Felix Magath war richtig bedient. Der 58-Jährige hatte mit dem VfL Wolfsburg am 3. Spieltag bei Borussia Mönchengladbach eine 1:4-Niederlage kassiert und war damit noch gut davon gekommen. Weder in seiner ersten Amtszeit bei den Wölfen von 2007 bis 2009 noch seit dem Beginn seines zweiten Engagements hatte Magath als VfL-Coach deutlicher verloren.
Der 4:1-Erfolg der Borussia hatte aber auch aus Gladbacher Sicht historische Ausmaße. Durch den Sieg standen die Fohlen erstmals seit der Saison 1998/99 an der Tabellenspitze und hatten den besten Saisonstart seit 1995/96 hingelegt. Auf Schalke gab's am Wochenende zwar einen Dämpfer (0:1), mit sieben Punkten aus vier Partien zählt die Borussia aber noch immer zu den Top 5 der Liga. Und das nach einem recht anspruchsvollen Auftaktprogramm (Bayern, Stuttgart, Wolfsburg, Schalke).
56 Gegentore unter Frontzeck
Auch auf Schalke hielt Gladbach über weite Strecken der Partie gut mit und untermauerte damit, dass sich der Fast-Absteiger der vergangenen Saison enorm weiterentwickelt hat. Zentral für diese Entwicklung ist ein Name: Lucien Favre. Seit der Schweizer bei der Borussia übernommen hat, präsentiert sich Gladbach ganz anders.
Unter Frontzeck hatte Gladbach in 22 Spielen der vergangenen Saison 56 Gegentore kassiert, für Favre war deshalb klar, dass er vor allem am Defensivverhalten arbeiten muss. Das tat er mit Erfolg. In den letzten zwölf Spielen der Vorsaison musste die Borussia nur noch neun Gegentore hinnehmen, kein anderes Team kassierte im gleichen Zeitraum weniger.
Auch in dieser Saison stellt die Favre-Elf mit bisher erst drei Gegentreffern eine der besten Abwehrreihen der Liga. Nur der FC Bayern, Dortmund und Leverkusen fingen sich bislang weniger Tore ein.
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Jantschke bester Zweikämpfer
Doch wo hat Favre konkret angesetzt, worauf legt der 53-Jährige besonderen Wert und wie sieht der Fußball aus, der seine Mannschaften auszeichnet?
Personell änderte Favre im Vergleich zum Vorgänger kaum etwas. Lediglich auf der rechten Abwehrseite ersetzte er Tobias Levels durch Tony Jantschke, im Tor machte er nach einigen Wochen Marc-Andre ter Stegen zur neuen Nummer eins.
Zwei Personaländerungen, die sich auszahlten, was auch die Statistiken der aktuellen Spielzeit belegen: Ter Stegen ist mit knapp 90 Prozent abgewehrten Torschüssen ligaweit die Nummer zwei hinter Leverkusens Bernd Leno, Jantschke mit 67 Prozent gewonnenen Zweikämpfen der beste Borusse in dieser Statistik.
Nur ein Gegentor nach Konter
Keinen Platz mehr im Team gibt es dagegen für Mohamadou Idrissou. Der Kameruner verlor in der Offensive die Bälle häufig zu einfach und legte im Defensivverhalten nicht die nötige Disziplin an den Tag. Darauf legt Favre allerdings größten Wert. Im Spiel gegen den Ball muss sich jeder Spieler einbringen und seinen Beitrag leisten. Folgerichtig, dass Idrissou an Eintracht Frankfurt verkauft wurde.
Die Devise bei Ballverlust heißt: Schnellstmöglich hinter den Ball kommen, Ordnung herstellen und dadurch die Räume für den Gegner so klein wie möglich machen. Favres Team hat das sehr schnell verinnerlicht. Unter Frontzeck kassierte Gladbach in 22 Saisonspielen elf Gegentreffer nach einem Konter, unter Favre in 18 Partien bislang nur einen einzigen.
Nur einmal mehr als ein Gegentor
Zwar genießen Spieler wie Juan Arango oder Marco Reus in der Offensive durchaus ihre Freiheiten, dafür hat Favre mit Mike Hanke quasi eine Art Defensiv-Stürmer installiert, der in der Rückwärtsbewegung fleißig mitarbeitet und Lücken schließt, die sich nach Offensivaktionen von Reus oder Arango bisweilen auftun. Laut der Datenbank Impire führt Hanke mehr als 30 Zweikämpfe pro Partie und damit die meisten aller Gladbacher.
