als Amateur bereits vor seinem Schritt zum Profi zu überzeugen. Seit seinem Debüt 2009 stand er zudem in 20 Kämpfen, von denen er alle gewann, für 133 Runden im Ring.

Trotz seiner makellosen Bilanz hat der Herausforderer im Vergleich das Nachsehen. Er absolvierte nur knapp ein Drittel der Kämpfe und auch das Rundenverhältnis von 329:133 spricht für Klitschko. Ergänzt man die Rechnung durch die Tatsache, dass Pulev zum ersten Mal in seiner Karriere auf einer solchen Bühne um Titel antritt, wird sein Nachteil noch klarer.

SPOX-Urteil: Vorteil Klitschko

Schlagkraft

Wladimir 'Dr. Steelhammer' Klitschko - noch Fragen? Nein? Gut! Eigentlich sagt der Name nämlich schon alles über die Schlagkraft des Ukrainers aus, eine Knockout-Quote von 80 Prozent tut ihr Übriges. Zwar waren wirklich imposante Niederschläge zuletzt selten, allerdings ist und bleibt Klitschkos Power eine enorme Gefahr - und diese geht nicht nur von seiner vernichtenden Rechten aus.

Auch sein Jab, von vielen gerne unterschätzt, dient nicht nur der Distanzfindung und dem Punkten auf den Scorecards. Der Schlag, mit dem Klitschko den Kampf diktiert, verfügt über eine Härte, die es im Schwergewicht wohl selten bis nie gab. Kombiniert mit dem linken Haken, der bei etwaigen Ausweichversuchen Pulevs zu dessen rechter Seite ins Spiel kommen dürfte, ergeben sich für den Bulgaren wenig berauschende Aussichten.

Zumal er in diesem Bereich kaum etwas entgegenzusetzen hat. Lediglich elf seiner 20 Kämpfe beendete er vorzeitig, eine ernsthafte K.o.-Gefahr scheint vom 33-Jährigen nicht auszugehen. Pulev punktet stattdessen mit einem ebenfalls starken Jab, einer hohen Präzision und einer ordentlichen Geschwindigkeit - passend zu seinem Spitznamen 'Kobra'. Alles in allem dürfte Klitschko dennoch relativ gelassen in einen Schlagabtausch gehen.

SPOX-Urteil: Vorteil Klitschko

Kinn

Relativ? Relativ! Denn es gibt sie tatsächlich, die Achillesferse des Weltmeisters. Dass Klitschkos Kinn nie das härteste war, und es wohl auch niemals werden wird, ist nun wahrlich kein großes Geheimnis. Vor allem gegen Lamon Brewster und Corrie Sanders wurde dies mehr als deutlich. Allerdings liegen diese Demonstrationen bereits eine Dekade zurück.

Zu verdanken hat Klitschko diesen Umstand primär seiner verbesserten Defensivarbeit, die er vor allem unter Legende Emanuel Steward entwickelte, dem Jab als Kontrollinstrument und mit Sicherheit auch der fehlenden Klasse seiner Gegner. Eklatante Nachteile in Größe, Technik und Schlagkraft waren die Regel. Folglich handelt es sich wohl dennoch um den einzigen konkreten Ansatzpunkt Pulevs - trotz fehlender Power.

Der Bulgare, der über eine eher ausbaufähige Deckungsarbeit verfügt, muss zweifelsohne ein großes Risiko eingehen, will er das nahezu Unmögliche schaffen und den Weltmeister entthronen. Ein Blick auf seine bisherige Karriere verrät, dass er die Nehmerqualitäten dazu auf jeden Fall aufweist. Vor allem gegen Alexander Ustinov und Tony Thompson musste er harte Treffer einstecken, tat dies jedoch unbeeindruckt. Ob dies allerdings auch am Samstag der Fall sein wird, sei dahingestellt.

