Oliver Bartlett stand als Athletiktrainer bei Borussia Dortmund und der deutschen Nationalmannschaft unter Vertrag. Zusammen mit Roger Schmidt wechselte er vor der abgelaufenen Saison von Red Bull Salzburg zu Bayer Leverkusen. Bartlett spricht im Interview über die verschiedenen Facetten seiner Arbeit, erklärt Unterschiede zwischen Schmidt und Jürgen Klopp und gibt Einblicke in das Statistik-Thema Moneyball.
SPOX: Herr Bartlett, Sie begannen als Athletiktrainer einst beim VfL Osnabrück und kurz darauf bei der deutschen U21-Nationalmannschaft. Wie kamen Sie denn dazu, mit Fußballteams zu arbeiten?
Oliver Bartlett: Es war ein bisschen Zufall. Ich komme eigentlich aus der Leichtathletik, früher war ich Zehnkämpfer. Nach meinem Studium der Biologie und Sportwissenschaft habe ich noch eine Ausbildung zum Physiotherapeuten absolviert und im Anschluss daran in einem großen Reha-Zentrum in Osnabrück in der Sportlerbetreuung gearbeitet. Darunter waren auch Fußballer des VfL. Trainer Claus-Dieter Wollitz war von den erzielten Ergebnissen angetan und lud mich zu einem Gespräch ein. Letztlich wurde dann ein Engagement daraus.
SPOX: 2008 wechselten Sie zu Borussia Dortmund. Da soll Sie Sebastian Kehl nach einem Lehrgang bei der deutschen A-Nationalelf Sportdirektor Michael Zorc empfohlen haben. Stimmt das?
Bartlett: Ja. Während Sebastians langer Verletzungspause 2006 habe ich mit ihm individuelles Rehatraining gemacht. Der BVB hatte sich schon im Vorjahr unter Thomas Doll bei mir gemeldet, da wollte ich aber die Saison in Osnabrück zu Ende bringen. Als dann der Trainerwechsel zu Jürgen Klopp anstand, rief Michael Zorc noch einmal an. Ein zweites Mal wollte ich nicht absagen.
SPOX: Nach vier Jahren beim BVB sind Sie über die Station Red Bull Salzburg wieder in der Bundesliga bei Bayer Leverkusen gelandet. Um mit Roger Schmidt mitgehen zu können, haben Sie sogar eine Offerte des FC Arsenal aus Ihrer Geburtsstadt London ausgeschlagen.
Bartlett: Das stimmt, Arsenal stand schon einmal zu einem früheren Zeitpunkt zur Disposition, aber ich habe mich bewusst für einen anderen Weg entschieden. Das hat vor allem mit der Person Roger Schmidt und mit unserer fruchtbaren Zusammenarbeit zu tun. Roger schenkt mir sehr viel Vertrauen.
gettySPOX: Das ist nicht gerade gewöhnlich, wenn man bedenkt, dass Schmidt und Sie zuvor in Salzburg lediglich eine Saison lang zusammen gearbeitet hatten.
Bartlett: Ich hatte zwar schon zur Winterpause für mich beschlossen, Salzburg zu verlassen. Die Kooperation mit Roger war in diesem einen Jahr jedoch so positiv, dass wir frühzeitig entschieden, wenn möglich auch weiterhin gemeinsam zu arbeiten.
SPOX: Was macht Schmidt für Sie so besonders?
Bartlett: Er hat ein sehr großes Wissen vom Thema Athletik und sieht diesen Bereich auch als eigenständiges Fachgebiet an. Er kennt die physischen Prozesse im Sport und speziell im Fußball und weiß, dass es unterschiedliche Arten und Wechsel von Belastungen gibt. Vor allem aber ist er offen und bereit, auf diesem Terrain jemandem vom Fach volle Selbständigkeit zu gewähren. Seine Einstellung, nicht selbst alles bestimmen zu wollen und auch gar nicht zu können, kommt meiner Arbeit enorm entgegen. Unsere sehr physische Art von Fußball stellt für mein Fachgebiet zudem eine große Herausforderung dar. Ich kann vieles nach meinen Vorstellungen steuern - und das weiß ich sehr zu schätzen.
