Martin Bengtsson landete sehr früh im Profifußball. Als Youngster stand ihm bei Inter Mailand eine große Fußballkarriere bevor. Doch dann wurde Bengtsson depressiv - und beendete nach einem Suizidversuch frühzeitig seine Karriere. Mittlerweile ist der 28-Jährige als Musiker aktiv. Im Interview spricht der Schwede über einen Tunnel für Marco Materazzi, ein geklautes Sandwich und das Leben nach dem Fußball.
SPOX: Herr Bengtsson, mit sechs Jahren haben Sie angefangen, Fußball zu spielen. Wann wussten Sie, dass es für eine professionelle Karriere reichen kann?
Martin Bengtsson: Da war ich etwa neun Jahre alt. Zuvor spielte ich eigentlich nur zum Spaß. Als ich aber die Weltmeisterschaft 1994 sah, bei der Schweden sensationell Dritter wurde, wurde mir klar, dass ich das auch schaffen kann. Ich sah, dass es möglich war, als Schwede eine WM zu spielen. Daraufhin fing ich sofort an, hart zu trainieren, um das auch zu erreichen.
SPOX: Das war der Anfang?
Bengtsson: Ja. Ich erinnere mich, wie ich eine Dokumentation über Ajax Amsterdam geschaut habe und sehen konnte, wie hart junge Spieler dort trainierten. Außerdem las ich einen Artikel über Brasiliens Ronaldo. Darin stand, dass er sechs Stunden am Tag trainierte. Daher dachte ich, ich müsse das auch tun, obwohl ich noch in einem kleinen Klub spielte.
SPOX: Und das hat funktioniert?
Bengtsson: Die Sache wurde praktisch über Nacht mathematisch. Ich wollte wie Ronaldo werden, also musste ich sechs Stunden am Tag trainieren. Ich fing an zu rechnen: Ich brauche zehn Minuten in die Schule, auf dem Weg kann ich also schonmal mit dem Ball jonglieren. Danach habe ich 20 Minuten Pause, in der ich mich auf einen Fußballplatz stellen konnte und dann aufs Tor schoss. Nach der Schule trainierte ich erneut eine Stunde. Somit war ich bei rund drei Stunden Fußballtraining angelangt, noch ehe mein reguläres Training losging.
SPOX: Wie sahen die ersten Rückmeldungen aus?
Bengtsson: Im Verein haben alle gesehen, dass ich besser wurde. Ich wurde zu einem Beispiel, das die Trainer den anderen Spielern vorführten. Allerdings habe ich zu sehr auf meinen Körper geachtet. Ich nahm anorexische Züge an, hatte weniger Appetit. Das war schon sehr manisch bei mir, so dass ich bei weitem nicht mehr zum Spaß Fußball spielte.
SPOX: Sondern?
Bengtsson: Mit 14 hatte ich bereits das klare Ziel, in der ersten schwedischen Liga spielen zu wollen. Mit 16 wollte ich dann unbedingt zum AC Milan.
SPOX: Das haute so schnell nicht hin.
Bengtsson: Mit 15 Jahren ging ich zunächst nach Örebro, dem größten Klub in der Gegend. Dort durfte ich allerdings nur in der zweiten Mannschaft ran. Mit 16 gab ich aber mein Debüt in der ersten Liga. Wirklich heimisch fühlte ich mich in Örebro jedoch nie. Für mich war es sehr stressig, die Schule und das harte Training zu vereinbaren.
SPOX: Also ab ins Ausland!
Bengtsson: Ich absolvierte bei Ajax Amsterdam und dem FC Chelsea ein Probetraining. In der U 17 von Schweden wurde ich zum Kapitän ernannt. Und im Sommer kontaktierte mich Inter Mailand und bot mir einen Vertrag an.
SPOX: Sie nahmen ihn an, obwohl es der Rivale Ihrer Traummannschaft war?
Bengtsson: Milan war zwar lange mein Traum, aber das Angebot von Inter ließ mich sehr nah heran kommen. Das Trikot hatte nur andere Farben, so erschien es mir zumindest. Bei Inter spielte ich im Primavera-Team, das war im Jahr 2004.
SPOX: In Mailand gab es angeblich eine interessante Begegnung mit Marco Materazzi, stimmt das?
