"Gebrochene Knochen gehören dazu"

Andreas Inama
25. Juni 201512:25
Beim Calcio Storico Fiorentino gibt es in Sachen Körpereinsatz keine Regelngetty
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Jedes Jahr am 24. Juni ist Florenz fest in der Hand des Calcio Storico. Das Spiel, das entfernt an Fußball und Rugby erinnert, ist tief in der florentinischen Folklore verwurzelt. Gewissermaßen als Zeremonienmeister ist Filippo Giovannelli für das rauhe Spektakel verantwortlich. Der Historiker und Autor kennt sich wie kaum ein Anderer mit der Geschichte der toskanischen Metropole aus. Im Interview mit SPOX spricht Giovannelli über den kulturellen Ursprung, die Entwicklung, Gefahren und Risiken des Calcio Storico.

SPOX: Herr Giovannelli, Sie gelten als der Experte schlechthin für den Calcio Storico Fiorentino. Wie sind Sie zu diesem Sport gekommen?

Filippo Giovannelli: Ich lebe in dieser Stadt und bin schon seit jeher ein Liebhaber der florentinischen Folklore. Besonders der Calcio Fiorentino hat es mir angetan, aber weniger der sportliche Aspekt, sondern das Historische dahinter. Überhaupt kann man nicht von einem Sport sprechen. Es ist eine Volkstradition.

SPOX: Beschreiben Sie uns bitte das Spiel.

Giovannelli: Es wird auf einem Sandplatz gespielt. Heute ist das Feld exakt 70 Meter lang und 35 Meter breit. Es treten zwei Mannschaften gegeneinander an, die jeweils aus 27 "Calcianti" bestehen. Das Ziel des Spiels ist es, den Ball an das andere Ende des Feldes zu befördern und dort im Tor unterzubringen. Diese Regeln wurden von Giovanni de' Bardi im Jahr 1580 festgelegt.

SPOX: Hat sich das Spiel seitdem geändert oder hat es seine ursprüngliche Form beibehalten?

Giovannelli: Das Spiel selbst hat sehr wenige Regeln und das ist auch so geblieben. Der Ball muss einfach auf die andere Seite. Dabei sind alle Mittel erlaubt. Es wird gerungen, geboxt, gestoßen - alles, nur um den Gegner aufzuhalten. Es gibt zwar Schiedsrichter und die Mannschaftskapitäne, die für Ordnung sorgen, jedoch kommen die fast nur zum Einsatz, wenn es zu Raufereien kommt, die über das Sportliche hinausgehen.

SPOX: Und das ist seit fast einem halben Jahrtausend so?

Giovannelli: Geändert hat sich nur die Organisation. Heute findet jedes Jahr ein Turnier statt, an dem Mannschaften aus den vier historischen Vierteln von Florenz teilnehmen. Es werden zwei Halbfinals und schließlich ein Finale ausgetragen. Der Sieger erhält als Preis ein Chianina-Kalb. Früher hat sich die Mannschaft das Kalb untereinander aufgeteilt, heute hat es nur noch symbolischen Wert. In Anlehnung an den 17. Februar 1530 wird heute in der Kleidung aus dem 16. Jahrhundert gespielt.

SPOX: Gibt es unterschiedliche Taktiken und Strategien, die die Mannschaften anwenden oder wird einfach drauf los gerannt?

Giovannelli: Jede Mannschaft hat einen oder zwei Trainer, die sehr erfahren im Bereich des Calcio Storico sind. Seit 1930 hat man sich durchaus Taktiken zurechtgelegt. Außerdem gibt es auch Positionen wie beim Fußball: Es gibt die "Datori Indietro", die man mit Torhütern vergleichen kann, die "Sconciatori", so eine Art Mittelfeldspieler, und die "Datori Innanzi", die Angreifer.

SPOX: Sind die Mannschaften wie Vereine organisiert oder werden da jedes Jahr neue Teams zusammengewürfelt?