SPOX: Was meinen Sie genau mit Einfluss?
Bartlett: Der fußballerische Inhalt, die Spielidee werden natürlich von Roger vorgegeben. Wie das athletisch umgesetzt wird, also an welchen Tagen wir zu welchen Uhrzeiten und mit welcher Dauer etwas trainieren, empfehle ich.
SPOX: Sie tragen bei Bayer den Titel "Co-Trainer Athletik". Was verbirgt sich denn hinter dieser unüblichen Bezeichnung?
Bartlett: Sie soll letztlich vor allem die Wertigkeit der Athletik vermitteln. Es geht dabei darum, dass Athletik grundlegend und ein ganz essentieller Teil unseres Fußballs ist. Unsere Spielidee funktioniert nur dann, wenn wir in der Athletik Grundvoraussetzungen erfüllen. Meine Position kommt in der internen Kommunikation direkt unterhalb der des Cheftrainers. Dabei geht es nicht um persönliche Wertschätzung, die anderen Mitglieder des Trainerstabs haben gleichfalls hohe Bedeutung. Dass aber meine Arbeit explizit die Wertigkeit eines Co-Trainers bekommt, signalisiert auch den Spielern, wie wichtig dieser Bereich ist.
SPOX: Die Basis Ihrer Athletik-Philosophie bildet die "Core Performance" genannte Fitness-Methode von Mark Verstegen, der seit elf Jahren als Athletikcoach für die deutsche Nationalmannschaft arbeitet. Dabei werden vor allem die Körperstabilität und der Rumpf als Ausgangspunkt jeder Bewegung betont, zudem gibt es keinen Unterschied zwischen Prävention und Training. Wieso haben Sie für sich diese Herangehensweise adaptiert?
Bartlett: Das ist in meinen Augen eine äußerst schlüssige Zusammensetzung verschiedener wichtiger Bausteine. Die hat Verstegen nicht unbedingt selbst erfunden, aber daraus ein komplettes A-bis-Z-Programm zusammengestellt, das am weitesten entwickelt ist. Man sieht dabei den Athleten im Sportler, ganz unabhängig von der Sportart, und passt das Programm sportartenspezifisch an. In meinem Fall ist das der Fußball, so dass sich Fragen ableiten wie: Wie bereite ich die Spieler auf das Training vor? Wie belaste ich sie währenddessen? Wie lasse ich sie regenerieren? Welche Ernährung passt dazu? Dazu kommt ein Erfahrungsschatz aus vielen verschiedenen Bereichen, basierend auf funktionellem Training unter anderem von Bert van Wingerden.
SPOX: Wie sieht dann letztlich Ihre Arbeit an der Mannschaft aus?
Bartlett: Grundsätzlich ist es so, dass wir im Training immer sehr viel Fußball spielen lassen. Wie wir die einzelnen Übungen umsetzen, also wie viel Belastungs- und Pausenzeit es gibt, wie groß das Spielfeld ist, wie viele Wiederholungen wir machen - diese Zusammensetzung ist in enger Abstimmung mit dem Cheftrainer der Schwerpunkt meiner Arbeit. Hinzu kommt abseits des Fußball das, was noch im rein athletischen Bereich zu ergänzen ist: zusätzliche Läufe, Kraft- oder Mobilitätstraining. Mit dieser Methode ist es uns bislang gut gelungen, Verletzungen im Voraus zu verhindern und in den englischen Wochen innerhalb von drei Tagen dieselbe Leistung abrufen zu können.
SPOX: Leverkusen war in der Champions-League-Gruppenphase die Mannschaft mit den wenigsten Muskelverletzungen aller Teilnehmer. Wie gehen Sie mit der enormen Belastung für die Spieler um?
