Fußball-Kolumne: Keine Tore, kein System, kein Geld! Die Gründe für Italiens WM-Aus

Martin Volkmar
25. März 202216:37
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Nur 256 Tage nach dem EM-Sieg stürzt der italienische Fußball nach dem sensationellen WM-Aus in die nächste Krise. Die Gründe liegen nicht nur an Nationalcoach Roberto Mancini und sind vor allem nicht neu. Die Fußball-Kolumne.

Fast genau ein Jahr ist es her, dass der vermeintliche Fußball-Zwerg Nordmazedonien mit einem Tor in den letzten Spielminuten einen ehemaligen Welt- und Europameister erschütterte.

In der Duisburger Schauinsland-Reisen-Arena traf Eljif Elmas damals nach einem Konter zum sensationellen 2:1-Sieg in der WM-Qualifikation gegen Deutschland. Selbst seriöse Medien schrieben danach von einer Blamage.

Zur gleichen Zeit gewann das runderneuerte Italien 2:0 gegen Litauen und hatte somit nach drei Spielen 6:0 Tore und neun Punkte auf dem Konto, die WM-Teilnahme in Katar schien ein Selbstläufer zu werden.

Es folgten im Juni zwei Testspiele mit 11:0 Treffern, danach die Euro-Vorrunde mit drei Siegen und 7:0 Toren. Erst in der K.o.-Runde musste die Squadra Azzurra erstmals Gegentreffer hinnehmen, holte sich aber am Ende mit für italienische Verhältnisse ungewohnt offensivem Fußball durch den Finalsieg gegen England den ersten EM-Titel seit 1968.

Der Triumphzug der runderneuerten Elf von Roberto Mancini keine vier Jahre nach dem desaströsen Verpassen der WM-Endrunde 2018 wurde eilfertig von deutschen Medien als Blaupause für einen Neuanfang der bei der EM kläglich gescheiterten DFB-Auswahl genommen.

Roberto Mancini trainiert seit 2018 die italienische Nationalmannschaft.getty

"Italien ist ein leuchtendes Beispiel für die deutsche Nationalelf"

"Was Deutschland von Italiens Wiederauferstehung lernen kann", titelte etwa ran.de. "Das sollte Deutschland von Italien lernen", forderte die WAZ. Und die Welt meinte: "Italien ist ein leuchtendes Beispiel für die deutsche Nationalelf."

256 Tage nach dem Finale von Wembley sind solche und ähnliche Forderungen komplett verstummt. Denn während die deutsche Mannschaft unter Löw-Nachfolger Hansi Flick in ihrer allerdings auch nicht besonders schweren Gruppe die Kurve bekam und sich problemlos vor Nordmazedonien als Gruppensieger für Katar qualifizierte, begann der italienische Absturz.

Seit dem EM-Sieg gewann die Squadra Azzurra nur noch zweimal und kassierte die erste Niederlage nach der Weltrekordserie von 37 ungeschlagenen Länderspielen in Folge. Die gravierendsten Folgen hatten aber die Unentschieden: Insgesamt vier Remis in den letzten fünf Qualifikationsspielen sorgten dafür, dass die Schweiz den Gruppensieg noch in letzter Sekunde wegschnappen konnte.

"Elfmeter-Tod" Jorginho bringt Italien um die direkte WM-Quali

Verantwortlich dafür die Helden des Sommers: Mittelfeldmotor Jorginho, nach der EM und dem Champions-League-Erfolg mit dem FC Chelsea zu Europas Fußballer des Jahres gekürt, vergab in beiden Spielen gegen die Schweiz (0:0, 1:1) den greifbar nahenden Sieg und das direkte Ticket nach Katar mit zwei verschossenen Elfmetern.

Und aus dem Spiel heraus war Italiens ungewohnter Sturm und Drang bei der Euro (13 Tore in sieben Partien) plötzlich nur noch ein laues Lüftchen, vor allem im letzten Gruppenspiel beim 0:0 gegen die limitierten Nordiren. "Vom Himmel der EM ins Fegefeuer. Was für eine Enttäuschung!", kommentierte Tuttosport danach. Und die spanische AS ging noch einen Schritt weiter: "Italien zurück in der Hölle!"

