"Klubs wie 1860 sind interessanter"

Jens Lehmann spielte von 2003 bis 2008 in der Premier League beim FC Arsenal
© getty

England als abschreckendes Beispiel: Mit deutlichen Worten warnt Jens Lehmann vor einem Abfall der Bundesliga und stellt der Premier League ein knallhartes Zeugnis aus. Der Grund: die große Macht der "Theoretiker". Er selbst gibt überraschend offene Einblicke in seine Zukunftspläne - und hat klare Vorstellungen über seinen möglichen Arbeitgeber.

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SPOX: Herr Lehmann, Sie leben in der Umgebung von München, dem Mittelpunkt der Flüchtlingswelle. Haben Sie direkte Berührungspunkte?

Jens Lehmann: Natürlich. Bei mir im Heimatort wurden auch Flüchtlingszelte aufgestellt und niemand weiß genau, wie es weitergeht. Ich habe zwei Gedanken, die mir immer wieder durch den Kopf gehen: Einerseits sollte man sich bei allen Debatten die Angst vor Augen führen, die jeden Flüchtling dazu bewogen haben muss, solch eine Tortur auf sich zu nehmen und die Heimat zu verlassen. Andererseits überlegt man ganz pragmatisch, wie man selbst helfen kann.

SPOX: Verstehen Sie den Teil der deutschen Bevölkerung, der vor einer Überfremdung warnt?

Lehmann: Jeder hat Angst vor Fremdem, das liegt in uns. Allerdings relativiert sich das, wenn man selbst irgendwo mal fremd war. Es ist nicht schlecht für die eigene Persönlichkeitsentwicklung, selbst mal Ausländer zu sein und zu verstehen, wie sich Ausländer bei uns fühlen. Ich empfand vor allem die Zeit beim FC Arsenal als besonders wertvoll. Natürlich ist man als Fußballer privilegiert, aber man hat dennoch im Alltag in der unmittelbaren Nachbarschaft gelernt, wie verschiedenste Kulturen auf engstem Raum friedlich zusammenleben können.

SPOX: Sie sind nicht nur Laureus Botschafter, sondern beteiligen sich als Vorstandsmitglied aktiv an der Arbeit der Laureus Sport for Good Foundation in Deutschland und Österreich. Überlegen Sie, ein Angebot speziell für die Flüchtlingskinder zu entwickeln?

Lehmann: Laureus beschäftigt sich schon lange mit der Thematik. In meinem Projekt, den Kicking Girls, sind beispielsweise viele Kinder mit Migrationshintergrund. Sie entstammen zwar nicht der aktuellen Flüchtlingswelle, doch wir von der Stiftung haben Erfahrungen gesammelt, wie herausfordernd die Integration ist und wie sehr der Sport dabei unterstützen kann. Aus diesem Grund werden wir in sehr naher Zukunft überlegen, wie wir bestmöglich helfen können.

SPOX: Was steckt hinter dem Kicking-Girls-Projekt?

Lehmann: Kicking Girls wendet sich speziell an Mädchen mit Migrationshintergrund, die von Haus aus nicht Fußball spielen dürfen, weil in Deutschland häufig männliche Trainer die Mädchen-Mannschaften betreuen. Es gibt nach wie vor kulturelle Schranken und die Väter verbieten, dass ihre Mädchen unter einem männlichen Trainer spielen. Darum beschäftigen wir Trainerinnen und sogenannte Assistentinnen und stellen die Ausrüstung. Häufig haben die Mädchen nicht einmal das Geld, um sich Schuhe zu kaufen. Hinzu kommen Probleme bei der Integration und in der Schule, weil ihnen Selbstwertgefühl und Erfolgserlebnisse fehlen. Daher möchten wir die Mädchen ermutigen, im Sport Spaß zu haben, und bieten zusätzlich an, sie zu Trainerinnen oder Assistentinnen auszubilden. So soll das Vertrauen in sich und andere aufgebaut werden. Es freut mich ungemein, dass das Projekt so gut aufgenommen wird und der eine oder andere Vater sieht, wie viel Freude die Mädchen ausstrahlen, wenn sie kicken dürfen. Auch international gibt es Interesse an dem Konzept.