Giovannelli: Die Mannschaften repräsentieren die vier historischen Viertel von Florenz: Die Blauen kommen aus dem Viertel Santa Croce, die Weißen aus Santo Spirito, die Grünen aus San Giovanni und die Roten aus Santa Maria Novella. Die Mannschaften sind wie sportliche Vereinigungen organisiert. Es wird das ganze Jahr trainiert und schließlich werden die Spieler ausgewählt, die die Spiele austragen. Es gibt eigene Trainingszentren und -plätze, auf denen der Wettkampf vorbereitet wird.

SPOX: Die Einwohner der Viertel nehmen leidenschaftlich teil. Gibt es Fangruppierungen wie etwa im Fußball?

SPOXGiovannelli: Natürlich, viele Menschen kommen jedes Jahr zur Piazza Santa Croce, um die Calcianti anzufeuern. Es ist zwar zum Teil auch eine Touristenattraktion, aber das Gros der Fans sind Florentiner, Menschen aus den Vierteln und Familienmitglieder, die ihre Mannschaft anfeuern.

SPOX: In Spanien gibt es die Stierkämpfe, die ob ihrer Zurschaustellung von Gewalt besonders in der Kritik stehen. Nun ist Gewalt auch im Calcio Storico ein Charakteristikum. Gibt es Gegner, die das Spiel verbieten lassen möchten?

Giovannelli: Es gibt einen bedeutenden Unterschied zwischen Volkstraditionen und Festen, bei denen Tiere beteiligt sind und zu Schaden kommen, und einem Sport wie diesen. Es sind Menschen, die daran teilnehmen - Männer, die wissen, welcher Gefahr sie sich aussetzen. Sie sind sich der Risiken bewusst und niemand zwingt sie mitzumachen. Tiere können sich das nicht aussuchen. Außerdem ist diese Tradition so fest verwurzelt und alt, dass es noch nie Kritik gab. Es gibt durchaus häufig schlimmere Verletzungen, aber die Teilnehmer kennen die potentiellen Konsequenzen schon vorher.

SPOX: Gibt es eine medizinische Notfallversorgung?

Giovannelli: Am Spielfeldrand stehen Ärzte und Sanitäter, die auf das Spielfeld kommen, falls es zu Zwischenfällen kommt. Tödliche Verletzungen gab es noch nie, wir sprechen hier höchstens von Bewusstseinsverlust oder Knochenbrüchen. Aber auch das passiert eher selten. Auch in einem normalen Fußballspiel kann es zu Unfällen mit Verletzungsfolge kommen.

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SPOX: Knochenbrüche und Bewusstseinsverlust. Das klingt nach einem echten Männersport. Gibt es auch einen Calcio Storico für Frauen oder haben Frauen schon an der Veranstaltung teilgenommen?

Giovannelli: 1530 - das Jahr, an das die Veranstaltung erinnern soll - haben nur Männer teilgenommen. Daher verlangt es die Tradition, dass nur Männer auf dem Platz stehen. Außerdem wird das Spiel sehr hart geführt und Frauen könnten sich dabei nur schwer durchsetzen. Deswegen nehmen auch keine am Spiel teil.

SPOX: Sie sprechen das Jahr 1530 an. Das Spiel wurde eingeführt, als Florenz belagert wurde. Wie kam man dazu, eine solche Veranstaltung in so prekärer Lage ins Leben zu rufen?

Giovannelli: Eigentlich gab es den Calcio Fiorentino schon länger, es wurden schon vor diesem berühmten 17. Februar 1530 Spiele organisiert. Jener Tag dient nur als Vorlage für den heutigen Event. Im Jahr 1490 war zum Beispiel der Arno (Fluss durch Florenz, Anm. d. Red.) zugefroren und so organisierte man Partien auf dem Eis. Es wurde auch zu besonderen Anlässen gespielt, wenn Botschafter von anderen Städten nach Florenz reisten oder während des Karnevals.

