EM 2022: "Man spürt den US-Geist" - drei Perspektiven auf die Euro

Justin Kraft
06. Juli 202211:59
Die EM 2022 in England wird eines der bedeutendsten Turniere der Geschichte. Mit Bianca Rech, Julia Simic und Jasmina Covic blicken drei wichtige Persönlichkeiten des Fußballs auf das Turnier.Imago Images / DAZN / Getty Images
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Bei der Europameisterschaft in England bekommt der Fußball der Frauen eine sehr große Bühne. Die vierfache DFB-Pokalsiegerin Julia Simic, Agentin Jasmina Covic und Bianca Rech, sportliche Leiterin des FC Bayern München, erklären im Gespräch mit SPOX und GOAL die Bedeutung der EM aus drei Perspektiven.

Bei der EM gibt es so viele Favoritinnen auf den Titel wie noch nie. Der Fußball der Frauen hat sich in Europa weiterentwickelt und er bekommt in diesem Jahr vielleicht die größtmögliche Bühne, um das allen zu beweisen: England - das Land, das als Vorreiter der Moderne gilt.

Im Gespräch mit SPOX und GOAL erklären drei wichtige Persönlichkeiten des deutschen Fußballs aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, warum dieses Turnier so bedeutend ist, wie es lange keine Europameisterschaft mehr war.

EM 2022: Julia Simic - Perspektive der Ex-Spielerin und Expertin

"Es tut sich richtig was und man hat das Gefühl, dass das durch ganz Europa schwappt", sagt Julia Simic über die letzten Monate. Nach ihrem Karriereende im Jahr 2021 ist die 33-Jährige viel herumgekommen. Noch im Mai gewann sie als Teil des Trainerteams mit den U17-Juniorinnen des DFB die Europameisterschaft. Als aktive Spielerin war sie einst mit viel Talent gesegnet - aber auch mit viel Verletzungspech.

Simic kann nicht nur die Perspektive der Spielerinnen einnehmen, sondern auch die der medialen Berichterstattung. Für DAZN und Sky Sport arbeitet sie regelmäßig als Expertin. "In den letzten Jahren hat der Frauenfußball einen Riesenpush in verschiedenen Ländern erfahren", erklärt die Deutsche Meisterin von 2017: "Egal, ob das Equal-pay-Kampagnen sind oder ausverkaufte Stadien." Vor allem die Champions League habe mit ihrem neuen Modus einen großen Anteil daran.

"Man spürt auch diesen US-Geist, dass die Mädels etwas fordern und Lautsprecher sind für ihren Sport und mehr sind als nur Fußballspielerinnen", sagt Simic: "Sie nehmen gesellschaftspolitisch eine Haltung ein." Und genau deshalb sei die Bühne bei der EM in England so wichtig. "Die Welt wird nach Europa schauen", freut sich die heutige Expertin und Trainerin.

Julia Simic arbeitet für DAZN als Expertin für den Fußball der Frauen - beispielsweise in Formaten wie DAZN

EM 2022: England ist der Vorreiter

In England hat sich in den letzten Jahren sehr viel getan. Große Klubs investieren immer mehr in den Fußball der Frauen - strukturell und personell. Auch die FA arbeitet intensiv an der Zukunft und Weiterentwicklung mit. In Deutschland gehe ebenfalls vieles in die richtige Richtung, sagt Simic, aber ein großer Unterschied zu England sei, "dass man es dort vollkommen normalisiert hat, dass es auch eine Frauenabteilung gibt."

Je normaler das Produkt präsentiert werde, desto normaler sei es auch für den Fan. Plakate von Stars der Frauenteams in den Stadien, ein präsenter Social-Media-Auftritt oder schlicht gemeinsame Aktivitäten zwischen den beiden Teams. "Das fehlt mir hier. Der Männerfußball ist heilig, die trainieren teilweise auf ganz anderen Plätzen oder an anderen Orten", erklärt Simic: "Bei West Ham haben wir auf einem Gelände trainiert, haben zusammen gefrühstückt und das war einfach normal."

Von der Europameisterschaft erhofft sich die gebürtige Nürnbergerin, dass noch mehr Leute in Deutschland die Chance nutzen, dem Fußball der Frauen eine Chance zu geben. "Es war sehr wichtig, dass man bei DAZN die Champions League sehen konnte", sagt sie über das vergangene Jahr: "Dass Menschen, die nicht so Frauenfußball-affin waren, die Chance hatten, sich ein Bild zu machen und zu sehen, wie cool und aufregend er ist."

DAZN hat in der vergangenen Saison alle Spiele der Königinnenklasse live und kostenlos auf YouTube gezeigt und in den vergangenen Monaten zunehmend Features und Formate rund um den Fußball der Frauen im Programm etabliert. Auch die Europameisterschaft wird der Streamingdienst komplett übertragen. Nach Angaben von DAZN hat die Champions League in dieser Saison Rekordzahlen erreicht. Knapp 60 Millionen Streams in über 210 Ländern wurden registriert, der deutsche Markt war hinter Spanien, den USA und Frankreich der viertstärkste auf YouTube und der stärkste auf der Plattform selbst.