Bengtsson: Ja, die gab es. Ich habe in meinem ersten Trainingsspiel zeigen wollen, dass ich ein guter Fußballer bin und wollte den Vorgesetzten beweisen, dass es richtig war, mich zu verpflichten. Also habe ich Marco Materazzi getunnelt. Der war für seine harte Gangart schon immer bekannt und hat sich das natürlich nicht gefallen lassen. In der nächsten Aktion hat er mich richtig umgetreten. Das war ein etwas schmerzhafter Weg zu lernen, was es heißt, Marco Materazzi zu tunneln (lacht). Den Trainer hat es aber offenbar beeindruckt.
SPOX: Im Probetraining beim FC Chelsea sind Sie auch schon früh in ein Fettnäpfchen getreten.
Bengtsson: Stimmt, ich bin nach dem Training versehentlich in die falsche Umkleide gelaufen. Plötzlich stand ich im Umkleideraum der ersten Mannschaft. Dort war ein Behälter mit Sandwiches, aus dem ich mir eines nahm. Als der damalige Ersatzkapitän Graeme Le Saux das bemerkte, wurde er richtig sauer. Er hat mich in ein kleines Nebenzimmer gezerrt und mich dort richtig zusammengestaucht.
SPOX: Ihr Start bei Inter verlief gut, doch dann begannen die Probleme. Erzählen Sie.
Bengtsson: Ich hatte wirklich einen guten ersten Monat bei Inter, habe auch früh ein Tor erzielen können und oft gespielt. Ich habe das sehr genossen und auch Freunde gefunden wie beispielsweise den Australier Nathan Coe oder Carl Valeri, die beide etwas älter waren als ich. Am Ende der ersten Saison zog ich mir aber eine Meniskusverletzung zu und musste vier Monate pausieren. Deshalb habe ich unter anderem das Pokalfinale gegen Juventus Turin verpasst.
SPOX: Inwiefern hat Sie das psychisch mitgenommen?
Bengtsson: Ich war das erste Mal verletzt und wurde aus dem regulären Fußballerleben gerissen. Das war das Schlimmste. Ich war einsam, saß daheim und konnte mich nicht bewegen. Das hat Fragen in mir aufgeworfen, die zuvor in meinem Leben einfach keinen Platz hatten. Es waren eigentlich normale Fragen, die einen Teenager bewegen: "Wer bin ich?", "Wo bin ich?", "Was will ich tun?". Ich arbeitete zuvor so hart, um Profi zu werden und nun saß ich da und fragte mich, was mein nächstes Ziel sein sollte. Ich war Fußballer in Italien, mein Traum war eigentlich bereits in Erfüllung gegangen.
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SPOX: War diese Zeit der Auslöser für die Depressionen?
Bengtsson: Ja. Damals habe ich mir eine Gitarre gekauft und angefangen, Songs zu schreiben. Dadurch hatte ich endlich wieder etwas abseits des Fußballplatzes zu tun. Nach ein paar Monaten, ich war zwischenzeitlich wieder fit, kam ich nach einem Nationalmannschaftsaufenthalt zurück ins Inter-Haus und bemerkte, dass alle meine selbst geschriebenen Songs und Gedichte weggeworfen worden waren. Es hieß, so etwas habe nichts im Leben eines Fußballspielers zu suchen. Das war sehr schmerzhaft für mich, schließlich war das Schreiben ein Weg, um meine Gefühle und mich selbst auszudrücken.
SPOX: Wie denken Sie heute über diese Phase?
Bengtsson: Ich hätte einen Weg einschlagen müssen, auf dem ich zugleich Fußballspielen konnte und die Chance hatte, mich selbst ausdrücken und zu verwirklichen. Dass mir dies verboten wurde, ließ mich in ein echtes Loch fallen. Mir wurde meine neue Leidenschaft verweigert, obwohl ich auf dem Feld Leistung brachte. Das verstand ich nicht.
SPOX: Letztlich war das der Anfang vom Ende Ihrer Karriere, oder?
Bengtsson: Das kann man so sagen. Ich hatte mir jahrelang die Identität aufgebaut, Fußballspieler zu sein. Ich lebte meinen Traum, doch der endete dort, das war der Bruch in meinem Leben. Das führte dazu, dass ich einen Suizidversuch unternahm und versuchte, mir die Pulsadern aufzuschneiden. Heute weiß ich: Ich hätte aufstehen und sagen sollen: 'Ich möchte das alles nicht mehr tun, ich möchte mit dem Fußball aufhören.' Aber ich wusste nicht, wie ich das hätte machen sollen.
SPOX: Wie ging es dann mit Ihnen weiter?
Bengtsson: Ich landete erst im Krankenhaus und ging dann zurück nach Schweden. Inter versuchte zwar, mich zurückzuholen, aber ich wusste ja selbst nicht mehr, was ich im Leben wollte.
