Seit einem guten Jahr versucht Trainer Jürgen Klopp, Borussia Dortmund sportlich auf Kurs zu halten. In den letzten Monaten ist ihm das nicht mehr gelungen. Dass ihn der BVB nicht vor die Tür setzt und der Trainer selbst keinen Gedanken an einen Rücktritt verschwendet, erscheint aus mehreren Gründen als die einzig sinnvolle Maßnahme. Doch Klopp ist nun gefordert, sein vorzeitiges Meisterstück als Fußballlehrer abzuliefern.
Die 260 Gäste, die sich in den Ballsaal des Hotels "Frankfurter Hof" in Frankfurt am Main begaben, werden zum Kaufzeitpunkt ihrer Karten wohl auch andere Vorstellungen gehabt haben. 350 Euro waren zu berappen, um einem Vortrag von Jürgen Klopp zu lauschen. Das Thema: "Motivation und Führung - Titel, Thesen und Tore". Niemand der Zuhörer hätte wohl einen Pfifferling darauf gesetzt, dass an diesem 1. Dezember dann der Trainer des frisch gebackenen Tabellenletzten der Bundesliga zu ihnen spricht.
Plätze blieben dennoch keine frei. Der Coach von Borussia Dortmund zieht natürlich immer noch. Jetzt möglicherweise umso mehr. In den Erwartungen des Auditoriums war nun auch die Neugier inbegriffen, wie sich Klopp wohl in einer Zeit verhalten würde, in der die Schlagworte seines Vortrags die sportliche Gegenwart konterkarieren.
Doch der Klopp, der am Montagabend sprach, war nicht jener, der nach den Niederlagen der letzten Wochen ratlos und niedergeschlagen in die TV-Kameras blickte. "Jemanden zu sehen, dem es so richtig beschissen geht, und der hier sitzt und lacht, das ist doch Motivation", war einer seiner Sätze.
"Situation fühlt sich katastrophal an"
Klopp gewährte kleine Einblicke in seine Seele, die etwas tiefer waren als das, was er für gewöhnlich auf Pressekonferenzen von seiner Gedankenwelt preisgibt: "Uns war vollkommen klar, dass es sehr schwierig wird in dieser Saison. Die Situation fühlt sich katastrophal an. So schwierig, wie es jetzt ist, hätte ich es mir nicht vorgestellt. Es ist relativ einfach, mit 8,4 Promille auf einem Lastwagen zu stehen, durch die Dortmunder Innenstadt zu fahren und sich feiern zu lassen. Es ist ungleich schwieriger, in unserer momentanen Situation das Gesicht des Vereins zu sein."
Verhältnismäßig kompliziert sind die Begebenheiten in Dortmund jetzt seit rund einem Jahr. In dieser Zeit schnellte in erster Linie die Ausfallquote des Personals in ungeahnte Höhen (siehe links die Faktenbox). Klopp musste aus dem Stand heraus improvisieren, immer wieder und immer wieder, um Mannschaften für die zahlreichen Spiele zusammen zu bekommen.
An diesem Umstand hat sich bis zum heutigen Tage eigentlich kaum etwas geändert. Diese Problematik im Zusammenspiel mit der Zusatzbelastung Weltmeisterschaft, dem Abgang von Robert Lewandowski und - dafür ist Klopp verantwortlich - formschwachen Spielern hat nun aber ein extremeres Ausmaß angenommen.
Lähmender Schleier über dem BVB
Bis zum Ende der vergangenen Saison hat Klopp sein Team noch auf Kurs halten können. In den vergangenen drei Monaten ist ihm das nicht mehr gelungen.
Das ungläubige Staunen über die sportliche Talfahrt hat sich wie ein lähmender Schleier über den Klub gelegt. Die Fallhöhe ist immens, nachdem sich das Ausmaß der Dramaturgie in den letzten Wochen kontinuierlich verselbständigte und in die Köpfe der Protagonisten fraß.
Das Verinnerlichen mannschaftstaktischer Abläufe, das Klopp zwischen den Spielen nur niedrig dosiert abarbeiten kann, ist das, was das kriselnde Team so dringend benötigt. Bei der Mannschaft ist nach bald vier Monaten Saison nur ein Minimum davon angekommen - und sie liefert dem Coach plötzlich keine Ergebnisse mehr.
Hat Klopp keinen Plan B?
