England als abschreckendes Beispiel: Mit deutlichen Worten warnt Jens Lehmann vor einem Abfall der Bundesliga und stellt der Premier League ein knallhartes Zeugnis aus. Der Grund: die große Macht der "Theoretiker". Er selbst gibt überraschend offene Einblicke in seine Zukunftspläne - und hat klare Vorstellungen über seinen möglichen Arbeitgeber.
SPOX: Herr Lehmann, Sie leben in der Umgebung von München, dem Mittelpunkt der Flüchtlingswelle. Haben Sie direkte Berührungspunkte?
Jens Lehmann: Natürlich. Bei mir im Heimatort wurden auch Flüchtlingszelte aufgestellt und niemand weiß genau, wie es weitergeht. Ich habe zwei Gedanken, die mir immer wieder durch den Kopf gehen: Einerseits sollte man sich bei allen Debatten die Angst vor Augen führen, die jeden Flüchtling dazu bewogen haben muss, solch eine Tortur auf sich zu nehmen und die Heimat zu verlassen. Andererseits überlegt man ganz pragmatisch, wie man selbst helfen kann.
SPOX: Verstehen Sie den Teil der deutschen Bevölkerung, der vor einer Überfremdung warnt?
Lehmann: Jeder hat Angst vor Fremdem, das liegt in uns. Allerdings relativiert sich das, wenn man selbst irgendwo mal fremd war. Es ist nicht schlecht für die eigene Persönlichkeitsentwicklung, selbst mal Ausländer zu sein und zu verstehen, wie sich Ausländer bei uns fühlen. Ich empfand vor allem die Zeit beim FC Arsenal als besonders wertvoll. Natürlich ist man als Fußballer privilegiert, aber man hat dennoch im Alltag in der unmittelbaren Nachbarschaft gelernt, wie verschiedenste Kulturen auf engstem Raum friedlich zusammenleben können.
SPOX: Sie sind nicht nur Laureus Botschafter, sondern beteiligen sich als Vorstandsmitglied aktiv an der Arbeit der Laureus Sport for Good Foundation in Deutschland und Österreich. Überlegen Sie, ein Angebot speziell für die Flüchtlingskinder zu entwickeln?
Lehmann: Laureus beschäftigt sich schon lange mit der Thematik. In meinem Projekt, den Kicking Girls, sind beispielsweise viele Kinder mit Migrationshintergrund. Sie entstammen zwar nicht der aktuellen Flüchtlingswelle, doch wir von der Stiftung haben Erfahrungen gesammelt, wie herausfordernd die Integration ist und wie sehr der Sport dabei unterstützen kann. Aus diesem Grund werden wir in sehr naher Zukunft überlegen, wie wir bestmöglich helfen können.
SPOX: Was steckt hinter dem Kicking-Girls-Projekt?
Lehmann: Kicking Girls wendet sich speziell an Mädchen mit Migrationshintergrund, die von Haus aus nicht Fußball spielen dürfen, weil in Deutschland häufig männliche Trainer die Mädchen-Mannschaften betreuen. Es gibt nach wie vor kulturelle Schranken und die Väter verbieten, dass ihre Mädchen unter einem männlichen Trainer spielen. Darum beschäftigen wir Trainerinnen und sogenannte Assistentinnen und stellen die Ausrüstung. Häufig haben die Mädchen nicht einmal das Geld, um sich Schuhe zu kaufen. Hinzu kommen Probleme bei der Integration und in der Schule, weil ihnen Selbstwertgefühl und Erfolgserlebnisse fehlen. Daher möchten wir die Mädchen ermutigen, im Sport Spaß zu haben, und bieten zusätzlich an, sie zu Trainerinnen oder Assistentinnen auszubilden. So soll das Vertrauen in sich und andere aufgebaut werden. Es freut mich ungemein, dass das Projekt so gut aufgenommen wird und der eine oder andere Vater sieht, wie viel Freude die Mädchen ausstrahlen, wenn sie kicken dürfen. Auch international gibt es Interesse an dem Konzept.
SPOX: Woher kommt Ihre karitative Ader? Waren das Heranwachsen im Ruhrpott und der langsame Abstieg der einst wohlhabenden Region womöglich charakterbildend? Sie wurden in Essen geboren und spielten für Schalke und Dortmund.
Lehmann: Als ich aufwuchs, war das Ruhrgebiet noch der industrielle Treiber Deutschlands, entsprechend haben mich die später einsetzenden negativen Folgen des Strukturwandels nicht direkt geprägt. Indirekt habe ich natürlich verfolgt, welche Auswirkungen jeder Einzelne zu tragen hat, weil sich gesamtgesellschaftlich fundamentale Dinge ändern. Wenn ich nach Ostdeutschland fahre, fällt mir immer auf, dass die Infrastruktur dank des Solidaritätszuschlags viel besser dasteht als im Ruhrgebiet. So wichtig und gut es für Ostdeutschland ist - für den Pott ist das bitter. In den Jahrzehnten nach dem Krieg war das Ruhrgebiet die Region, die den Wiederaufbau maßgeblich ermöglicht hat. Jetzt wird sie wenig beachtet. Wenn ich dort bin, wundere ich mich leider immer, wie die Vernachlässigung in den Städten zu Tage tritt. Ich finde: Bei aller Solidarität mit den Flüchtlingen dürfen wir nicht vergessen, dass wir auch inländisch viel Bedarf haben.
