Markus Merk im Karriere-Interview: Tragödie um Foe? "Mein erster Gedanke war: Der lebt nicht mehr"

Philipp Schmidt
22. Dezember 202008:24
Markus Merk war einer der besten Schiedsrichter der Welt.getty
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Dreifacher Weltschiedsrichter, eigene Zahnarztpraxis, Extremsportler, TV-Experte in der Türkei, Gründer eines Hilfsprojekts in Indien: Markus Merk kann auf und neben dem Platz auf eine illustre Laufbahn zurückblicken - und hat dies in einem ausführlichen Interview mit SPOX und Goal getan.

Im ersten Teil des Interviews spricht Merk über seine Schiedsrichterkarriere, in der er zwischen 1988 und 2008 339 Partien in der Bundesliga leitete - über seine ersten Spiele im Alter von nur zwölf Jahren, welchen entscheidenden Einfluss die Bundeswehr auf seinem Weg hatte und die Vereinbarkeit mit seinem eigentlichen Beruf als Zahnarzt.

Zudem blickt er auf positive wie negative Karrierehöhepunkte zurück: "Mach et, Otze", Messis Rote Karte bei dessen Länderspieldebüt nach 44 Sekunden, das EM- und Champions-League-Finale, Schalkes Fast-Meisterschaft 2001, den Tod von Marc-Vivien Foe beim Confed-Cup sowie die schreckliche Heim-WM.

Herr Merk, in Ihrer Jugend waren Sie zehn Jahre lang Messdiener, später wurden Sie promovierter Zahnarzt mit einer eigenen Praxis. Wie sind Sie überhaupt zum Fußball gekommen?

Markus Merk: Ich bin in Kaiserslautern geboren, mein Elternhaus steht genau 300 Schritte vom Fritz-Walter-Stadion entfernt. Mein Papa war einer der letzten großen Ehrenamtler im Verein. Deshalb war sein großer Traum: Wenn ich mal ein Haus bauen kann, dann auf dem Betzenberg. 1968 fingen wir an. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur das Stadion und den Wald und er hat einen der letzten Bauplätze bekommen. Als wir eingezogen sind, war ich acht Jahre alt.

Schon zuvor haben Sie für den FCK gespielt.

Merk: Genau. Mit fünf habe ich meinen ersten Spielerpass beim FCK bekommen und durfte bei der gerade gegründeten E-Jugend mitmachen. Ich war der Kleinste. Es gab noch nicht einmal Fußballschuhe in meiner Größe. Ich habe dann mit den ersten Worten, die ich schreiben konnte, die Firma Adidas angeschrieben. Die schickten mir das Modell "Uns Uwe" in Größe 30 zu.

Markus Merk (2.v.l.) war am 31. Oktober 1970 im Alter von acht Jahren einer der stolzen Gratulanten, als Fritz Walter im später nach ihm benannten Stadion das Bundesverdienstkreuz verliehen wird.Markus Merk

Merk: Erster Einsatz? "Mutter musste schwarze Bluse opfern"

Wie sind Sie schließlich dazu gekommen, Schiedsrichter werden zu wollen?

Merk: Mein Papa hat seit Beginn der Bundesliga 1963 die Schiedsrichter betreut. Die reisten immer einen Tag vor dem Spiel an, wurden abgeholt und gingen mit den Betreuern essen. Das waren richtige Bekanntschaften und so kam ich damit in Kontakt. Es kam oft vor, dass die Schiedsrichter nach den Spielen bei uns auf der Couch saßen, weil sie die Sportschau sehen wollten. Ich war leidenschaftlicher Kicker, aber die Schiedsrichter mit ihrem Team haben mich fasziniert.

Ab wann sagten Sie dann: Ich will Schiedsrichter werden?

Merk: Mit zwölf. Heute ist das normal, aber damals ging das beim DFB erst ab 15. Ich bekam eine Sondergenehmigung und konnte so die Prüfung machen. Ich habe dann in der Nachbarschaft mein erstes Spiel gepfiffen und direkt einen Aufstieg hingelegt.

Inwiefern?

