"Ich war auch ein schwieriger Fall"

Jochen Tittmar
05. Dezember 201316:36
Gertjan Verbeek trainierte in den Niederlanden Heerenveen, Almelo, Feyenoord und Alkmaargetty
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Gertjan Verbeek ist seit dem 21. Oktober der neue Trainer beim 1. FC Nürnberg. Doch auch der 51-jährige Niederländer konnte den Club noch nicht zum ersten Saisonsieg führen. Im Interview spricht Verbeek über seinen Pflegesohn, die Besessenheit vom Fußball und das derzeit größte Problem in Nürnberg.

SPOX: Herr Verbeek, Sie sind nicht verheiratet, haben dafür aber einen Pflegesohn, der auch Fußball spielt. Seit wann ist das der Fall?

Gertjan Verbeek: Ich habe ihn kennengelernt, als er 13 Jahre alt war und habe ihn zwei Jahre lang in der Fußballschule des SC Heerenveen trainiert. Er heißt Orlando Smeekes. Er war in einer Pflegefamilie, doch da hat es dann nicht mehr so gut funktioniert. So kam er mit 15 in ein Internat, dort lief es letztlich aber auch nicht zufriedenstellend.

SPOX: Daraufhin haben Sie ihn aufgenommen?

Verbeek: Genau. Er hat drei Jahre lang bei mir im Haus gewohnt.

SPOX: Wie gut hatten Sie sich das im Vorfeld überlegt?

Verbeek: Ich habe mir schon gründlich Gedanken gemacht, zumal mein Haushalt ja auf eine Person ausgerichtet war und er in dieser Zeit auch noch durch die Pubertät ging. Zwischen uns hat es aber auf Anhieb gut funktioniert und er hatte damals ja auch keine andere Möglichkeit. Ich bin froh, dass ich ihn durch diese Phase seines Lebens begleiten und ihm helfen konnte. Ich war für meine Eltern damals auch ein schwieriger Fall (lacht).

SPOX-Redakteur Jochen Tittmar traf sich auf der Club-Geschäftsstelle mit Gertjan Verbeekspox

SPOX: Wie ging es mit Orlando weiter?

Verbeek: Als er 18 wurde, erlosch die Vormundschaft seiner Pflegeeltern und er war rein rechtlich gesehen selbst für sich verantwortlich. Ich habe damals in einem kleinen Dorf im Norden Hollands gewohnt, da war der Hund begraben. Er wollte deshalb in Richtung Westen gehen. Ich habe ihn dann bei Stormvogels Telstar unterbringen können, einem Klub in der 2. Liga. Dort ist er U-21-Nationalspieler geworden, doch er hatte dann wieder einen Rückfall.

SPOX: Inwiefern?

Verbeek: Er hatte in seinem Leben durchgängig mit Problemen zu kämpfen. Er hatte eine Psychose und kam dann für ein halbes Jahr zunächst zu mir zurück. Ich war zu dieser Zeit bereits Cheftrainer bei Heracles Almelo und habe ihn in meiner Freizeit individuell trainiert. Ich bekam ihn wieder so weit, dass er in der 2. Liga untergekommen ist. Seitdem geht es für ihn bergauf. Kurz danach ist er nach Deutschland gewechselt. Er spielte für die Stuttgarter Kickers, Carl-Zeiss Jena und Wehen Wiesbaden, seit der letzten Saison läuft er für Maritzburg United in Südafrika auf. Wir telefonieren jede Woche und wenn er mal Urlaub hat, verbringt er ihn bei mir.

SPOX: Diese Geschichte ist mindestens genauso bemerkenswert wie die Tatsache, dass Sie neben Ihrer Lizenz als Fußballcoach auch Trainerscheine im Judo, Boxen, Leichtathletik und Handball besitzen.

Verbeek: Ich habe schon sehr früh in meinem Leben viele Sportarten ausgeübt. Ich spielte auch Basketball und bin viel geschwommen. Dennoch war es immer mein einziges Ziel, Profifußballer zu werden. Es sah aber zunächst danach aus, dass ich dafür zu wenig Talent mitbrachte.

SPOX: Und deshalb haben Sie sich auf anderen Gebieten umgesehen?

Verbeek: Wenn das nicht geklappt hätte, wollte ich in jedem Fall etwas mit Sport machen. Das ist einfach meine große Leidenschaft. Ich bin dann mit 19 oder 20 auf eine Sportschule gegangen und habe mich dort hinsichtlich der Sportarten breiter aufgestellt. Zu dieser Zeit begann ich mit dem Judo und besitze nun den schwarzen Gürtel im dritten Dan. Auch mit Handball, Volleyball, Sportmassage oder Krafttraining hat es damals angefangen.