SPOX-Urteil: Vorteil Pulev

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Ausdauer

Mit dem Alter kommt die Weisheit. Besser könnte man den Wandel Klitschkos wohl kaum beschreiben. Während sich der Ukrainer zu Beginn seiner Profi-Karriere zumeist früh verausgabte und so noch vor Ende des Kampfes stehend K.o. war, hat er mit den Jahren gelernt sich seine Kraft einzuteilen. Mit 38 hat er deshalb kaum Probleme mit einem Kampf über die volle Distanz. Die Tatsache, dass er in der Regel das Kampfgeschehen diktiert, kommt entlastend hinzu.

"Ich habe Angst vor der biologischen Uhr, die unaufhaltsam tickt", weiß allerdings auch der Weltmeister: "Aber noch spüre ich mein Alter nicht. So lange ich es noch schaffe, der Beste zu sein und die Gegner zu dominieren, gibt es keinen Grund aufzuhören."

Trotz der gewohnten Fitness Klitschkos kann der immerhin fünf Jahre jüngere Herausforderer in Sachen Kondition aber durchaus mithalten. Selbst die kraftraubenden Treffer, die Pulev in vergangenen Kämpfen einstecken musste, sorgten nicht dafür, dass er am Kampfende nicht mehr auf der Höhe des Geschehens war. Vor dem anstehenden Duell befindet er sich nach eigenen Aussagen zudem in der Form seines Lebens - kein Vergleich also zu Vorgängern wie beispielsweise Alex Leapai.

"Wladimir wird im Ring viel laufen müssen, ich werde ein sehr gefährlicher Gegner sein", sagte Pulev und fügte an: "Er wird Probleme bekommen." Er weiß, dass er ein hohes Tempo gehen kann und dies auch muss. "Ich habe Energie für 20 Runden", so der Bulgare weiter.

SPOX-Urteil: Unentschieden

Körperliche Verfassung

In der Vergangenheit war Klitschko seinen Kontrahenten im Ring auf der physischen Ebene zumeist deutlich überlegen. Auch diesmal präsentierte er sich im Vorfeld des Kampfes in gewohnter Verfassung, ein Gramm Fett sucht man am Körper des Ukrainers vergebens, Muskeln bestimmen das Bild. Im Vergleich mit Pulev ist er - wenig verwunderlich - erneut vorne, allerdings in einem deutlich geringeren Ausmaß. Mit einer Körpergröße von 198 cm ist der jüngere Klitschko-Bruder nur rund vier Zentimeter größer als sein Gegenüber, bei der Reichweite sind es deren drei (206 cm zu 203 cm).

Eine Konstellation, die für Spannung sorgen könnte. "Er wird nicht in der Lage sein mit mir im Clinch so zu verfahren wie beispielsweise mit Povetkin", zeigte sich der Titelanwärter, der allerdings bei Geschwindigkeit und Beweglichkeit trotzdem im Hintertreffen ist, überzeugt: "Ich bin ihm keinesfalls ausgeliefert." Auch das Gewicht beider Kämpfer unterscheidet sich nur um 0,5 kg (111,5 zu 112). Diesmal allerdings zu Gunsten Pulevs.

SPOX-Urteil: Vorteil Klitschko

Fähigkeiten

In puncto Technik ist Klitschko ohne Zweifel auf einem eigenen Level - vor allem bei seiner Körpergröße. Sein Jab hat über die Jahre an Dominanz gewonnen, seine Schlagkraft ist extrem und auch seine koordinativen Fähigkeiten sind auf Top-Niveau. Die größte Entwicklung hat er jedoch in der Defensive durchlebt. Die Folge: Die Niederlagen der Vergangenheit wären heute undenkbar.

Pulev hingegen kann vieles, aber nichts davon außergewöhnlich. Keine Frage, das Gesamtpaket stimmt: Der Herausforderer ist ein robuster und technisch gut ausgebildeter Boxer, der über eine solide Schlagkraft sowie eine starke Kondition verfügt. Zudem versteht er die Bedeutung von Distanz, Reichweite und Timing - und dennoch: Es fehlt ihm einfach das gewisse Etwas.