Merk: Ich pfiff zunächst ein E-Jugend-Spiel. Anschließend spielte noch die D-Jugend, aber der Schiedsrichter kam nicht. Daher durfte ich da auch noch pfeifen - ein Aufstieg von einer Altersklasse am ersten Tag! Es gab auch keine Spielkleidung, noch nicht einmal schwarze Hemden für Kinder. Meine Mutter musste ihre schwarze Bluse opfern. So nahm alles seinen Lauf. Ich war später dann in allen Klassen der Jüngste. Mit 23 in der 2. Liga und mit 26 in der Bundesliga zu pfeifen, war eine Revolution. 'Vom Running Gag zum Bundesliga-Schiedsrichter', schrieb die Presse.

Sie wurden auf dem Weg zum Bundesliga-Schiedsrichter von der Bundeswehr eingezogen. Das passte Ihnen bestimmt nicht in den Kram, oder?

Merk: Im Mai 1981 machte ich Abitur und am 1. Juli hieß es: Ab zur Grundausbildung! Nach ein paar Wochen wurde mir klar: Das wird jetzt richtig blöd für meine Schiedsrichterei. Ich wollte ja jede Woche pfeifen und in den Ligen aufsteigen. Eine längere Pause konnte ich mir nicht erlauben.

Wie haben Sie das letztlich gelöst?

Merk: Ich habe mich während der Grundausbildung für zwei Jahre fest verpflichtet, damit ich in die US-Airbase nach Ramstein in der Nähe von Kaiserslautern komme. Albert Dusch, mein damaliger Lehrmeister beim Verband - übrigens ebenfalls aus Kaiserslautern und 1958 sowie 1962 WM-Schiedsrichter -, hat ein Schreiben aufgesetzt. Da mein Vorgesetzter in der Kaserne fußballbegeistert war, erhielt ich diese Möglichkeit, musste mich aber verpflichten und sofort unterschreiben.

Was haben Ihre Eltern gesagt?

Merk: Mein Papa ist fast ausgeflippt. Ich erklärte ihm aber, dass ich sonst nicht weiter pfeifen könnte. Dann hatte ich erneut Glück: Eigentlich sollte ich in den Bunker, wurde aber im Personalbüro eingesetzt. Die ganze Bürokratie der Region lag da auf dem Schreibtisch. Als ich aber mitbekam, wie brutal die Arbeit und Dienstzeiten im Bunker sind, war ich froh mit dem Bürojob. Ich durfte sogar frühzeitig gehen.

Um Zahnmedizin in Köln zu studieren.

Merk: Ich studierte fünf Jahre und eröffnete danach in Kaiserslautern eine Praxis. 1988 kam ich in die Bundesliga, das war aber auch das Examenssemester mit 14 oder 15 Prüfungen. Damals wusste ich schon, dass ich mit 35 aber etwas anderes in meinem Leben machen will. Daran erinnerte ich mich, als ich dann 35 war und in meiner Praxis stand. Die hatte ich aber erst ein paar Jahre und der Kredit lief noch. Letztlich verkaufte ich die Praxis nach zwölf Jahren - unwissend, was kommen sollte.

Sein erstes Bundesligaspiel leitete Merk am 20. August 1988 zwischen dem VfL Bochum und Bayer Uerdingen.imago images / Horstmüller

Merk über Leistungstest: "Schon immer ein ziemliches Tier"

Wie war denn die Arbeit in der Praxis mit dem Schiedsrichter-Job in der Bundesliga vereinbar?

Merk: Die Praxis war die Naherholung. Freitags stand um 17 Uhr mein Assistent vor der Tür und holte mich ab. Im Jahr der Praxis-Eröffnung kam ich zudem auf die internationale Schiedsrichterliste - und dann wird es unberechenbar. 1992 wurde ich ohne einen einzigen internationalen Einsatz für Olympia in Barcelona nominiert.

Wie das?

Merk: Durch die Herabsenkung der Altersgrenze von 50 auf 45 Jahre sind zahlreiche Kollegen nicht mehr in Frage gekommen. Es wurde auch ein größerer Wert auf Athletik gelegt und in der Hinsicht war ich schon immer ein ziemliches Tier. Meinen ersten Marathon lief ich mit 15. Beim Cooper-Test in der Olympia-Vorbereitung bin ich knapp 3.500 Meter gelaufen, ein absoluter Spitzenwert. Direkt am Eröffnungstag kam es dann zu einer verrückten Partie.

Sie pfiffen das Spiel des Gastgebers gegen Kolumbien und verteilten vier Rote Karten.