Anders als beim Ottonormal-Abstiegskandidaten zerbricht die Mannschaft unter dem Druck der Situation immer mehr an fußballerischer Enttäuschung. Wenn die eigene Spielidee wieder nicht stabil genug umgesetzt, dicke Chancen verballert und läppische Gegentore kassiert wurden, dann lässt das keinen seiner Spieler kalt. Der Schleier, das viele Nachdenken, es hemmt den Klub enorm.
Die Komponente Selbstvertrauen hat eine Dimension angenommen, die momentan zu groß erscheint, um sich trotz der Verletzungen und der schwachen Chancenverwertung wieder die nötige Unbeschwertheit zu erarbeiten. "Es gibt 28 Spieler und damit 28 Gründe", sagt Klopp zur Talfahrt. "Meine Mannschaft lebt extrem davon, dass sie zusammenarbeitet, sich gemeinsam stärker macht. Aber wenn diese Zusammenarbeit nicht stattfindet, fehlt etwas."
Ob jedoch nur diese Beschreibung Gültigkeit besitzt, darüber zerbricht man sich derzeit landauf, landab den Kopf. Ist etwa die Kernkompetenz Pressing/Gegenpressing, dieses tiefe Balljagen bei gleichzeitiger Beibehaltung der defensiven Kompaktheit, zu sehr verblasst? Haben sich die Gegner mit den Jahren an Dortmunds Spielweise gewöhnt und sie nach und nach entschlüsselt? Hat Klopp keinen Plan B?
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Es kann auf Fragen dieser Art nicht die eine allgemeingültige Antwort geben. Dazu verlaufen die einzelnen Partien zu verschieden und sind weiterhin bis zu einem gewissen Grad dem Faktor Zufall unterworfen.
Klopps Replik, der mit Fragestellungen dieser Art noch nie etwas anfangen konnte und der Meinung ist, dass Außenstehende solche Entwicklungen sowieso nicht abschließend beurteilen können: "Ich bin im Moment ein besserer Trainer als ich es war, als wir 2012 Meister geworden sind. Das Problem ist, man kann es an der Tabelle nicht ablesen."
Ob Klopp trotz des offensichtlichen Widerspruchs Recht hat, ist müßig zu erörtern. Festzuhalten ist allerdings, dass Dortmund mit eigenem Ballbesitzspiel schon längere Zeit Probleme hat. Sich einen defensiven Gegner zu Recht zu legen und nach zielstrebigem Passspiel immer tiefer in Richtung dessen Gehäuses vorzudringen, gelingt dem BVB meist nur innerhalb einer bestimmten personellen Zusammensetzung.
Ballbesitzspiel noch nicht in der DNA verankert
Fehlen die Schlüssel- oder Kreativspieler wie beispielsweise besonders deutlich in den beiden Heimspielen gegen Stuttgart und Hamburg, zeigt sich, dass es das Trainerteam noch nicht schaffte, das Ballbesitz- und Aufbauspiel in der DNA des Kollektivs zu verankern. Dann wirkt der Vortrag eindimensional, uninspiriert, manchmal kopflos - und ist damit leicht zu verteidigen.
Dies stellt sich bei Gegnern, die offener stehen und Dortmunds konternde Treibjagd eher ermöglichen, gänzlich anders dar. Dieser Ansatz ist vom gesamten Kader längst verinnerlicht worden. Völlig egal, welche elf Spieler auf dem Platz stehen. Paradebeispiel sind das CL-Rückspiel im Vorjahr gegen Real Madrid oder das Hinspiel gegen Arsenal in dieser Saison.
Auch in der laufenden Spielzeit werkelt Klopp daran, eine gesunde Mischung beider Ansätze herzustellen. Unendlich weit weg vom Ideal ist man definitiv nicht, auch Wille und Einstellung der Spieler sehen nicht nachhaltig belastet aus. Derzeit würden die Profis an seinen Lippen hängen, bekannte der Coach in Frankfurt. Doch obwohl er Personal, Systeme oder Spielideen austauschte, es scheint diesmal nichts auf Dauer zu funktionieren.
Rücktritt und Entlassung weiterhin absurd
Diese Erkenntnis hat Klopp in letzter Zeit für seine Verhältnisse ziemlich ratlos zurückgelassen. Seine Souveränität hat Schlagseite bekommen. Er wirkt auf einmal nachdenklich und muss neben allen handwerklichen Schwierigkeiten, die er in seiner Funktion als Fußballlehrer zu bewältigen hat, nun auch Fragen nach einem möglichen Rücktritt über sich ergehen lassen. Alles Dinge, die vor einem halben Jahr undenkbar schienen.