SPOX: Woher kommt Ihre karitative Ader? Waren das Heranwachsen im Ruhrpott und der langsame Abstieg der einst wohlhabenden Region womöglich charakterbildend? Sie wurden in Essen geboren und spielten für Schalke und Dortmund.

Lehmann: Als ich aufwuchs, war das Ruhrgebiet noch der industrielle Treiber Deutschlands, entsprechend haben mich die später einsetzenden negativen Folgen des Strukturwandels nicht direkt geprägt. Indirekt habe ich natürlich verfolgt, welche Auswirkungen jeder Einzelne zu tragen hat, weil sich gesamtgesellschaftlich fundamentale Dinge ändern. Wenn ich nach Ostdeutschland fahre, fällt mir immer auf, dass die Infrastruktur dank des Solidaritätszuschlags viel besser dasteht als im Ruhrgebiet. So wichtig und gut es für Ostdeutschland ist - für den Pott ist das bitter. In den Jahrzehnten nach dem Krieg war das Ruhrgebiet die Region, die den Wiederaufbau maßgeblich ermöglicht hat. Jetzt wird sie wenig beachtet. Wenn ich dort bin, wundere ich mich leider immer, wie die Vernachlässigung in den Städten zu Tage tritt. Ich finde: Bei aller Solidarität mit den Flüchtlingen dürfen wir nicht vergessen, dass wir auch inländisch viel Bedarf haben.

SPOX: Sie interessieren sich für die Wirtschaft und die Zusammenhänge in der Gesellschaft. Stimmt es, dass Sie in Dortmund darauf bestanden haben, dass in der Kabine immer n-tv läuft?

Lehmann: Das war nicht nur ich, andere Mitspieler sprachen sich ebenfalls dafür aus. Es gab schon vom Elternhaus ein grundsätzliches Interesse an solchen Themen und ich habe von meinem Vater geerbt, gerne und viel zu lesen. Deswegen verstand ich nie, warum ich in der Kabine durchgängig auf irgendein Musikvideo starren muss, anstatt mich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Ich war nicht so sehr der Spieler, der gerne auf der Playstation gespielt hat.

SPOX: Ihre Antwort klingt danach, als ob Sie - falls Sie im Fußball verbleiben wollen - am ehesten eine Karriere als Sportdirektor oder Manager anstreben, um einen Klub ganzheitlich nach vorne zu bringen?

Lehmann: Etwas ganzheitlich zu begreifen, ist immer interessant. Ob ich das dann beruflich mache, weiß ich allerdings noch nicht. Es kann sein, dass ich bald wieder in den Fußball gehe. Doch es hängt immer vom Angebot ab, in welcher Funktion. Ganz ausschließen möchte ich eine Tätigkeit als Manager nicht.

SPOX: Sie waren kurzzeitig mit dem 1. FC Nürnberg in Kontakt. 1860 München hätte Bedarf. Könnte ein zweitklassiger Traditionsklub reizvoll sein?

Lehmann: Ich hatte Glück, immer für Traditionsvereine spielen zu dürfen: Schalke, Milan, Dortmund, Arsenal, Stuttgart. Wenn ich in das Fußballgeschäft zurückkehre, würde ich mir genau diese Tradition bei meinem neuen Klub wünschen. Wenn man zu einem Auswärtsspiel fährt und viele Fans mitreisen, versprüht der gesamte Verein eine andere Leidenschaft als bei einem Verein mit kurzer Historie. Daher sind 1860 München und Nürnberg, aber auch andere Klubs, für mich aus Prinzip interessanter - ohne zugleich ausschließen zu wollen, mal woanders zu arbeiten.

Seite 1: Lehmann über Flüchtlingshilfe, sein Laures-Projekt und einen Job im Fußball

Seite 2: Lehmann über die Dominanz der Theoretiker und Probleme in England