Merk: Die Spiele zwischen südeuropäischen und südamerikanischen Mannschaften im U-Bereich waren immer die schwersten, mit vielen Platzverweisen und einer harten Spielweise. Damals gab die FIFA vor, Tacklings von hinten direkt mit Rot zu ahnden. Es ging dann heiß her und gab auf beiden Seiten Gelb-Rot und Rot, das passierte mir in meiner Karriere nie wieder. Direkt danach wurde ich aber für die U20-WM nominiert. Das war für mich eine Bestätigung.

Wie sah es denn bei den Einsätzen in der Champions League aus, wie konnten Sie die in Ihre Arbeitswoche integrieren?

Merk: Mein gesamter Jahresurlaub ging für Fußball sowie meine humanitären Projekte in Indien, die ich 1991 startete, drauf. Wenn mittwochs ein Champions-League-Spiel anstand, ging es Dienstagmittag von der Praxis an den Frankfurter Flughafen. Um 11 Uhr am Donnerstag war ich zurück und freitags ging es mit der Bundesliga weiter. Das muss man schon wollen und auch können. In den letzten Jahren hatte ich schließlich eine Praxisgemeinschaft, da ich wollte, dass sie läuft, wenn ich nicht da bin.

Was hat es genau mit dem Engagement in Indien auf sich?

Merk: Ich war schon als Messdiener begeistert von Menschen, die in der Dritten Welt gearbeitet haben und zu uns in die Kirche gekommen sind. Eines Tages saß ich in der Praxis und erinnerte mich daran, dass ich mir diesen Wunsch noch immer nicht erfüllt hatte. Ich blätterte so durch die Zeitschriften und sah, dass jemand für Indien gesucht wurde. Das wäre ohnehin meine Präferenz gewesen. Zwei Wochen später sagte ich zu meinem Chef: In sechs Wochen bin ich weg.

Und haben das in die Tat umgesetzt?

Merk: Klar. In der Nacht des Beginns des Golfkrieges im Januar 1991 flog ich nach Süd-Indien und habe 35 Kinderheime mit 2.500 Kindern zahnärztlich versorgt. Das tat ich mehrere Jahre, 1993 fing ich auch mit eigenen Projekten an. Mit meinem Verein Indienhilfe Kaiserslautern haben wir drei Kinderdörfer, fünf Schulen, elf Waisenhäuser und Altenheime. Zunächst half ich als Zahnarzt, später kam die Organisation in Verbindung mit der Praxis und der Schiedsrichtertätigkeit hinzu. Das hat zwar nicht jedem gefallen, aber für mich war alles wichtig. Entscheidend ist, den Hebel umlegen zu können. Man darf nicht auf den Platz gehen und denken: Diese ganzen Sprüche vonwegen ein Spiel auf Leben um Tod - was für ein Schwachsinn! Entscheidend ist es in Indien. Dann kannst du nur Fehler machen.

Markus Merk: Statistiken seiner Schiedsrichter-Karriere

WettbewerbSpieleGelbe KartenRote/Gelb-Rote KartenElfmeter
Bundesliga338125777100
2. Liga852762119
Champions League49166176
EM-/WM-Quali248662
DFB-Pokal238085
UEFA-Cup153154
EM63125
WM52501

Wie nahmen Sie als Schiedsrichter die mit der Zeit stark zunehmende mediale Begleitung des Fußballs wahr?

Merk: Als ich 1988 in die Bundesliga kam, ging es gerade los mit der Sendung ran, in der alle Spiele gezeigt wurden. Live-Übertragungen gab es nicht von allen Plätzen, von einigen Partien war überhaupt nichts zu sehen. Als ich in meinen ersten Jahren Juventus Turin gegen Manchester United leitete und einen Tag später nach Hause kam, fragte man mich, wie das Spiel war. Keiner hatte auch nur eine einzige Szene gesehen.

Auch die Bewertung Ihrer Leistungen wurde dann häufiger vorgenommen.

Merk: Wenn einer schrieb, dass der Merk einen Fehler gemacht hat, dann haben das alle übernommen und wurde zur Tatsache. Insbesondere in der Champions League wurde mit der Zeit jeder Schritt beobachtet. Eigentlich geht das aber schon vor 100 Zuschauern in der E-Jugend mit den Eltern los und endet dann bei einem Spiel zwischen Uruguay und Argentinien vor über 100.000 in Montevideo. Da brennt der Baum, aber das willst du ja auch. Daran wächst man als Schiedsrichter.