Julia Simic: "Die Bundesliga muss sichtbarer werden"

Simic fordert, dass nach der EM auch die Bundesliga (aktuell bei MagentaSport) sichtbarer gemacht werde und sie "nicht nur zu zeigen, sondern auch vernünftig zu zeigen." Der Fußball in Deutschland müsse besser präsentiert werden. Mehr Kameras, mehr Perspektiven, bessere Infrastruktur und dementsprechend eine höhere Qualität der Übertragung und Berichterstattung.

In England wird das wohl kein Problem sein. "Für die Spielerinnen ist das eine große Chance und da ist so viel Potenzial drin, endlich mal gesehen zu werden." In der Vergangenheit habe man es in Deutschland nicht so richtig geschafft, das Produkt "auf nationaler Ebene nachhaltig attraktiv zu machen", erklärt Simic.

"Unmittelbar vor den Turnieren gab es immer einen großen Hype", erinnert sie sich: "Der Hype hat sich umso länger gehalten, je erfolgreicher Deutschland abgeschnitten hat." Nach der EM wird es darum gehen, Nachhaltigkeit in diese Begeisterung zu bringen.

EM 2022: Bianca Rech - Perspektive der Sportchefin des FC Bayern

Auch Bianca Rech hofft, dass die Europameisterschaft einen großen Einfluss auf Deutschland hat. Sie habe "eine große Bedeutung" für den FC Bayern München und die Bundesliga insgesamt, sagt die sportliche Leiterin des FCB zu SPOX und GOAL: "Wenn Spielerinnen gute Leistungen abrufen, hat das natürlich auch eine positive Auswirkung auf den Verein."

Allerdings biete das Turnier nicht nur Chancen. "Wenn wir sehr früh aus dem Turnier ausscheiden würden, machen wir sicherlich einen weiteren Schritt zurück", prognostiziert die 41-Jährige: "Wir haben in den letzten Jahren keinen großen Erfolg mehr nach Deutschland holen können und ich finde, es ist an der Zeit."

Ein Erfolg sei "elementar wichtig, um im Frauenfußball in Deutschland wieder ein Ausrufezeichen setzen zu können." Dass nach der langen Phase der internationalen Dominanz ein kleiner Absturz folgte, begründet Rech mit den Fehlern, die nach der Heim-WM im Jahr 2011 gemacht wurden. Dort sei "eine Riesenchance vergeben" worden: "Alles war nur auf dieses Turnier ausgerichtet und eine nachhaltige Idee oder ein Konzept wurden nicht entwickelt."

Man habe es verpasst, die Begeisterung der Fans und Sponsoren mitzunehmen, schließt sich die 20-fache Nationalspielerin den Ausführungen von Simic an. In der Gegenwart befinde man sich dennoch "in einer sehr guten Entwicklung". Die EM, die WM im nächsten Jahr sowie das neue Champions-League-Format wären Großereignisse, die das bereits belegt haben oder noch belegen werden. "Die Begeisterung ist zu spüren", sagt Rech: "Nur leider nicht in Deutschland."

Bianca Rech hat klare Vorstellungen davon, wie sich der Fußball der Frauen beim FC Bayern München und in Deutschland entwickeln soll.imago images

Bianca Rech: Fußball der Frauen sollte "in der ersten Reihe stehen"

Die 10.000 Zuschauerinnen und Zuschauer beim Testspiel zwischen der Schweiz und England sowie die rund 33.000 Fans in Schweden beim Länderspiel gegen Brasilien würden das belegen. "Und wir in Deutschland freuen uns über 6.000 in Erfurt", ärgert sich die sportliche Leiterin des FCB.

Es gehe nicht nur darum, "kleine Mädchen vom Fußball zu begeistern, sondern auch darum, die Gesellschaft zu begeistern." Der Fußball der Frauen sei dazu fähig und sollte "in der ersten Reihe stehen und für die Menschen erreichbar und unverzichtbar werden. Dazu bedarf es an Überzeugung."

Der Status-quo sei deshalb nicht zufriedenstellend. Die Europameisterschaft in England könnte eine große Gelegenheit sein, die Entwicklung auch in Deutschland weiter voranzutreiben. Dementsprechend wünscht sich auch Rech eine erfolgreiche EM der deutschen Nationalelf: "Ich bin überzeugt, dass sie die Qualität dafür hat." Gleichzeitig habe die Europameisterschaft in diesem Jahr so "viele Favoriten wie noch nie zuvor." Für den FC Bayern, die Bundesliga und den deutschen Fußball insgesamt wäre ein erfolgreiches Abschneiden ein umso größeres Ausrufezeichen.

EM 2022: Spiele von Deutschland in der Gruppenphase

GruppeDatumUhrzeitBegegnungSpielort
B8. Juli21.00 UhrDeutschland - DänemarkBrentford
B12. Juli21.00 UhrDeutschland - SpanienBrentford
B16. Juli21.00 UhrFinnland - DeutschlandMilton Keynes

EM 2022: Jasmina Covic - Perspektive der Agentin

Das Wachstum des Fußballs der Frauen führt auch dazu, dass die Branche der Agenten und Agentinnen immer relevanter wird. Jasmina Covic ist die Inhaberin der Women's Football Agency - einst die erste auf den Fußball der Frauen spezialisierte Agentur.