SPOX: Sie interessieren sich für die Wirtschaft und die Zusammenhänge in der Gesellschaft. Stimmt es, dass Sie in Dortmund darauf bestanden haben, dass in der Kabine immer n-tv läuft?
Lehmann: Das war nicht nur ich, andere Mitspieler sprachen sich ebenfalls dafür aus. Es gab schon vom Elternhaus ein grundsätzliches Interesse an solchen Themen und ich habe von meinem Vater geerbt, gerne und viel zu lesen. Deswegen verstand ich nie, warum ich in der Kabine durchgängig auf irgendein Musikvideo starren muss, anstatt mich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Ich war nicht so sehr der Spieler, der gerne auf der Playstation gespielt hat.
SPOX: Ihre Antwort klingt danach, als ob Sie - falls Sie im Fußball verbleiben wollen - am ehesten eine Karriere als Sportdirektor oder Manager anstreben, um einen Klub ganzheitlich nach vorne zu bringen?
Lehmann: Etwas ganzheitlich zu begreifen, ist immer interessant. Ob ich das dann beruflich mache, weiß ich allerdings noch nicht. Es kann sein, dass ich bald wieder in den Fußball gehe. Doch es hängt immer vom Angebot ab, in welcher Funktion. Ganz ausschließen möchte ich eine Tätigkeit als Manager nicht.
SPOX: Sie waren kurzzeitig mit dem 1. FC Nürnberg in Kontakt. 1860 München hätte Bedarf. Könnte ein zweitklassiger Traditionsklub reizvoll sein?
Lehmann: Ich hatte Glück, immer für Traditionsvereine spielen zu dürfen: Schalke, Milan, Dortmund, Arsenal, Stuttgart. Wenn ich in das Fußballgeschäft zurückkehre, würde ich mir genau diese Tradition bei meinem neuen Klub wünschen. Wenn man zu einem Auswärtsspiel fährt und viele Fans mitreisen, versprüht der gesamte Verein eine andere Leidenschaft als bei einem Verein mit kurzer Historie. Daher sind 1860 München und Nürnberg, aber auch andere Klubs, für mich aus Prinzip interessanter - ohne zugleich ausschließen zu wollen, mal woanders zu arbeiten.
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SPOX: Im deutschen Profi-Fußball gibt es bei den Entscheidungsträgern offenbar nur zwei Extreme: Hier der Ex-Profi, der vordergründig dank seiner vergangenen Erfolge und Erfahrung an einen Job kommt. Und dort der Quereinsteiger, der sich theoretisch Wissen angeeignet hat und sich hochdient. Sehen Sie sich in der Mitte, weil Sie beides verbinden?
Lehmann: Ich bin immer tolerant und kein Fan von Schwarz-Weiß-Denken. Gleichzeitig bin ich kein Fan von der Theoretisierung des Fußballs. Aus meiner Sicht ist das keine Erfolgsstory und deswegen glaube ich, dass der deutsche Fußball mehr und mehr in ein Problem hineinläuft. Viele Ex-Profis haben vielleicht nicht die Zeit oder die Lust, den enormen Zeitaufwand eines Trainers oder Managers auf sich zu nehmen. Mit der Konsequenz, dass Theoretiker ihre Chance bekommen, die sich sehr damit beschäftigen, wie der Fußball funktionieren könnte - aber es selbst nie erlebt haben. Diese Theoretiker kommen zunehmend in den Fußball und es ist klar, dass dadurch die Qualität nicht besser wird.
SPOX: Als Sie in Stuttgart spielten, war der VfB regelmäßig international vertreten, nun droht erneut der Abstiegskampf. Was auffällt: Die Top-Positionen werden mittlerweile nicht mehr von einem Ex-Profi bekleidet. Ein Grund für den Niedergang?
Lehmann: Es ist sicherlich einer von vielen Gründen. Es gibt ein Akzeptanzproblem für die Spieler, wenn im Misserfolg ein Trainer oder ein Manager oder ein Präsident in die Kabine kommt, der selbst so etwas nie mitgemacht hat. Wie will man dann vor den Spielern Glaubwürdigkeit ausstrahlen? Wobei Stuttgart ja nur eines von vielen Beispielen ist. In England finde ich das noch extremer. Fast der gesamte Fußball wird von Leuten gemanagt, die selbst nie auf einem hohen Niveau gespielt haben. Zum Vorteil der anderen Ligen, weil die englischen Teams viel zu hohe Preise für Spieler zahlen, die völliger Quatsch sind. Man kann nicht unbedingt sagen, dass dort sehr schlau eingekauft wird. Nur: Woher sollen es die Verantwortlichen besser wissen? Betriebswirtschaftlich formuliert: Sie wissen nicht, ein Produkt richtig zu bepreisen, weil sie branchenfremd sind. Kostet der Neuzugang 20 Millionen oder 40 Millionen? Die anderen Ligen nehmen das Geld dankend an, wohl wissend, dass es viel zu viel ist.