SPOX: Ist bei so viel Beschäftigung das Ziel Profifußball nicht auch einmal in den Hintergrund gewichen?

Verbeek: Das nicht, aber ich hatte damals in der Tat im Kopf, vielleicht eine eigene Sportschule zu gründen. Ich hatte neben meinem Studium bereits eine Boxschule in Heerenveen betrieben. Doch zum Glück wurde die Sache mit dem Fußball dann konkreter. Ich musste mich entscheiden, ob ich den Gedanken mit der Sportschule weiterverfolgen soll oder jetzt doch lieber voll auf die Karte Fußball setze. Ich habe dann parallel zu meiner Zeit als Profifußballer auch als Jugendtrainer gearbeitet. SPOX

SPOX: Wie viel Zeit blieb denn neben dem Sport für andere Dinge, die man so in seinem Privatleben macht?

Verbeek: Eigentlich gar keine. Ich sage immer, dass ich mit 13 Profisportler geworden bin (lacht). Der Sport war für mich schon ganz früh wie eine Sucht. Ich wollte jeden Tag Sport treiben und trainieren gehen. Das war das, was mir Spaß gemacht hat. Daher war es für mich kein Problem, dass andere Sachen auf der Strecke blieben.

SPOX: Welche Einflüsse haben diese unterschiedlichen Sportarten auf Ihre Denkweise als Fußballtrainer?

Verbeek: Ich habe wie jeder Trainer meine Lizenz beim holländischen Verband erworben, war aber auch auf der Sportschule. Diese Einflüsse stecken in meinem Training. Ich bin auch weiterhin sehr interessiert an anderen Sportarten und tausche mich regelmäßig mit verschiedenen Trainern aus. Daneben lese ich viel, beispielweise über Ernährung und Mentaltraining. Dieser Durst wird auch niemals nachlassen. Ich muss mich ja als Trainer ständig weiter entwickeln, um den Anschluss nicht zu verlieren.

SPOX: In den Niederlanden hatten Sie den Ruf, der Erste auf dem Trainingsgelände zu sein und auch als letztes zu gehen. Auch aus Nürnberg hört man schon Ähnliches. Sind Sie mittlerweile vom Fußball besessen?

Verbeek: Wenn Besessenheit etwas Gesundes bedeutet, dann antworte ich mit ja (lacht).

SPOX: Wie schwer ist es dann für Sie, auch einmal vollkommen vom Fußball los zu lassen?

Verbeek: Mein Problem in Nürnberg ist derzeit, dass ich mein anderes Hobby noch nicht ausüben konnte. Ich fange um 8 Uhr an zu arbeiten, bereite das Training vor und nach, schaue mir Spiele der Nachwuchsmannschaften an und bin rund um die Uhr mit dem Fußball beschäftigt. Momentan ist es schwierig für mich, davon loszulassen.

SPOX: Welches ist denn Ihr anderes Hobby?

Verbeek: Ich bin gerne handwerklich kreativ und habe an meinen freien Tagen in Holland unter anderem ein Holzhaus im Wald gebaut. Wenn ich werkle, muss ich mich darauf konzentrieren. Dann rücken die Gedanken an den Fußball in den Hintergrund. Ich gehe auch gerne joggen, boxen oder Motorrad fahren, doch da denke ich währenddessen an den Fußball.

SPOX: Aber Sie gönnen sich schon auch mal ein gutes Essen in einem Restaurant?

Verbeek: Natürlich. Mit meinen Freunden in Holland, die sich zwar auch für Fußball interessieren, gehe ich auch mal ins Kino gehe oder zum Skifahren. Das passiert jedoch zugegebenermaßen nicht häufig. Richtig abschalten kann ich dabei sowieso nicht.

Seite 2: "Muss Herz meines Arbeitgebers studieren"

SPOX: Sie waren in Deutschland ein Unbekannter, als Sie beim Club unterschrieben. Ihre Erfolge in den Niederlanden hat man hier kaum wahrgenommen.

Verbeek: Das finde ich überhaupt nicht schlimm. Ich konnte außer Jürgen Klopp und Pep Guardiola auch nicht alle Bundesligatrainer auswendig aufsagen. Von einigen hatte ich sogar noch nie gehört. Das ist aber auch ein Stück weit normal, wenn man wie ich ausschließlich und so lange in nur einem bestimmten Land gearbeitet hat.

SPOX: Wie wichtig war Ihnen der Schritt ins Ausland?

Verbeek: Ich habe früher oft gesagt, dass ich gerne im Ausland arbeiten möchte, wenn sich die Chance ergibt. Ich verstehe hier die Sprache, auch die deutsche Mentalität spricht mich an. Ich denke, dass ich gut hier her passe.

