"Brawn hat Ideen für seine Zukunft"

Alexander Maack
09. Oktober 201320:56
Mercedes Motorsportdirektor Toto Wolff (r.) bestreitet den Abschied von Ross Brawn (l.)getty
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Mercedes-Motorsportdirektor Toto Wolff bestreitet den feststehenden Abschied seines Teamchefs Ross Brawn. Auch nach den zuletzt unglücklichen Entscheidungen soll Brawn den Aufwärtstrend dieser Saison fortsetzen. Zudem räumt der Österreicher ein, dass sein Team in Korea falsch reagiert hat. Änderungen schließt er dennoch aus.

SPOX: Herr Wolff, wenn ich Ihnen im Januar gesagt hätte, dass sie fünf Rennen vor dem Saisonende einen Punkt hinter Ferrari liegen und gute Chancen auf die Vizeweltmeisterschaft der Konstrukteure haben, wie hätten Sie reagiert?

Toto Wolff: Ungläubig. Ich versuche die Dinge tendenziell aus einem pessimistischen Blickpunkt zu betrachten. Gemessen an den Ergebnissen des Vorjahres hätte ich das zu diesem Zeitpunkt nicht als mögliche Situation gesehen.

SPOX: Neben der Geschwindigkeit hat sich das Team dieses Jahr auch im Punkt Verlässlichkeit verbessert. Es gab nur drei technisch bedingte Ausfälle im Vergleich zu sechs 2012.

Wolff: Das sind drei zu viel in diesem Jahr. Es dürfen keine Reliability-Probleme auftreten. Das muss der Anspruch von Mercedes in der Formel 1 sein: Eine Saison ohne ein DNF zu beenden, ohne einen technischen Ausfall zu haben.

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SPOX: Zuletzt wirkten die Entscheidungen von außen allerdings unglücklich. In Singapur reagierte das Team etwa nicht schnell genug auf die Safety-Car-Phase und ließ beide Fahrer draußen, ohne die Reifen zu wechseln.

Wolff: Die Krux an der Sache ist, dass wir vor und während des Rennens Entscheidungen aufgrund der größtmöglichen Wahrscheinlichkeit treffen müssen. Wir sind danach alle immer sehr viel schlauer. Das ist wie im Fußballstadion, wo die besten Trainer immer auf den Tribünen sitzen.

SPOX: Kimi Räikkönen und Fernando Alonso haben es aber gemacht und sind dadurch aufs Podest gerutscht, das Mercedes davor sicher schien. Niki Lauda sagte, dass so etwas nicht mehr vorkommen sollte. Sie werten es allerdings nicht als Fehler?

Wolff: Wir hatten nicht angenommen, dass man mit den Reifen so lange fahren kann. Kein einziges Team hat im Training eine so lange Simulation gemacht. Es hat diesen Erfahrungswert also schlichtweg nicht gegeben. Man muss sich auf Daten und Fakten verlassen und dann eine Prise Racing Spirit hineingeben, um flexibel zu bleiben.

SPOX: Und bei Hamilton in Korea? Er beklagte sich mehrmals, dass seine Slicks hinüber waren. Ist er den Stint zu schnell angegangen, war es ein schlechter Satz oder ein Rechenfehler?

Wolff: Der Reifen hat schneller abgebaut, als wir es berechnet hatten. Da müssen wir analysieren, warum wir das falsch eingeschätzt haben. Aber ihn früher reinzuholen hätte bedeutet, dass wir auf eine Dreistopp-Strategie hätten umschwenken müssen oder am Ende übers Kliff stürzen. Wir haben den Abstand so berechnet, dass er vor Räikkönen rauskommt.

SPOX: Dann krachte Rosberg der Flügel runter. Eine Reaktion gab es aber nicht. Hamilton hat auf Rosbergs Inlap hinter ihm rund sechs Sekunden verloren.