Apropos Argentinien: Im August 2005 stellten Sie den 17-jährigen Lionel Messi bei seinem Länderspieldebüt nur 44 Sekunden nach seiner Einwechslung mit Rot vom Feld. Wie erinnern Sie sich?

Merk: Er wurde bei seiner ersten Ballaktion gehalten, schlug nach hinten aus und traf seinen Gegenspieler am Hals. Das geschah im Affekt. Gelb wäre auch vertretbar gewesen. Meine Linie war aber immer, konsequent zu sein - egal, ob in der ersten oder letzten Minute, in einem EM-Finale oder Freundschaftsspiel. Vielleicht half es Messi sogar dabei, später so häufig zum Weltfußballer gewählt zu werden, weil durch ein solch einschneidendes Erlebnis bereits in jungen Jahren ein Lernprozess eingesetzt hat.

In Ihrer gesamten Zeit als Schiedsrichter gab es viele Höhepunkte für Sie. Wie sind Sie denn mit den schwereren Phasen umgegangen?

Merk: Mein Freund Fritz Walter hat mich Demut gelehrt. Auch nach einer guten Leistung kannst du schließlich eine Woche später wieder einen auf den Deckel kriegen. Ich wurde in den Neunzigern trotz guter Leistungen für viele Dinge nicht berücksichtigt, weil die Älteren vielleicht eher dran waren. Dass irgendwann ein Champions-League-Finale kommt, war mir aber seit 1997 klar.

Beckham, Zidane, Messi und Co.: Merk leitete Spiele zahlreicher Legenden.getty

Merk in seinen besten Jahren: "Sicher, dass alles laufen wird"

Trotzdem dauerte es dann noch sechs Jahre, ehe es dazu kam.

Merk: Ich war bereits im Pool für die WM 1994 in den USA. Doch da wäre ich erst 32 Jahre alt gewesen. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich international noch weiterentwickeln kann. Ich wusste, dass ich es mir spätestens ab 2000 nur selbst kaputtmachen könnte, um ignoriert zu werden. Konstanz war meine große Stärke, daher war ich total entspannt. Es folgten meine besten Jahre. Vor mir gab es keinen, der zwei EMs oder WMs gepfiffen hatte. Dreimal Weltschiedsrichter zu werden, war für mich das Größte, weil man von neutralen Personen aus über hundert Nationen ausgezeichnet wird. Da geht man dann ins Spiel und ist sich sicher, dass das heute alles laufen wird.

2000 pfiffen Sie bei der EM das Eröffnungsspiel und ein Halbfinale, 2002 waren Sie bei der WM dabei und leiteten 2004 als bisher einziger deutscher Schiedsrichter ein EM-Finale. 2003 kam das erste Champions-League-Finale hinzu. Wieso bezeichneten Sie dieses anschließend als etwas ganz Besonderes?

Merk: Mein Papa hatte akzeptiert, dass ich Schiedsrichter werde. Ihm wäre es aber lieber gewesen, wenn ich Fußball gespielt hätte. Als ich mich mit 14 endgültig für die Schiedsrichterei entschied, hatten wir ein Jahr lang Streit. 1977 saßen wir dann gemeinsam vor dem Fernsehen und guckten das Finale der Landesmeister zwischen Gladbach und Liverpool. Wenn ich so ein Spiel mal pfeife, lade ich dich ein, sagte ich zu ihm. In diesem Moment hat er zum ersten Mal seit einem Jahr wieder gelacht. 2003 wurde an einem Montag öffentlich - ich wusste es schon eine Woche vorher - dass ich das Finale im Old Trafford pfeifen werde. Ich hatte übers Wochenende schon alles besorgt, bin in der Mittagspause zu meinem Elternhaus gegangen, habe in die Tasche gegriffen und gesagt: Papa, ich habe es dir vor 26 Jahren versprochen: Hier sind das Flugticket und die Karte für Manchester. Das war mein persönliches Highlight, weil ich ein hoch emotionaler Mensch bin.

In Ihrer langen Laufbahn gab es neben diesen Highlights auch einige mehr oder wenige bekannte Episoden wie das DFB-Pokal-Viertelfinale 1997 zwischen Alemannia Aachen und SV Waldhof Mannheim. Damals sorgte ein Elfmeter für großen Gesprächsstoff.