SPOX: Hatten Sie früher schon einmal die Möglichkeit, Ihr Heimatland zu verlassen? Bundesliga Spielplaner - Der Tabellenrechner von SPOX.com

Verbeek: Als Spieler nicht, doch als Trainer hatte ich schon Angebote aus dem Ausland. Nürnberg ist für mich sozusagen das erste Mal konkret (lacht).

SPOX: Welche Entwicklung erhoffen Sie sich dabei als Trainer?

Verbeek: Holland ist klein. Ich habe dort schon jedes Stadion gesehen und mich in all den Jahren auch weiterentwickelt. Ich erhoffe mir nun in Deutschland, meinen Blickwinkel als Trainer und vor allem auch als Mensch weiter vergrößern zu können. Ich wollte in einer neuen Umgebung arbeiten und dazu auch die deutsche Kultur sowie das Lebensgefühl besser kennenlernen. Ich muss mich jetzt anpassen, niemand muss sich an mich anpassen. Das ist eine tolle Herausforderung.

SPOX: Der 1. FC Nürnberg ist mit zwei Bitten an Sie herangetreten: Sie sollen den Klassenerhalt schaffen und offensiveren Fußball spielen lassen. Wenn der Verein andere Wünsche vorgetragen hätte, wären Sie dann der Falsche gewesen? SPOX

Verbeek: Ja, das hätte nicht meiner Denkweise als Trainer entsprochen. In den Gesprächen mit den Verantwortlichen habe ich gesagt, was ich anbieten kann, wie ich über den Verein und den Fußball an sich denke.

SPOX: Beschäftigen Sie sich nun auch mit der Vergangenheit des Clubs, um seiner Identität näher zu kommen?

Verbeek: Es interessiert mich sehr, gerade auch die Entstehungsgeschichte des Vereins und weshalb er beispielsweise der Club genannt wird. Das sind Basis und Herz meines Arbeitgebers und diese Dinge muss ich studieren. Ich weiß aber, dass die Vergangenheit in der sportlichen Gegenwart nicht von Belang ist.

SPOX: In dieser spielt Nürnberg nun tatsächlich einen offensiveren Fußball. Haben Sie die Mannschaft gefragt, wie sie spielen möchte oder muss das eine klare Vorgabe des Trainers sein?

Verbeek: Ich habe mit den Spielern über die Spielweise diskutiert, weil sie ja diejenigen sind, die sie umsetzen müssen. Dennoch ist es auch so, dass ich meinem Auftrag vonseiten des Vereins gerecht werden muss und daher nicht alles über den Haufen werfen kann, sollten die Spieler Dinge anders sehen. Es wurden vor der Saison neue Spieler geholt, die viel Offensivpotential mitbringen. Wir brauchen daher den offensiven Gedanken in unserem Spiel. Wir haben das Spielermaterial dazu. Würden wir uns ausschließlich über die Defensive definieren, entspräche das nicht dem Geist des Kaders. Die Spieler pflichten dem bei, weil es nicht nur ihrem Naturell gut tut, sondern auch viel mehr Spaß macht, offensiv zu agieren.

SPOX: Hat es Sie überrascht, wie schnell das Team den offensiven Gedanken umsetzen konnte - auch wenn weiterhin noch kein Sieg auf der Habenseite steht?

Verbeek: Nein, zumindest war ich nicht total baff. Mir ist aufgefallen, dass die Mannschaft schon vor meiner Zeit trotz eines Rückstands in vielen Partien noch einmal zurückgekommen ist - mit einer offensiven Spielweise. Das Potential schlummert also in dieser Truppe. Ich habe sie gefragt, warum sie nicht gleich von Anfang an so gespielt haben wie nach einem Rückstand, also hoch stehend und zielstrebiger nach vorne.

SPOX: Wie sehr dosieren Sie jetzt noch Ihr Training, damit das Team nicht von zu vielen Neuerungen überfrachtet wird?

Verbeek: Das Basisprinzip ist kommuniziert, aber das größte Problem ist momentan, dass wir dringend Ergebnisse benötigen. Der totale Konkurrenzkampf kann da noch nicht ausgelobt werden, weil ich es mir nicht erlauben kann, zu viele Dinge auszuprobieren. Ich kann in unserer Situation nicht einfach einen anderen Spieler auf einer bestimmten Position testen und schauen, wie er sich schlägt. Das würde möglicherweise die aktuelle Balance der Mannschaft gefährden. Das ist für die Spieler, die momentan auf der Bank sitzen, keine einfache Situation. Diesbezüglich müssen wir uns jetzt einfach in die Winterpause retten. Und dann geht es für alle von Null los.

Gertjan Verbeek im Steckbrief

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