Es macht die Lage der Borussia nicht weniger skurril, dass ein Rücktritt oder die Entlassung Klopps weiterhin absurd erscheinen. Dass der BVB mit Klopp und Klopp mit dem BVB durch diese Talsohle schreitet, ist allerdings die einzig glaubwürdige und richtige Maßnahme.
Es ist weniger zielführend aufzuzählen, welche Verdienste Klopp um den BVB hat oder wie sehr das Unternehmen Borussia Dortmund auf allen erdenklichen Ebenen von seiner Arbeit profitierte. Schaut man mit vollkommen nüchternem Blick auf die Fakten, steht da: Für Klopp und Dortmund läuft es erst seit 13 Bundesligaspielen fatal.
Die Krise als Chance für Dortmund
Dafür gibt es nicht den einen einzig sinnvollen Grund. Es kamen mehrere nicht besonders günstige Umstände zusammen, die obendrein noch eine Eigendynamik entwickelten, so dass der gesamte Klub unvorbereitet erzitterte. Klopp konnte die Summe daraus bislang noch nicht aufhalten, keine Frage. Dass er jedoch bereits zu diesem Zeitpunkt am Ende seines Lateins angekommen ist, erscheint bei einem Trainer seiner Klasse ein vorschnelles Urteil.
Die Krise bietet dem Verein vielmehr die Möglichkeit, die häufig bemühten Schlagworte Zusammenhalt und Kontinuität mit Leben zu füllen. Klopps vorzeitige Vertragsverlängerung bis 2018 - zweieinhalb Jahre bevor der alte Kontrakt ausgelaufen wäre -, die postulierte Prämisse, ihn niemals zu entlassen, mit ihm notfalls auch in die 2. Liga zu gehen - an der Glaubwürdigkeit dieser Aussagen kann sich der Klub jetzt messen lassen. Im Erfolgsfall demonstrierte man nach außen, dass der nicht-aktionistische Weg den vielerorts gehegten Wunsch nach Kontinuität aufrecht erhalten kann.
Der Sturz auf den letzten Tabellenplatz eröffnet zudem Klopp die Chance, wenn auch ungewollt sein vorzeitiges Meisterstück als Trainer abzulegen. Das Thema Abstiegskampf begleitete ihn seine gesamte Spieler- und auch den Großteil seiner Trainerkarriere. Es steht ihm nun aber die Prüfung ins Haus, sich dieser Herausforderung auch als Übungsleiter einer Spitzenmannschaft anzunehmen und zu beweisen, dass der Glanz, der ihn in den letzten Jahren selbst auf internationaler Ebene umwehte, auch solch widrigen Zeiten Stand hält.
Zäsur steht ins Haus
Daher erschiene derzeit ein Ende der Ära Klopp beim BVB überhaupt nicht sinnhaft. Es käme viel zu abrupt. Selbst wenn jetzt schon klar ist: Durch den Verlauf der aktuellen Saison steht Trainer und Verein eine Art Zäsur ins Haus, die sowohl Gegenwart wie Zukunft betrifft. Wie sehr der kloppsche BVB langfristig unter dem Eindruck der aktuellen Katastrophe bröckelt, bliebe jetzt nur Spekulation. Für den Moment und bis zum Ende der Hinrunde scheint es, dass Klopp noch einmal ein letztes Feuer 2014 entfachen möchte.
Seine Ausführungen am Mittwoch auf der Pressekonferenz vor dem "High-Noon-Spiel" gegen Hoffenheim waren wie zuletzt kämpferisch. Es schwang aber so viel Überzeugung mit wie schon lange nicht mehr.
Dass das Publikum beim Heimspiel am Freitagabend Klopps Ansagen in Motivation für sich und den Glauben an die Mannschaft ummünzen wird, dürfte trotz der Pfiffe in Frankfurt feststehen. Jetzt, das hatte schon Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke in seiner "Blut, Schweiß und Tränen"-Rede auf der Mitgliederversammlung deutlich gemacht, muss sich die Mannschaft ein weiteres Mal überwinden und beweisen, dass auch auf Platz 18 der Funke überspringen kann.
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