Merk: Wenn man diese Szene hätte nachstellen wollen, es wäre nicht gelungen... Ich gab Elfmeter für die Alemannia. Zuvor flog ein Ball in den Waldhof-Block und kam nicht mehr zurück. Der Torwart hielt den Elfmeter, ließ ihn abprallen und in genau diesem Augenblick flog der andere Ball zurück auf dem Platz. Den Wurf über den Fangzaun kannst du eigentlich gar nicht so genau berechnen, die Fans wollten wahrscheinlich schon vorher den Schützen bei der Ausführung stören. Der Nachschuss wurde dann verwandelt und zwar unhaltbar für den Torhüter. Ich musste aber Schiedsrichterball geben - ohne Diskussion. Gerecht war vielleicht etwas anderes, aber es war regelkonform. Die Emotionen kochten zwar hoch, aber am Ende war jeder vernünftig. Im Elfmeterschießen hat Mario Krohm, der Schütze des angesprochenen Elfmeters, übrigens erneut verschossen und Mannheim gewonnen.

Legendär war natürlich das Saisonfinale 2001, als Schalke 04 für vier Minuten Deutscher Meister war und Sie in Hamburg einen indirekten Freistoß gaben, mit dem Patrik Andersson den FC Bayern in der Nachspielzeit zum Titel schoss. Wie blicken Sie heute darauf zurück?

Merk: Die Bilder der weinenden Schalker Fans gehen mir bis heute nahe. Wenn du aber etwas selbst in der Hand hast und es verspielst, darfst du niemandem die Schuld geben. Schalke hatte ja am 33. Spieltag in Stuttgart verloren und die Bayern gleichzeitig in der 90. Minute gegen Kaiserslautern gewonnen. In dieser Saison haben die Bayern mit mir in Cottbus und Rostock verloren, ich habe sogar Oliver Kahn vom Platz gestellt. Schalke hat mit mir in Dortmund und kurz vor Saisonende in Leverkusen gewonnen. Danach kam Rudi Assauer zu mir und sagte, ich sei ja ein richtiger Glücksbringer für Schalke.

2001 fühlte sich Schalke 04 für wenigen Minuten als Deutscher Meister.getty

S04 Meister der Herzen: "Nicht dafür da, die Regeln zu beugen"

Der indirekte Freistoß innerhalb des Strafraums hatte seinen Ursprung in einem Rückpass, den HSV-Keeper Mathias Schober aufnahm. Eine solche Entscheidung kommt nicht häufig vor...

Merk: Ich habe das in meinem Leben zweimal so entschieden: 1992 in Barcelona, zu diesem Turnier ist die Regel eingeführt worden, und neun Jahre später im Volksparkstadion. Ich würde immer wieder so entscheiden, auch wenn man das nicht will. Ich bin aber nicht dafür da, die Regeln zu beugen.

Sie haben danach nie wieder ein Schalke-Spiel gepfiffen.

Merk: Das war meine persönliche Entscheidung, es gab keinen Druck von oben. Wenn ich bereits vor dem Anpfiff im Mittelpunkt des Spiels gestanden hätte, wäre das nicht förderlich gewesen. Mit vielen Schalkern bin ich über die Jahre wieder zusammengekommen. Sie waren nicht glücklich darüber, aber das Thema war dann auch erledigt.

Kann es in solch einer auch dramatischen Situation nicht passieren, dass die gesamten Begleitumstände eine Entscheidung beeinflussen?

Merk: Wenn ich so gedacht hätte, wäre ich nicht berechenbar und über Jahre so leistungsfähig gewesen. Das würde sich dann auch auf andere Situationen auswirken. Nach dem Motto: Der erste Elfmeter war fragwürdig, jetzt gebe ich den anderen auch einen.

Zehn Jahre zuvor pfiffen Sie das DFB-Pokal-Halbfinale zwischen Köln und Duisburg, als es zum berühmten Spruch "Macht et, Otze" kam.

Merk: Frank Ordenewitz hatte bereits Gelb gesehen und wäre im Endspiel gesperrt gewesen. Eine Rote Karte hingegen hätte nur eine Sperre für die Liga zur Folge gehabt. Dies teilte Ordenewitz während des Spiels seinem Trainer Erich Rutemöller mit. Der meinte dann nur: "Mach et, Otze." Also hat der Ordenewitz den Ball in einer belanglosen Situation einfach weggehauen. Ich wusste genau, was er vorhatte, aber dennoch stand es nicht zur Debatte, ihn auf dem Platz zu lassen. Nach dem Platzverweis hat er sich bei mir sogar bedankt, wurde jedoch nachträglich vom DFB fürs Finale gesperrt.