Auch andere Statistiken belegen, dass Favres Defensivkonzept in Gladbach der Schlüssel zum Erfolg ist: Unter Frontzeck ließ die Borussia in der vergangenen Saison pro Spiel 17 Torschüsse des Gegners zu, unter Favre nur zwölf. Bei Frontzeck wurden 25 Gegentreffer per Flanke oder Standard vorbereitet, bei Favre saisonübergreifend erst zwei. Auch die Zahl der Großchancen des Gegners pro Spiel wurde verringert (2,4 auf 1,1). Und: In den bisherigen 17 Begegnungen unter Favres Regie kassierte Gladbach nur einmal mehr als einen Gegentreffer.
Engmaschiges Netzwerk: Das alles macht deutlich: In Gladbach regiert der Favre-Fußball. Der Fußball, den der Schweizer spielen lässt, basiert nicht auf möglichst hohen Laufleistungen der Spieler, auch nicht darauf, über Zweikämpfe ins Spiel zu kommen oder den Gegner mit frühzeitigem Pressing unter Druck zu setzen.
Entscheidend sind bei gegnerischem Ballbesitz vielmehr zwei Dinge: Zum einen soll den Gegner ein möglichst engmaschiges Netzwerk empfangen, sobald er in Gladbachs Spielhälfte vorstößt. Heißt: Die beiden Viererketten in Abwehr und Mittelfeld stehen eng beieinander, die Abstände zwischen den einzelnen Gliedern der Ketten werden klein gehalten. Mindestens acht, meist sogar neun Feldspieler sind dabei hinter dem Ball postiert.
Die Folge: Die Passwege für den Gegner sind in Breite und Tiefe zugestellt, häufig reicht schon das bloße Verschieben in horizontaler und vertikaler Richtung für die Balleroberung aus.
Zweikämpfen in der eigenen Hälfte geht man damit aus dem Weg. In der laufenden Saison ist Gladbach folglich das Team mit den wenigsten bestrittenen Defensivzweikämpfen. Zufall ist das nicht: Als Favre noch in Berlin das Sagen hatte, zählte die Hertha ebenfalls stets zu den Teams mit den wenigsten Defensivzweikämpfen.
Das Zentrum ist dicht: Der zweite Punkt, auf den Favre großen Wert legt, ist ein kompaktes, undurchlässiges Zentrum. Der Schweizer will den kürzesten Weg zum Tor immer zugestellt und gesichert wissen. Auch deshalb setzt er im defensiven Mittelfeld mit Roman Neustädter und Havard Nordtveit auf zwei Akteure, die sich auf die Defensive konzentrieren und sich nur äußerst selten nach vorne einschalten.
Seit Favre das Kommando in Gladbach übernommen hat, musste die Borussia so erst drei Treffer durch die Mitte hinnehmen. In Berlin kassierte die damalige Favre-Elf in der starken Hertha-Saison 2008/2009 nur 22 Prozent seiner Gegentore durchs Zentrum - ein Wert der ligaweit unerreicht blieb.
Favre will, dass sein Team den Gegner dazu zwingt, das Spiel auf die Außen zu verlagern. Dort besteht die beste Möglichkeit, einen Gegenspieler zu isolieren (siehe Video). Gleichzeitig droht bei einem Ball auf der Außenbahn weniger Gefahr fürs eigene Tor. Die Folge dieser Spielweise ist, dass Favre-Mannschaften verhältnismäßig viele Flanken zulassen.
Die Hertha von 2008/2009 ließ im gesamten Saisonverlauf mehr Flanken als jeder andere Bundesligist zu, auch die Borussia wird in dieser Statistik in der aktuellen Spielzeit nur von Mainz 05 übertroffen. Doch seit Favre Gladbach-Coach ist, hat die Borussia noch kein Tor nach einer Flanke aus dem Spiel heraus kassiert, auch weil er mit Stranzl, Dante und Brouwers ähnlich wie in Berlin (Simunic, Friedrich, von Bergen) auf kopfballstarke Innenverteidiger setzt, die der Flankenflut die Gefahr nehmen.
Noch keine Niederlage nach 1:0
Dass Favres Defensivkonzept bislang aufgeht, zeigen die Gladbacher Auftritte unter seiner Regie. Anfällig erwies sich die Borussia zuletzt nur bei langen Diagonalbällen. So resultierten alle drei Gegentreffer in dieser Saison aus schnellen Flügelwechseln.
Während Favre sein Team im Spiel ohne Ball komplett umgekrempelt hat, hat er in der Offensive wenig verändert. Auch unter Frontzeck bot die Borussia nach vorne durchaus ansehnlichen Fußball.
Unter Favre allerdings gilt: Die defensive Stabilität darf durch eine Offensivaktion nicht gefährdet werden. So hat Favre seinen Mannschaften eingebläut, auf die eine, womöglich entscheidende Situation warten zu können.
Kein Wunder also, dass 26 von 40 Favre-Siegen mit Berlin und Gladbach mit nur einem Tor Differenz endeten und die Borussia in der Ära Favre nach einer 1:0-Führung noch kein Spiel verlor.
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