"Ich wurde jetzt zwei Rennen in Folge beschissen. Das ist kacke. Es tut weh", klagte Daniel Ricciardo nach dem Großen Preis von Monaco im Mai. Sichtlich verärgert attackierte der sonst so gut gelaunte Australier sein Team: "Ich wurde an die Box gerufen, ich habe es nicht gefordert. Sie hätten bereit sein müssen."
Was war passiert? Ricciardo führte das Rennen im Fürstentum souverän vor Lewis Hamilton an, als er zum Reifenwechsel beordert wurde. Problem: Red Bull hatte die neuen Gummis noch gar nicht parat, Ricciardo stand zehn Sekunden in der Box und verlor so den sichergeglaubten Sieg an Hamilton. Drama pur.
Erst zwei Wochen zuvor musste sich Ricciardo beim Spanien-GP ebenfalls hinten anstellen. Weil er im Gegensatz zu Teamkollege Max Verstappen und Kimi Räikkönen ein Mal mehr die Boxengasse ansteuerte, verpasste er den Sieg und wurde nur Vierter. Verstappen heimste den Gewinnerpokal ein - und sorgte damit für einen Umschwung in der öffentlichen Wahrnehmung.
War es bis dahin Ricciardo, der bei Red Bull die große Aufmerksamkeit genoss, richteten die Medien ihren Fokus nun auf den jungen Niederländer. Ricciardos Erfolge 2014 gegen den damaligen Teamkollegen Sebastian Vettel, die drei GP-Siege - all das schien in der Öffentlichkeit auf einmal vergessen. Man hatte einen neuen Helden: Max Verstappen.
Verstappen vs. Ricciardo
Erst waren es Lobeshymnen, die den jüngsten GP-Sieger aller Zeiten überschwemmten und ihn als kommenden Weltmeister sahen, dann - spätestens nach dem Großen Preis von Belgien - war es harsche Kritik, die dem 18-Jährigen entgegenprallte. Egal aber, ob positive oder negative Schlagzeilen: Verstappen ist der Main Act, Ricciardo nur sein Teamkollege. So zumindest der öffentliche Tenor.
Natürlich, ein 18-Jähriger in der Formel 1 polarisiert. Gerade dann, wenn er so selbstbewusst auftritt und einen so konsequenten Fahrstil hat wie Verstappen. Doch Ricciardos Leistungen verpflichten dazu, auch ihn genauer unter die Lupe zu nehmen und vom niederländischen Schatten in die australische Sonne zu ziehen.
Auf der Strecke behält der Mann aus Perth nämlich nach wie vor die Oberhand. Seit zehn GP-Wochenenden sind Ricciardo und Verstappen nun Teamkollegen bei Red Bull. Acht Qualifying-Duelle hat der Aussie-Boy seitdem für sich entschieden. Dazu hat er mehr Top-10-Platzierungen und mehr Führungsrunden gesammelt. Und das Wichtigste: Er hat in dieser Zeit mit 125 Punkten 17 Zähler mehr als Verstappen (108) geholt.
Besonders beeindruckend ist dabei die Konstanz, die Ricciardo in dieser Saison zeigt. In jedem Rennen kam er bisher ins Ziel. Das gelang sonst nur Williams-Pilot Valtteri Bottas. Dazu verpasste Ricciardo einzig beim Großen Preis von Russland (Rang 11) die Punkte. Dank vier Podestplatzierungen im Rücken steht er (161 Punkte) auf Platz drei der Fahrer-Weltmeisterschaft, vor ihm nur Lewis Hamilton (250) und Nico Rosberg (248) in den dominierenden Mercedes.
Singapur = Red-Bull-Land?
Doch das reicht dem Sunnyboy nicht. Er will siegen. Und dazu hat er nun in Singapur die wohl größte Möglichkeit seit dem Tragik-GP von Monaco. "Ich erwarte nicht, dass mir der Sieg geschenkt wird, aber wenn ich an diesem Wochenende gut arbeite, dann sollte ich eine Chance haben", wittert Ricciardo vor dem Nachtrennen Morgenluft.
Der Grund für den Optimismus? Das Layout des Marina Bay Street Circuits. Mit seinen 23 Kurven ist der 5,073 Kilometer lange Kurs dem Red Bull fast auf den Leib geschneidert. Statt Highspeed wie noch in Monza zählen hier vor allem Abtrieb, stabile Bremsleistungen und gute Traktion. Alles Komponenten, die den Österreichern zu Gute kommen. Ricciardos Rundenrekord (1:50,041 Minuten) aus dem Vorjahr beweist das."Die Strecke wird der High-Downforce-Philosophie von Red Bull entgegenkommen", stapelt auch Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff tief: "Wir dürfen nicht den Fehler machen, uns an diesem Wochenende für die Favoriten zu halten."
Quasi als i-Tüpfelchen bringt Renault zudem ein Motorenupdate mit. Mit einem neuen Spritgemisch von Total sollen so insgesamt 15 Zusatz-PS herausspringen, laut Ingenieuren ein Zeitvorteil von rund zwei Zehntelsekunden pro Runde - in der Formel 1 eine ganze Menge. Entsprechend optimistisch geht Red Bull das Wochenende an. "Ein Podestplatz muss unser Ziel sein, aber insgeheim liebäugeln wir natürlich mit einem Sieg", sagte Verstappen.
Mercedes sieht Gefahr
Wenn der Rennstall um Teamchef Christian Horner auch gut gewappnet in den Singapur-GP geht, die Konkurrenz ist mit Mercedes und Ferrari naturgemäß groß. Die Scuderia holte hier im Vorjahr dank Vettel nicht nur die Pole, sondern auch den bis dato letzten Sieg und dürfte entsprechend motiviert ins Wochenende gehen.
Die Stuttgarter sind vor jedem Rennen Topfavorit, verpatzten mit einem Hamilton-Ausfall und einem vierten Platz von Rosberg die 2015er-Ausgabe aber komplett, weil sie die Reifen nicht ins Arbeitsfenster brachten. Ob Mercedes die Probleme ausgelotet hat? "Das wissen wir nicht", gab Wolff zu. Und Technikchef Paddy Lowe fügte an, dass man im Silbernen Lager "zwölf Monate lang hart gearbeitet hat, um zu verstehen, woran es lag", man aber letztlich "nur Theorien vorzuweisen" habe.
Bringt das Karma den Sieg?
Es sind Aussagen, die Ricciardos Hoffnung auf seinen ersten Sieg seit Belgien 2014 weiter nähren dürften. Und Aussagen, die den Mann mit der Startnummer drei fast schon spirituell werden lassen.
"Ich glaube nicht an viel, aber wenn es so etwas wie Karma gibt, dann glaube ich daran, dass ich meinen Monaco-Sieg irgendwo zurückbekomme", philosophierte Ricciardo: "Und in Singapur will ich gewinnen. Die Strecke hier ist Monaco am ähnlichsten. Ich habe den Eindruck, dass wir es drauf haben."
Schwächelt Mercedes erneut und spielt der Rennverlauf Ricciardo in die Karten, dann könnte er tatsächlich mit dem Monaco-Kapitel abschließen. Und die Fans dürften sich wohl auf den nächsten "shoey" freuen, also auf Ricciardos nächsten Champagner-Trunk aus dem eigenen Schuh - so wie er es in Hockenheim und Spa getan hatte.
"Wenn ich gewinne, dann werde ich es wieder machen", versprach Ricciardo auf der offiziellen Pressekonferenz am Donnerstag: "Wenn der Champagner kalt ist, dann schmeckt es ganz gut."
Der Formel-1-Kalender 2016 im Überblick