Denn mit diesem Tag war die Angst im italienischen Fußball zurück. Die Angst vor einem erneuten Scheitern in den Playoffs wie im Herbst 2017 gegen Schweden. Denn seit der EM "verzog sich die ganze Leichtigkeit auf dem Weg zur WM, die magischen Nächte von London sind leicht verblasst", schrieb der kicker.

Playoff gegen Nordmazedonien wird zur "Self-Fulfilling-Prophecy"

Und so wurde das Playoff-Halbfinale am Donnerstag zu einer Art "Self-Fulfilling-Prophecy". Zwar waren die Gastgeber mit 65 Prozent Ballbesitz, 16:0 Ecken und 32:4 Torschüssen haushoch überlegen, doch wirklich gefährlich wurden sie so gut wie nie.

Was erneut an der beinahe unerklärlichen Harmlosigkeit des bei der EM noch so glänzend aufspielenden Sturmtrios lag, dem Führenden der Torschützenliste der Serie A, Ciro Immobile, dem nach Treffern zweitbesten italienischen Angreifer Domenico Berardi und Napoli-Star Lorenzo Insigne.

Sie rechtfertigten das Vertrauen von Mancini ebenso wenig wie die anderen vier Spieler aus der Startelf des EM-Endspiels. Doch trotz der offensichtlichen Formkrisen von weiteren vermeintlichen Stützen wie Gianluigi Donnarumma und Marco Verratti verzichtete der Nationalcoach auf Experimente.

Roberto Mancini verzichtete auf gleich zwei Torjäger

Den hochveranlagten Stürmer Gianluca Scamacca (23) sortierte er schon vorher aus und brachte den eingebürgerten Joao Pedro, seit Sommer 2020 mit 26 Treffern in 66 Ligaspielen der erfolgreichste brasilianische Torjäger in Europas Topligen, erst in der 89. Minute.

Zu diesem Zeitpunkt hatte offenbar nicht nur die Tifosi im Stadion von Palermo und im ganzen Land, sondern auch die Spieler das Gefühl beschlichen, sie könnten noch stundenlang weiterspielen ohne zu treffen.

Und so passte auch der vernichtende Schlusspunkt ins Bild, als Aleksandar Trajkovski in der Nachspielzeit mit seinem Distanztreffer zum 1:0 Italien den K.o.-Stoß versetzte. Ebenso wie die Tatsache, dass ausgerechnet Elfmeter-Fehlschütze Jorginho zu spät kam, weil er zunächst reklamierte statt zum Ball zu gehen.

Historische Pleite für die Squadra Azzurra: Seit 2006 ohne WM-Sieg

"So wie die EM die schönste Erfahrung meines Lebens war, war dies die größte Enttäuschung", sagte der konsternierte Mancini, dessen Zukunft trotz Vertrags ungewiss ist, nach der historischen Pleite.

Bis zur verpassten WM 2018 waren die Azzurri seit 1958 immer bei kontinentalen Endrunden dabei gewesen, nun scheiterte der Weltmeister von 2006 bereits die zweite WM in Folge. Der Triumph von Berlin 2006 bleibt damit mindestens bis 2026 der letzte italienische Sieg in einem K.o.-Spiel, denn schon 2010 und 2014 blamierte sich das Team jeweils mit dem Aus in der Vorrunde.

"Italiens Fußball erreicht sein niedrigstes Niveau aller Zeiten"

"Der italienische Fußball erreicht sein niedrigstes Niveau aller Zeiten", urteilte der Corrierre della Serra. Der EM-Sieg ist vergessen, der Calcio steht wieder an einem ähnlichen Tiefpunkt wie 2017.

"Die tiefe italienische Krise erinnert in vielem an die Probleme in Deutschland zur Jahrtausendwende", schrieb ich damals in einem Kommentar: "Eine schwächelnde Liga, die hauptsächlich von ihrem früheren Glanz zehrt und strukturell wie sportlich der internationalen Spitze hinterherläuft. Ein System, das sowohl bei den meisten Klubs wie auch im Nationalteam lieber auf die Alten setzt anstatt den hoffnungsvollen Talenten eine Chance zu geben."