Bartlett: Wir messen die Belastung und versuchen, uns einen Einblick in sie zu verschaffen. Dank eines GPS-Systems können wir zum Beispiel die Anzahl und Intensität der Beschleunigung eindeutig erkennen. Wir sehen, wie viele Meter die Spieler in verschiedenen Belastungsbereichen zurückgelegt haben und versuchen, bestimmte Werte an bestimmten Tagen zu erreichen. Das soll zu Großteilen über das Fußballerische laufen, da dies ja sozusagen das Endprodukt ist. Was wir dort nicht unterbringen, wird im athletischen Bereich erledigt - besonders die Entwicklung von Beschleunigung. Der Körper muss sehr stabil sein, damit er all diese Kräfte aushält. Wenn Sie einen Käfer nehmen und einen V8-Motor hineinsetzen, fliegt die Kiste auseinander. Es müssen Motor, Fahrgestell und Stoßdämpfer aufeinander abgestimmt sein.
SPOX: Gerade bei einer Dreifachbelastung muss sehr lange in englischen Wochen gespielt werden. Welche Rolle nimmt das Thema Regeneration ein?
Bartlett: Darauf achten wir im selben Ausmaß. Wir werten täglich bestimmte Blutwerte und Speichelproben aus, um die Reaktion des Körpers auf die Belastung zu sehen. Dadurch erkennt man auch, wie anfällig ein Spieler für mögliche Verletzungen ist - und kann das Training entsprechend anpassen. Je nachdem, ob die Spieler noch müde oder schon erholt sind, regulieren wir die Belastung, auch individuell. Manchmal fragt man sich vielleicht, weshalb ein Spieler noch nicht wieder im Mannschaftstraining mit dabei ist. Das kann auch damit zu tun haben, dass er noch etwas länger Erholung benötigt oder in anderen Bereichen bereits trainieren kann, aber für das Fußballerische noch nicht so weit ist.
SPOX: Und vor, nach sowie zwischen Belastung und Regeneration fällt das Thema Ernährung?
Bartlett: Ja. Wir schauen auch, was die Supplementierung angeht, sehr genau auf die Ernährung, weil sie letztlich die Regeneration optimiert. Wann und an welchen Tagen muss ich die richtigen Aminosäuren nehmen, wann die Eiweiße? Dazu haben wir einen eigenen Koch, der Mahlzeiten und Snacks vor und nach dem Training bereitstellt, damit die Spieler möglichst schnell wieder ihre Energietanks aufladen. Wann gehe ich schlafen, wann kann ich einmal länger aufbleiben? Es ist wichtig, dass die Spieler für diese Fragen ein Bewusstsein erlangen, um die Zusammenhänge zu verstehen.
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SPOX: Also gibt es die eine Antwort, weshalb Leverkusen in dieser Saison so wenige Verletzte zu beklagen hatte, gar nicht?
Bartlett: Nein. Das Thema Regeneration gehört ebenso zur Prävention wie das Kraft- und Mobilitätstraining selbst. Der Aufbau und die Belastung von Muskulatur wirken gleichzeitig präventiv gegen Muskelverletzungen. Damit die Ermüdungsresistenz immer hoch ist, belasten wir im Fußballerischen möglichst nahe am Maximum - ohne es zu überschreiten. All dies zusammen, also die Steuerung der Belastung, die Messung der körperlichen Reaktion darauf und die Art des zusätzlichen Trainings führen dazu, dass unser Verletzungsrisiko in den beeinflussbaren Bereichen relativ niedrig ist.
SPOX: Das war in Dortmund anders, dort brach nach Ihrem Abgang 2012 eine lange Verletztenmisere aus. Statistisch gesehen resultieren 70 Prozent der Verletzungen im Sport aus Überanstrengungen. Auch wenn Sie nicht gerne über Ihre Zeit beim BVB reden: Ist die intensive Spielweise der Borussia daran schuld?
Bartlett: Das lässt sich von außen nur schwer beurteilen. Eine intensive Spielweise erhöht grundsätzlich das Verletzungsrisiko. Sicherlich hat sich der BVB mit diesem Thema beschäftigt.
SPOX: Ihre Arbeit beim BVB fruchtete enorm, die Mannschaft rannte in der Zeit zwischen 2010 und 2012 die Gegner regelrecht tot und spielte ein intensives Pressing über weite Teile des Spielfelds.