SPOX: Hatten oder haben Sie versucht, anderen die Schuld an Ihrer damaligen Ausweglosigkeit zu geben?
Bengtsson: Nein. Ich kann niemandem die Schuld geben. Mein manisches Verhalten und meine verletzliche Seite in Verbindung mit der Zeit, die sich anfühlte, als wäre ich eingesperrt - das gab den Ausschlag für meine Depressionen. Insgesamt war ich etwa vier Monate depressiv, ehe ich den Suizidversuch unternahm.
SPOX: Als Sie zurück nach Schweden gingen, haben Sie nach einem sehr guten Spiel für die zweite Mannschaft von Örebro Ihre Karriere endgültig beendet. Wieso?
Bengtsson: Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich zwei Tore geschossen habe und am Tag darauf in der Zeitung stand: "Martin Bengtsson ist zurück". Dann begriff ich, dass ich das gar nicht wollte. Ich wollte nicht zurückkommen. Ich fühlte mich noch jung, war ja nur 18 Jahre alt und konnte immer noch einen anderen Weg einschlagen. Aber ich wollte nicht mehr Fußball spielen.
SPOX: Mittlerweile sind zehn Jahre vergangen. Spielen Sie noch zum Spaß?
Bengtsson: Ich vermisse den Fußball definitiv nicht. Es gab eine sehr lange Zeit, in der ich gar keinen Fußball gespielt habe. Ich habe viel Musik gemacht und Gedichte geschrieben, nebenbei war ich auch im Journalismus unterwegs und habe für das Fernsehen gearbeitet. Ich hatte sieben Jahre lang keine Verbindung zum Fußball, wollte diesen Sport nicht sehen, keinen Ball berühren. Mittlerweile spiele ich aber wieder ab und zu mit Freunden im Park oder schaue Spiele im Fernsehen.
SPOX: Was denken Sie, wenn Sie sich solche Highlightspiele wie bei einer WM ansehen?
Bengtsson: Ich gucke gerne zu und genieße den schönen Fußball, der gespielt wird. Aber ich denke zu keiner Sekunde: 'Wow, Schweinsteiger oder Özil! Jetzt wäre ich gerne an deren Stelle.' Sie können großartige Dinge am Ball, aber ich würde niemals mein Leben mit deren Leben tauschen wollen. Für mich gibt es jetzt mehr im Leben, als Fußballer zu sein. Den Reichtum, den ich anstrebe, ist der Friede des freien Ausdrucks, die Freiheit zu reisen und kreative Dinge zu tun.
SPOX: Wie läuft Ihr aktuelles Leben als Musiker?
Bengtsson: Ich habe schlicht das Ziel zu überleben. Ich möchte meine Miete bezahlen und mir frisches Obst auf den Tisch legen können. Meine Kunst soll leben, das ist mein Antrieb. Ich habe ein Publikum für meine Kunst. Es gibt viele Leute, die meine Musik hören. Ich habe drei Jahre lang eine Theaterschule besucht und Stücke geschrieben. Ich verdiene meine Brötchen mit Hilfe der Musik. Das ist eine große Sache und mein größter Traum, seit ich den Fußball verlassen habe.
SPOX: Was ist Ihr momentanes musikalisches Projekt?
Bengtsson: Ich lebe in Malmö und war zuletzt lange in einer Band. Ich spielte übrigens viel in Deutschland. Ich war häufig im Underground unterwegs und spielte in alternativen Clubs. Aktuell nehme ich eine CD auf, die nächstes Jahr im Sommer erscheinen soll. Ich trat auch zwischenzeitlich unter dem Künstlernamen "Waldemaar" auf, den habe ich aber schon wieder abgelegt.
SPOX: Mittlerweile tragen Sie einen Look, den Sie als Fußballer nicht präsentiert haben. Hätten Sie sich das damals getraut?
Bengtsson: Ich kann jetzt längere Haare und mehr Tattoos tragen. Das ist das, was der Fußball in meinen Augen lernen muss. Er will ein Sport für jedermann sein, also muss er auch jeden akzeptieren. Ganz egal, ob Menschen ein anderes Aussehen, eine andere Herkunft oder eine andere Sexualität haben. Da muss der Fußball an seiner etwas konservativen und altmodischen Ansicht arbeiten. Aber ich finde, er ist auf einem guten Weg.
SPOX: Bereuen Sie es eigentlich, Fußballspieler geworden zu sein?
Bengtsson: Nein, niemals. Im Gegenteil: Es war eine sehr gute Entscheidung, durch die ich sehr viel gelernt habe.
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