Wolff: Das war eine sehr leidvolle Erfahrung, weil ein technisches Problem dazu geführt hat, dass die Strategie beider Autos in Mitleidenschaft gezogen wurde. Zu dem Zeitpunkt hat Lewis' Reifen dramatisch abgebaut. In der Runde, in der er reinkommen sollte und Nico durch den gebrochenen Flügel rein musste, hat Lewis 1:50 Minuten gebraucht, Räikkönen 1:44. Im Nachhinein sind wir natürlich schlauer.

SPOX: Wie war das Gefühl, als die Funken flogen? Bekommen Sie da als Verantwortlicher Angst?

Wolff: Wenn ich sehe, dass wir beim Einen ein Haltbarkeitsproblem haben und beim Anderen die Strategie nicht aufgeht, dann ist das einfach unangenehm. Angst ist aber ein dehnbarer Begriff. Das wünsche ich niemandem, am allerwenigsten einem unserer Fahrer. Ein technischer Defekt bei einem Formel-1-Auto, das über 300 km/h auf der Geraden fährt - zum Glück ist das Ganze unfallfrei über die Bühne gegangen.

SPOX: Sie haben selbst 24-Stunden-Rennen gewonnen. Hilft Ihnen ihre eigene Erfahrung als Rennfahrer in ihrer aktuellen Position?

Wolff: Begrenzt. Man kann mir kein X für ein U vormachen. Ich verstehe die Basis, wie es im Motorsport abgeht. Das ist aber gleichzeitig die große Gefahr: Ich darf mich nicht verleiten lassen, mich zu sehr in technische oder sportliche Dinge einzumischen. Da nehme ich mich immer selbst bei der Nase: Meine Erfahrungen haben nicht auf dem Niveau der Formel 1 stattgefunden. Wenn man selbst nicht in diesem Auto gesessen ist oder als Ingenieur auf diesem Niveau gearbeitet hat, ist Feedback halbschlau.

SPOX: Mercedes stand zu Saisonbeginn zwar dauerhaft auf Pole, fiel im Rennen aber meist zurück. Wie schwer war es, die Motivation aufrechtzuerhalten?

Wolff: Die Motivation leidet darunter nicht. Ganz im Gegenteil. Ein Team kann nicht in jedes Mal auf Pole stehen und jedes Rennen gewinnen. Es geht darum, Bausteine aneinanderzufügen und wie Red Bull über Jahre hinweg ganz vorne zu sein. Das geschieht nicht von heute auf morgen.

Seite 2: Wolff spricht über Brawns Zukunft und lobt Rosbergs Qualitäten

SPOX: Wie das Team von Sebastian Vettel vor ein paar Jahren haben sie hinter den Kulissen ordentlich aufgerüstet. Ehemalige Technikdirektoren, Aerodynamikchefs und Chefdesigner anderer Rennställe tummeln sich in Brackley: Geoff Willis, Aldo Costa, Mike Elliot, Bob Bell,...

Wolff: ... Paddy Lowe. Die Bereiche sind sehr klar abgesteckt. Wir dürfen eins nicht vergessen: Wir haben in der nächsten Saison die wahrscheinlich größte technische Revolution der Formel-1-Geschichte. Wir haben ein völlig neues Antriebskonzept und aerodynamische Reglementänderungen. Da kommen so viele Themen auf uns zu, dass wir ein paar intelligente Menschen mehr brauchen.

SPOX: Was macht Paddy Lowe eigentlich aktuell genau - die Bezeichnung "Executive Director" sagt nicht viel aus.

Wolff: Er ist sechs Monate früher gekommen als gedacht. Deswegen ist er derzeit wie ein Libero. Er schaut in alle Bereiche hinein und guckt, wo es Optimierungsbedarf gibt. Gleichzeitig berichtet er an Ross Brawn.

SPOX: Den aktuellen Teamchef soll er nach dessen Aussage irgendwann ablösen. Am Montag gab es Gerüchte, dass ihr Brawn schon Aufsichtsratschef Niki Lauda informiert hat, Mercedes am Ende der Saison zu verlassen. Hat er Ihnen das auch mitgeteilt?