Bartlett: Genau. Ich habe die Werte der Spieler immer bei Prof. Dr. med Tim Meyer, dem Mannschaftsarzt der deutschen Nationalelf, testen lassen. In meiner letzten Saison beim BVB 2012 waren sie auffällig gut. Die Laktatwerte waren sehr gut und verteilten sich sehr homogen innerhalb der gesamten Mannschaft.
SPOX: Welche Aufgabengebiete haben Sie in Ihrer Zeit beim BVB abgedeckt und wie unterscheidet sich das von Ihrer Arbeit in Leverkusen?
Bartlett: Ich war in Dortmund für den athletischen Teil des Trainings sowie für das Aufwärmen, die Regeneration und die Einzeltrainingseinheiten der Spieler zuständig. Auch präventive und rehabilitative Programme gehörten zu meiner täglichen Arbeit. Durch meine jetzige Position als Co-Trainer Athletik kann ich, in Zusammenarbeit mit Roger Schmidt, auf die Belastungssteuerung Einfluss nehmen.
SPOX: Roger Schmidt und Jürgen Klopp sind sich fußballphilosophisch sehr nahe. Finden Sie, dass das intensive Balljagen und extreme Pressing, das Bayer spielt, noch einmal eine Stufe über der Messlatte steht, die Dortmund in den Jahren 2010 bis 2013 gelegt hat?
Bartlett: Wenn ich das Training vergleiche, würde ich sagen, dass Roger Schmidts Fußball noch choreographierter, ballorientierter und somit extremer ist. Ich gebe zu, dass ich zu meiner Anfangszeit in Dortmund noch weniger Einsicht in das hatte, was vom Fußballerischen alles dahinter steckt. Wenn ich jetzt aber andere Fußballspiele anschaue, erscheinen mir andere Herangehensweisen teilweise viel zu langsam. In gewissen Szenen frage ich mich zuweilen, weshalb der Spieler jetzt nicht attackiert wird. Das vergleiche ich dann intuitiv mit dem Fußball, den wir zurzeit in Leverkusen spielen wollen.
SPOX: Sie haben in Ihrer Diplomarbeit über die schottischen Highland Games geschrieben, wo es unter anderem um Baumstammwerfen, Steinstoßen oder Hammerwerfen geht. Würde es Sie einmal reizen, eine andere Sportart oder einen einzelnen Sportler zu betreuen?
Bartlett: Im Moment bin ich mit dem Fußball wunschlos glücklich. Was andere Sportarten angeht, informiere ich mich besonders über Entwicklungen in der Trainingslehre. Das betrifft auch statistische Auswertungen, vor allem das Thema "Moneyball". Diese moderne Form der statistischen Analyse schaue ich mir seit einiger Zeit sehr intensiv an. Das wird meiner Ansicht nach auch im Fußball Einzug erhalten.
SPOX: "Moneyball" geht zurück auf Billy Beane, der General Manager bei der Baseball-Mannschaft Oakland Athletics ist und mittlerweile auch als Berater beim AZ Alkmaar fungiert. Es geht darum, die Aussagekraft von Statistiken und Analysen zu hinterfragen und zu sehen, was erfolgreich ist und was nicht.
Die Oakland Athletics und das "Moneyball-Prinzip": Die Kunst zu gewinnen?
Bartlett: Wir haben das auch bei uns mit an Bord genommen. Es stellen sich aber noch viele Fragen: Wenn wir erfolgreich spielen, wo sind dann unsere starken Werte, welche Kriterien sind relevant und welche nicht? In welchen Bereichen des Spielfelds sollte man schießen, wo sollte man lieber noch einen Pass spielen? Das lässt sich auch individualisieren: Welche Spieler mit welchen Qualitäten sind wofür wichtig? Sind in einem 4-2-3-1 andere Spielertypen wichtiger als in einem 4-4-2? Wäre dies der Fall, könnte man sie bereits im Vorfeld entsprechend scouten und anhand der Datenauswertungen überlegen, ob eine Verpflichtung überhaupt Sinn macht. Dies würde auch eine andere Art von Scouting mit sich bringen, wenn man, ohne den Spieler gesehen zu haben, bereits dank der Statistikauswertungen beurteilen kann, ob man ihn sich letztlich genauer anschauen sollte oder nicht.
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