SPOX: Ist die Erfahrung als Ex-Profi so wichtig?
Lehmann: Bayern München ist sicherlich ein gutes Beispiel, da dort ehemalige Fußballer, sogar ehemalige Top-Fußballer, die Entscheidungen treffen. Es gibt viele Vereine, die ein zumindest ähnliches Potenzial besitzen und bei weitem nicht ausnutzen, weil sie einfach nicht gut genug aufgestellt sind.
SPOX: Andersherum gefragt: Fehlt vielen Ex-Profis das Knowhow, der Eifer und das Netzwerk, um sich besser zu positionieren?
Lehmann: Bis zu einem gewissen Teil bestimmt. Daher bleibt der Fußball ein geschlossener Kreis, so dass es einigen Ex-Profis sehr schwer fällt, da einzudringen. Zumal es ja auch einige Trainer und Manager gibt, die zwar nie selbst hoch gespielt haben, aber dennoch gut arbeiten und sich oben halten. Trotzdem glaube ich: Die Wahrscheinlichkeit, richtige Entscheidungen zu treffen, ist größer, wenn man selbst Fußball auf hohem Niveau erlebt hat.
SPOX: Sie besitzen den Trainerschein. Sehen Sie sich als Coach?
Lehmann: Grundsätzlich ist Trainer der spannendere Job.
SPOX: Warum?
Lehmann: Man muss permanent damit leben, bei Erfolg schnell die Karriereleiter zu erklimmen und bei Misserfolg schnell weg zu sein. Das ist spannend.
SPOX: Entspricht das Ihrem Charakter?
Lehmann: Ich stand als Fußballer häufig unter Druck und genoss es, weil unter Druck die Leistung besser war.
SPOX: In England könnten Sie beides verbinden: Als Manager wären Sie Trainer und Sportdirektor in einem. Ist eine Rückkehr denkbar?
Lehmann: England ist der prinzipiell interessanteste Markt, weil er der größte ist. Ob es sofort interessant ist, weiß ich nicht. Es hängt ein bisschen davon ab, wo genau in England. Es ist nicht so wie in Deutschland, wo man in vielen Städten tolle Arbeitsbedingungen vorfindet. Es gibt England und es gibt London, das ist ein großer Unterschied.
SPOX: Bei allen Transferausgaben: Wie sehen Sie die Leistungsstärke des englischen Fußballs? Droht er, seinen Status zu verlieren?
Lehmann: England hat keinen Status zu verlieren, weil es sportlich keinen herausgehobenen Status besitzt. Die englische Nationalmannschaft war von der Heim-EM abgesehen bei den Großturnieren der letzten 30, 40 Jahre nie gut. Und der englische Klubfußball ist international eine große Enttäuschung, wenn man wie in der letzten Saison vier Teams in der Champions League stellt und kein Team trotz der Mittel ins Viertelfinale kommt. Über kurz oder lang wird es eine Umstrukturierung nach sich ziehen müssen. Wie gesagt: Das englische Geld ist nicht das schlauste Geld. Es ist nur in Unmengen da.
SPOX: Jürgen Klopp schließt ein Engagement in England nicht aus. Trauen Sie ihm die Premier League zu?
Lehmann: Ich kann die Frage weder mit ja noch mit nein beantworten. Er hat in Dortmund fantastische Arbeit abgeliefert, doch das ist Geschichte. Ob es in ungewohnter Umgebung, wo immer es sein wird, ähnlich passt, kann ich schwer vorhersagen. Aber warum nicht England? Es wäre ein wichtiges Signal, wenn ein Deutscher zu einem ausländischen Topklub gehen würde. Das gab es seit Jupp Heynckes und Real Madrid nicht mehr. Wir sagen immer, wie großartig unsere Trainerausbildung ist. Das Problem ist, dass das nicht mit Beweisen unterfüttert wird. Da müssen wir hinkommen. So könnte Klopp im Ausland das Aushängeschild für die deutsche Trainergilde werden.
SPOX: Sie selbst sind 1998 aus dem vertrauten Schalke zum AC Milan gewechselt und kehrten nach nur einem halben Jahr nach Deutschland zurück. Im Nachhinein sagten Sie, dass Sie es bereuen würden und Sie sich gewünscht hätten, länger bei Milan geblieben zu sein. Was raten Sie Paris' Kevin Trapp und Barcelonas Marc-Andre ter Stegen? Sie patzten zuletzt und werden von den Medien kritisiert.
Lehmann: Ter Stegen ist Champions-League-Sieger geworden, ich wüsste nicht, was es da zu kritisieren gibt. Trapp benötigt eine Eingewöhnungszeit. Er ist ein guter Torwart, aber er muss ein sehr guter Torwart werden. Das dauert und ist in seinem Alter normal. Ich würde ihnen raten, geduldig zu bleiben. Fehler werden sie wie alle Torhüter immer machen, dennoch verfügen sie über tolle Voraussetzungen. Ich wäre an ihrer Stelle optimistisch.
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