Wenn man den Fachleuten glauben darf, ist diese Analyse auch jetzt noch bzw. wieder aktuell. Mancini hat beim Neuaufbau vor allem auf Erfahrung gesetzt, den Kern bildeten die beiden Oldies Leonardo Bonucci (34) und Giorgio Chiellini (37). Jüngere Profis haben es dagegen schwer, der hoch gehandelte Sandro Tonali vom AC Milan kam gegen Nordmazedonien erst in der 77. Minute ins Spiel.

Trainer-Legende Sacchi: "Sind auf dem Stand von vor 60 Jahren"

"Die wenigste Schuld an dieser Situation trifft die Spieler und den Trainer. Das Problem liegt im System", meint allerdings der frühere Nationalcoach Arrigo Sacchi, der 1994 mit der Squadra WM-Zweiter wurde. "Unsere Jugendabteilungen sind voll mit Spielern aus dem Ausland, die gekauft werden wie Obst und Gemüse, die Klubs sind höchstverschuldet, die Teams gewinnen außerhalb Italiens nichts mehr."

Der Grund dafür, erklärte der einstige Vordenker der Gazzetta dello Sport, liege darin, dass das Land "kulturell rückständig" sei: "Es gibt keine neuen Ideen. Die anderen Nationen entwickeln sich, wir sind auf dem Stand von vor 60 Jahren geblieben."

Ein hartes Urteil des 75-Jährigen, doch tatsächlich ist die Serie A weit von ihrer einstigen Rolle als stärkste Liga der Welt zu Sacchis Glanzzeiten in den 90ern entfernt. Seit vier Jahren hat keine italienische Mannschaft mehr das Halbfinale der Champions League erreicht. Die Hoffnungen, dass zumindest Aushängeschild und Dauermeister Juventus Turin mit den internationalen Topteams mithalten kann, hat sich in den vergangenen Jahren zerschlagen.

Italien ist in der WM-Quali an Nordmazedonien gescheitert.imago images

Ronaldo, Lukaku, Dybala: Stars kehren der Seria A den Rücken

Dreimal in Folge schied die Alte Dame schon im Achtelfinale der Königsklasse gegen Gegner aus vermeintlich kleineren Ligen aus, daran konnte auch der kostspielige Einkauf von Cristiano Ronaldo nichts ändern. Nach dem Abgang des Ex-Weltfußballers vor der Saison wird in Paulo Dybala nach dieser Spielzeit der nächste Star die Serie A verlassen. Wie zuvor schon Romelu Lukaku oder Achraf Hakimi, die trotz Meisterschaft Inter Mailand den Rücken kehrten.

Neben der fehlenden sportlichen Klasse und Attraktivität sind die meisten Stadien seit Jahren in einem verheerenden Zustand, hinzu kommen immer wieder Probleme mit gewalttätigen Anhängern und rechtsextremen Fans. "Die Misere des italienischen Fußballs", titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung nach Juves K.o.: "Das Aus legt die Probleme in der Serie A offen: wenig Klasse, wenig Geld, rassistische Fans."

Durch die Millionen-Verluste durch die Corona-Folgen wird sich an den wirtschaftlichen Problemen vermutlich in den meisten Fällen nichts ändern, praktisch alle Klubs klagen über massve, teilweise existenzbedrohende Ausfälle. Dabei plagten die Liga schon vor der Pandemie im Sommer 2019 fast vier Milliarden Euro Schulden.

"Italiens Fußball auf europäischer Ebene nicht mehr wettbewerbsfähig"

Selbst der langjährige Vorzeigeklub Juventus hat große Probleme, nach rund 210 Millionen Euro Mindereinnahmen in der vergangenen Saison sollen laut Gazzetta nun nochmal rund 200 Millionen hinzukommen. "Italiens Fußball ist auf europäischer Ebene nicht mehr wettbewerbsfähig", schrieb die Corriere dello Sport schon vor fast genau einem Jahr.

Danach folgte der traumhafte EM-Sommer und für einen Moment schien die italienische Fußball-Welt so azurblau, dass sie als Vorbild für andere dargestellt wurde. Keine neun Monate später ist die Depression zurück. Und der trostlose Winter ohne WM kommt erst noch.