Wolff: Wir sind alle involviert. Ross Brawn hat gewisse Ideen für seine Zukunft. Wir als Team wollen uns gemeinsam mit Ross Brawn weiterentwickeln. Das diskutieren wir ständig. Und da gab es in den letzten Tagen keine Neuigkeiten - auch intern nicht. Deswegen ist es etwas verwunderlich, wo das jetzt herkam.

SPOX: Also würde sich Ross Brawn gerne verändern, Sie wollen aber, dass der Vertrag eingehalten wird?

Wolff: Nein, ganz und gar nicht. Es ist keine Rede davon, Verträge einzuhalten oder davon, dass Ross Brawn sich verändern will. Es ist ein gemeinsamer Diskurs, wie man miteinander weitermacht - alles in bestem Einvernehmen für das Team und zwischen den handelnden Personen.

SPOX: Kann ein gutes Ingenieurteam die Fahrer bei der Entwicklung des Wagens ersetzen?

Wolff: Nein, da braucht man den Racing Spirit. Man muss den Fahrer in wesentliche Konstruktions- und Setupentscheidungen involvieren. Ein guter Ingenieur ist in der Lage, einen Kompromiss zwischen Daten und dem, was ihm der Fahrer sagt, einzugehen.

SPOX: Worin unterscheiden sich ihre Piloten?

Wolff: Rosberg ist der akribischere Arbeiter und auf Daten orientiert, Hamilton fährt mehr aus dem Bauch heraus. Wenn man Verständnis füreinander hat, dann gibt es keine Probleme. Deshalb erzielen wir als Team jetzt bessere Ergebnisse, weil hier von beiden Fahrern und den Ingenieuren gemeinsam an einem Strang gezogen wird.

SPOX: Wäre das anders, wenn Mercedes mit Michael Schumacher weitergemacht und nicht Lewis Hamilton verpflichtet hätte?

Wolff: Ich habe den größten Respekt vor Michael Schumacher. Er ist mit sieben Weltmeistertiteln der Fahrer mit den größten Erfolgen, das kommt nicht von irgendwo. Die Situation, die ich vorgefunden habe, war Hamilton/Rosberg. Ob es mit Schumacher anders gewesen wäre, das weiß ich nicht. Das ist nur Theorie.

SPOX: In der DTM hat Mercedes vor dieser Saison einiges verändert. Statt mindestens einem Ex-F1-Fahrer wie Ralf Schumacher starteten neben Gary Paffett nur junge Piloten. Ist die DTM jetzt eine Nachwuchsakademie?

Wolff: Nein. Ganz und gar nicht. Die DTM ist die zweitprofessionellste Motorsportserie Europas. Da fahren Profis gegeneinander. Unsere Fahrer sind sehr jung, aber sie sind reif für die DTM. Dafür haben wir uns bewusst entschlossen, um einen Generationenschnitt zu machen. Uns war auch klar, dass wir Rückschläge haben werden. Da ist alles unter Kontrolle.

SPOX: Christian Vietoris und Robert Wickens sind gegenwärtig als beste Mercedes-Fahrer Dritter und Vierter der Gesamtwertung. Audi und BMW hatten in der Markenwertung die Nase vorn. Wer hat von den fünf Jungspunden die größten Chancen auf einen Aufstieg in die F1?

Wolff: Das ist sehr schwierig. Wenn jemand in einer Juniorkategorie oder in der DTM sehr erfolgreich ist, bedeutet das nicht viel für die Formel 1. Es ist sehr schwierig, da überhaupt hinzukommen. Es fehlen Tests und der ökonomische Faktor wird einigen Formel-1-Teams immer wichtiger.

SPOX: Sie sprechen die Pay-Driver an...

Wolff: Deswegen ist es nicht absehbar, ob da jemand Herausragendes heranwächst. Die Entwicklung ermöglicht einem nicht mehr, akkurate Einschätzungen zu machen. Unsere Junioren haben alle großes Talent. Pascal Wehrlein zum Beispiel ist sehr jung und hat großes Potenzial. Er hat uns schon in der Formel 3 sehr viel Freude bereitet und kann sicherlich eine sehr erfolgreiche Karriere machen.

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