SPOX: Was hat es dann mit der Partie aus dem Jahr 1530 auf sich?

Giovannelli: Wie schon erwähnt wurde Florenz belagert. Kaiser Karl V. hatte 1529 im Auftrag von Papst Clemens VII. die Stadt belagert, um seinen Verwandten, der Familie De Medici, die Macht über Florenz zurückzugeben. Florenz hatte diese vertrieben und war mittlerweile eine Republik. Aus Trotz organisierte man im Februar in der Stadt dieses Spiel, um den Belagerern zu zeigen, dass sie den Einwohnern von Florenz gleichgültig sind. Aber der Stadt ging es zu diesem Zeitpunkt schon schlecht, die Menschen litten Hunger und im Laufe des Sommers wurde Florenz erobert. Die De Medici wurden wieder als Machthaber installiert.

SPOX: War es ein Spiel des Adels oder spielte auch das "gewöhnliche" Volk?

Giovannelli: Durchaus spielte der Adel, aber auch Männer anderer sozialer Schichten organisierten Spiele. Es war ein Spiel des Volkes, das zu besonderen Anlässen organisiert wurde.

SPOX: Also kam es auch vor, dass Adelige gegen Menschen spielten, mit denen sie sonst ob der sozialen Unterschiede nie in Kontakt kamen?

Giovannelli: Absolut. Da kam auch die Eigendynamik des Sports am besten zum Ausdruck: Ein Herr konnte nicht einfach den Ball von seinen Untergebenen verlangen und musste das ein oder andere Mal einiges einstecken. Außerdem war es besonders zur Zeit der Republik zwischen 1527 und 1530 so, dass die Adeligen sich nicht in so extremem Maße vom städtischen Leben abgesondert hatten. Sie nahmen nur eine andere Rolle als der Rest ein. Auf dem Feld gab es dann gar keine Unterschiede mehr. Der Adel hatte keine Privilegien auf dem Platz.

SPOX: Im 18. Jahrhundert fand dann das letzte offizielle Spiel statt, anschließend wurde das Spiel für fast 200 Jahre nicht mehr gespielt. Wieso?

Giovannelli: Die letzte traditionelle Partie fand 1749 in Livorno statt. Die Familie De Medici starb aus und die Macht über Florenz ging an Franz Stefan I. von Lothringen, den Ehemann von Maria Theresia. Die Tradition verflüchtigte sich, man spielte nicht mehr. Es gab dann einzelne Events, wie 1898 oder 1902. Endgültig wieder aufgenommen wurde die Tradition im Jahr 1930. Damals gab es in der Toskana eine Bewegung, die alte Traditionen wieder aufleben ließ, wahrscheinlich auch unter dem direkten Einfluss des Faschismus.

SPOX: Welchen Wert hat diese Tradition für die Stadt heute? Konzentriert sich das Interesse nur auf Florenz oder ist es ein über die Grenzen der Stadt beliebtes Event?

Giovannelli: Eigentlich konzentriert sich das Ganze nur auf Florenz. Diese Tradition ist tief in der florentinischen Gesellschaft verwurzelt und die Menschen aus den vier Vierteln hängen sehr an ihren Mannschaften. Die Teilnehmer, ob Spieler, Musiker oder das Rundherum, arbeiten das ganze Jahr auf dieses Spektakel hin. Die Familien der Teilnehmer binden sich mit ein und die Einwohner der Viertel feiern ein richtiges Fest. International sind eigentlich nur unsere Choreografien bekannt. Fast 530 Personen nehmen ausschließlich an der Parade teil, die an Militärparaden aus dem 16. Jahrhundert erinnern soll. Mit diesen Paraden haben wir schon die ganze Welt bereist, wir waren auf jedem Kontinent. Das Spiel selbst ist nur selten außerhalb der Grenzen von Florenz ausgetragen worden.

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