Ankreiden lassen muss er sich zudem seine offensiv zuweilen eindimensionale Art, einen Mangel an Explosivität und einen mangelhafte Deckungsarbeit, die er jedoch mit seiner Beinarbeit zu kaschieren vermag. Vor allem seine Tendenz nach hinten statt zur Seite auszuweichen, sollte er sich abgewöhnt haben, sonst droht ihm ein Desaster.

SPOX-Urteil: Vorteil Klitschko

Mentale Stärke

Ohne Frage, die Auftritte Briggs' haben mit Sicherheit Nerven gekostet, in großer Gefahr war Klitschko innerhalb des Rings zuletzt jedoch nie. Ein anderer Faktor dürfte deshalb deutlich schwerer ins Gewicht fallen: Er wurde in seiner Karriere bisher dreimal ausgeknockt. Die Erinnerungen daran hängen zweifelsohne tief in seinem Gedächtnis und sind unmöglich zu vergessen. Vor allem vor dem Hintergrund, dass er praktisch nur durch einen K.o. zu bezwingen ist.

"Er hat alles für einen Weltmeister, aber er hat kein Herz. Er ist wie ein Mädchen", war nur eine Aussage Pulevs, der ebenfalls versuchte, die Nerven seines Gegners zu strapazieren. Hinzu kommen der Vorwurf der lediglich vorgetäuschten Verletzung und das Fernbleiben bei der offiziellen Pressekonferenz. Ob er damit jedoch Eindruck schinden konnte, ist höchst fragwürdig. Deshalb sollte der Bulgare seinen Fokus auf sich richten - den Glauben dazu scheint er zu haben, wirkt er gefestigt und selbstsicher.

Auch an Einsatz dürfte es nicht mangeln. "Er ist besessen von dem Gedanken, Schwergewichts-Champion zu werden", so Pulevs jüngerer Bruder Tervel: "Er weiß, dass es harte Arbeit sein wird, aber er wird alles tun was nötig ist." Wie die Situation in der mit knapp 14.000 Zuschauern seit Wochen ausverkauften Hamburger o2 World letztlich aussehen wird, wenn der Kampf nicht nach seinem Plan läuft, ist offen. "Viele Boxer haben im Vorfeld große Ankündigungen gemacht, im Kampf machten sie dann jedoch das genaue Gegenteil davon", zeigte sich Kitschko gelassen.

SPOX-Urteil: Vorteil Klitschko

Fazit

Auch im Duell in Hamburg findet sich Klitschko eindeutig in der Favoritenrolle wieder. Pulev bleibt - wie den letzten Gegnern des Ukrainers - nur die Position als Außenseiter, die jedoch keinesfalls mit einer kompletten Aussichtslosigkeit gleichgesetzt werden darf. Der Bulgare verfügt über Möglichkeiten, diese muss er allerdings auch umsetzen.

Alles fußt dabei auf einer soliden Defensivarbeit. Schafft es der 33-Jährige nicht, diese im Vergleich zu seinen letzten Kämpfen zu verbessern, gehen die Lichter aus - Kinn hin, Kinn her. Auch einen eher langsamen Start darf er sich nicht erlauben, eine große Intensität ist für ihn das Hauptaugenmerk.

Darüber hinaus wird es zum Duell der Führhände kommen, der Jab den Kampf ohne Zweifel entscheidend prägen. Besonders da beide Athleten Distanzboxer sind und auch Pulev über entsprechende Qualitäten in seiner Führhand verfügt.

Auf den Punktzetteln wird er dennoch keine Chance haben. Es gilt für Pulev deshalb die vorzeitige Entscheidung zu suchen. Ein Umstand, der Klitschko nicht verborgen geblieben sein dürfte. Deshalb wird dieser wohl nicht von seiner Linie abweichen und versuchen aus der Distanz über seinen Jab den Kampf zu diktieren. Zwar sind die körperlichen Vorteile geringer als bei seinen letzten Gegnern, dennoch sind sie noch immer vorhanden. Geht Pulev, dessen Stil Klitschko eigentlich liegen sollte, aus der Notwendigkeit heraus ein zu großes Risiko, ist ein K.o.-Sieg des Ukrainers wahrscheinlich.

SPOX-Urteil: Später K.o.-Sieg Klitschko

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