2014 stieg sie als damals jüngste und einzige Agentin in das deutsche Profigeschäft ein, heute leitet sie die WFA gemeinsam mit Brian Eylert (berät unter anderem Nadine Angerer und Lothar Matthäus).

Die 29-Jährige verdient ihren Lebensunterhalt hauptsächlich als Leiterin der Geschäftsstelle des SV 1880 München. Sie selbst sagt, dass sie dadurch keinen finanziellen Druck habe und die Spielerinnen locker beraten könne. Womöglich sieht sie deshalb auch nicht alle Effekte positiv, die das Wachstum und die EM mit sich bringen.

Jasmina Covic mit Klientin Ana-Maria Crnogorcevic und Brian Eylert beim FC Barcelona.getty

EM 2022: Überkommerzialisierung auch bei den Frauen

"Ich bin ein bisschen zwiegespalten", sagt die gebürtige Kroatin über die rasante Entwicklung: "Die Summen haben sich verdrei-, vervier- oder sogar verfünffacht." Das betreffe auch die Gehälter, weshalb es für sie als Agentin schwieriger geworden sei. Vor drei oder vier Jahren habe sie sich noch "aussuchen können, mit wem wir zusammenarbeiten" und es wären keine Spielerinnen abgeworben worden. "Da gab es keine große Konkurrenzsituation und gewisse Grenzen mussten nicht überschritten werden."

Nach der Europameisterschaft in den Niederlanden habe sie 2017 einen Boom beobachtet: "Es gab massig Sponsorenverträge für alle, selbst für Spielerinnen außerhalb der Nationalmannschaft. Es ist extrem viel Geld geflossen." Auf der einen Seite sei das "attraktiv, auf der anderen Seite lenkt es vom Wesentlichen ab." Im Mittelpunkt sollte ihrer Meinung nach der Fußball stehen.

"Es wird immer mehr zu Kommerz, je mehr Geld fließt und der Frauenfußball lenkt sehr stark in diese Richtung", analysiert Covic: "Da ist es dann teilweise für Spielerinnen finanziell nicht mehr so relevant, Top-Leistungen zu bringen, weil sie durch Sponsorenverträge dreimal so viel verdienen wie im Verein."

EM 2022: Die Prämien des DFB-Teams im Überblick

Prämie pro SpielerinBedingung
60.000 EuroGewinn der Europameisterschaft
30.000 EuroFinalteilnahme
20.000 EuroEinzug ins Halbfinale
10.000 EuroÜberstehen der Gruppenphase

EM 2022: Hype um Fußball der Frauen zieht "zwielichtige Gestalten" an

Covic ist es dennoch wichtig, zu betonen, dass die steigende Aufmerksamkeit und Wertschätzung sowie die finanziellen Erfolge grundsätzlich positiv sind, "aber es hat eben auch noch diese Kehrseite." Zu dieser gehöre auch, dass dadurch "viel mehr zwielichtige Gestalten angezogen" würden, "die sich bereichern wollen."

Vor einigen Jahren habe der Sport noch kaum jemanden interessiert, man sei im Gegenteil sogar belächelt worden. Jetzt aber "sind alle Experten und alle wollen den Frauenfußball voranbringen", kritisiert die Agentin: "Das ist schon fast eine Beleidigung gegenüber den Agenten Dietmar Ness, Henner Janzen, Markus Lennartz oder Brian und mir, die schon sehr lange dabei sind und schon da waren, als es noch gar nichts zu verdienen gab."

Für die Zukunft wünscht sich Covic vom DFB "ein richtiges, vollumfängliches Konzept für den Frauenfußball" nach Vorbild der FA. Das betreffe "die Vermarktung, die sportliche Perspektive und wie sie die Vereine unterstützen wollen." Dafür brauche es Personal mit großem Erfahrungsschatz.

Jasmina Covic: "Bessere Voraussetzungen als England oder Spanien"

Gesellschaftlich sieht die Agentin, die unter anderem Nationalspielerin Laura Freigang berät, in Deutschland keine Nachteile: "Ich denke, wir haben sogar noch bessere Voraussetzungen als England oder Spanien. Ich würde sagen, wir sind sogar viel offener."

Der Großteil der deutschen Männer sei "sehr offen, tolerant und interessiert. Aber man muss sie da auch heranführen. Ich glaube, da ist noch viel mehr Potenzial und es ist immer die Frage, wie man die Leute erreichen will."

Die Deutschen wären da aus ihrer Sicht nicht anders als andere. "Es wäre doch für alle ein Traum, wenn wir mal bei einer Frauen-EM oder -WM die gleiche Euphorie erleben wie bei der Männer-EM oder -WM und etliche schöne Sommerabende genießen und feiern können", blickt Covic in die Zukunft. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Aber die Europameisterschaft in England kann und wird einen weiteren wichtigen Beitrag leisten.