Ein extrem tragisches Erlebnis mussten Sie beim Confederations Cup 2003 verarbeiten, als der Kameruner Spieler Marc-Vivien Foe im Halbfinale gegen Kolumbien nach 73 Minuten tot zusammenbrach. Wie sind Sie damit umgegangen?

Merk: Ich habe lange nicht darüber gesprochen. Das war der Tiefpunkt meiner Laufbahn, das wünsche ich niemandem. Es war ein furchtbar heißer Sommer in Lyon mit über 40 Grad. Ich sah, wie er hinfiel und war auch der Erste, der bei ihm war. Dann kamen die Betreuer, haben ihn behandelt und direkt zum Krankenwagen getragen. Mein erster Gedanke war: Der lebt nicht mehr! Es blieb aber bei den Beteiligten und auf den Zuschauerrängen sehr ruhig - bis zum Abpfiff.

Was geschah dann?

Merk: Im Spielertunnel bekamen wir erste Informationen. Diese Minuten - ich war auch noch in der Kabine von Kamerun - waren grausam. Am Tag danach wäre ich am liebsten abgereist. Immer wenn in den anschließenden Monaten auf dem Platz irgendwas passiert ist, ein harter Zweikampf, ein Spieler am Boden, bin ich zusammengezuckt. Meine Gelassenheit war wie weggeblasen. Eine solche Situation, dass ein junger und fitter Spieler auf dem Rasen tot umfällt, ist nur schwer zu verkraften. Da sieht man, wie unwichtig und klein es ist, ob der Ball hinter der Linie ist oder nicht.

Merk & Kahn beenden Karriere: "Hoch bewegende Augenblicke"

Drei Jahre später leiteten Sie bei der Heim-WM in Deutschland drei Spiele. Eine großes Partie oder eine Partie auf dem Betzenberg war aber nicht dabei. Wieso?

Merk: Ab 2003 kam es innerhalb der FIFA zu einem Strukturwandel. Sportpolitisch waren es für nahezu alle europäischen Schiedsrichter drei ganz komplizierte Jahre bis zur WM. Jeder wusste, dass es mein Traum war, daheim zu pfeifen. Wer hat diese Möglichkeit schon? Doch bereits ein halbes Jahr vorher war klar, dass es gerade deshalb nicht passieren wird. Dabei hätte es sich aufgrund der Gruppenkonstellation mit Spielen wie Japan gegen Australien oder Paraguay gegen Trinidad & Tobago absolut angeboten.

Eröffnungsspiel, die Halbfinals, das Spiel um Platz drei, das Endspiel - kein einziger europäischer Schiedsrichter durfte 2006 eines dieser Spiele leiten. Weshalb war das so?

Merk: Und das waren Schiedsrichter, die in der Champions League Woche für Woche mit den besten Spielern der Welt zu tun hatten. So schlecht konnten die also gar nicht sein. Jeder dachte, dass ich der WM entgegenfiebere, aber ich wusste schon 2003, dass das nichts wird. Man ist eine Figur der Sportpolitik. Einen Tag vor dem Finale bin ich abgereist und habe gesagt: Ich mache das nicht mehr mit. Während ganz Deutschland feierte, saß ich zuhause.

Zwei Jahre später leiteten Sie 2008 Ihr letztes Bundesligaspiel. Auch Oliver Kahn beendete damals seine Karriere. Mit ihm tauschten Sie nach der Partie das Trikot. War das spontan?

Merk: Ja. Kurioserweise waren es auch bei ihm genau 20 Jahre, seine erste Saison war meine erste Saison. Eine solch große Wertschätzung erfährt man nicht immer. Das waren hoch bewegende Augenblicke, zumal ja auch Ottmar Hitzfeld verabschiedet wurde.

Sie hatten beschlossen, ein Jahr vor Erreichen der Altersgrenze aufzuhören. Warum?

Merk: Man bot mir an, die Grenze für mich aufzuheben, aber das wollte ich nicht. Alle wussten, dass ich nicht ins letzte Jahr gehen wollte. Ein Jahr vorher machte ich international Schluss, da wurde ich auch noch einmal Weltschiedsrichter. Ich wollte eine selbstbestimmte Entscheidung auf dem Höhepunkt treffen und keine Abschiedstour haben, wo ich dann auf jeder Station die gleichen Sprüche zu hören bekomme.