Juri Judt machte 44 Bundesligaspiele für den 1. FC Nürnberg und gewann mit dem Club zweimal in der Relegation. Im vergangenen Sommer beendete der Außenverteidiger seine aktive Karriere und begann eine Ausbildung zum Verwaltungsfachwirt. Der 30-Jährige spricht im Interview über Duelle mit dem FC Bayern München, Sinn und Unsinn der Relegation und die Entwicklung seines Ex-Klubs RB Leipzig.
SPOX: Herr Judt, Sie sind im heutigen Kasachstan geboren und im Kindesalter als Spätaussiedler nach Deutschland gekommen. Wie verwurzelt sind Sie noch mit Ihrem Geburtsland?
Juri Judt: Ich habe ehrlich gesagt wenige Erinnerungen daran. Ich bin mit sechs Jahren rübergekommen. Ich habe dort auch keine Verwandten mehr, die ich besuchen könnte oder zu denen Kontakt besteht. Insofern habe ich kaum eine Verbindung dorthin.
SPOX: Sie hatten dennoch die Möglichkeit, unter Nationaltrainer Bernd Storck für Kasachstan zu spielen. Welche Überlegungen haben seinerzeit in Ihrer Abwägung eine Rolle gespielt?
Judt: Die Entscheidung fiel mir relativ leicht. Damals war ich bei Nürnberg Stammspieler und wollte mir diese Chance nicht verbauen. Der Club war nicht so angetan davon, dass ich womöglich auf Länderspielreisen gehen würde. Außerdem war es so, dass ich die deutsche Staatsbürgerschaft hätte ablegen müssen, um die kasachische anzunehmen. Das wollte ich nicht. Deswegen hat es sich ohnehin schnell auch aus bürokratischen Gründen zerschlagen.
SPOX: Heinrich Schmidtgal hat sich dafür entschieden, für Kasachstan zu spielen. Haben Sie mit ihm einmal über seine Entscheidung gesprochen?
Judt: Nein, mit ihm habe ich mich darüber nie ausgetauscht. Ich habe das eine oder andere Mal mit Bernd Storck telefoniert. Er hat mir die Chancen und die Probleme erläutert, gerade was die bürokratischen Schwierigkeiten angeht. Also habe ich das schnell beiseite gelegt.
gettySPOX: Stattdessen haben Sie in der deutschen U21 gespielt, unter anderem mit Manuel Neuer und Sami Khedira. Haben Sie in dieser Zeit von der A-Nationalmannschaft geträumt?
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Judt: Mit dem Gedanken habe ich mich kaum befasst. Ich war in der U21 ja kein unumstrittener Stammspieler. Ich war realistisch genug, um nicht abzuheben und von Dingen zu träumen, die weit entfernt waren. Aber die vier Länderspiele kann mir keiner mehr nehmen. Es war eine riesige Erfahrung, mit Jungs zu spielen, die heute Weltstars sind.
SPOX: Ein wichtiger Schritt für Ihren Werdegang war Ihr Wechsel von Ihrem Heimatverein zu Greuther Fürth, als Sie 13 Jahre alt waren. Wie lief das ab?
Judt: Der Kontakt kam über meinen Sportlehrer zustande. Er war mit dem Fürther Jugendtrainer Reinhold Hintermaier befreundet. Dieser kam bei uns in den Sportunterricht und schaute beim Fußballspielen zu. Danach hat er mich zu einem Probetraining eingeladen, in dem Heinz Höher mich gesehen und schließlich geholt hat. Dann hat alles seinen Lauf genommen.
SPOX: In Fürth haben Sie alle Jugendabteilungen durchlaufen und sind zur Saison 2005/2006 in den Profikader gestoßen. Können Sie sich noch Ihr erstes Zweitligaspiel erinnern?
Judt: Das weiß ich noch ganz genau. Es ging an einem Montagabend gegen 1860 München. Zuvor hat mich Benno Möhlmann bei einem Spaziergang gefragt, ob ich mir zutrauen würde zu spielen. Da sagt man logischerweise nicht nein. Ich habe bis zur 82. oder 83. Minute gespielt, es ging 2:2 aus. Das vergisst man nie wieder.
SPOX: Sie haben bis 2008 bei der SpVgg gespielt und dann den verbotenen Wechsel zum 1. FC Nürnberg gemacht. Haben Sie Anfeindungen erlebt?
Judt: Nein, Anfeindungen ist in dem Fall ein zu großes Wort. Natürlich gab es Situationen, in denen nicht jeder den Wechsel begrüßt hat. Aber es war nie grob oder dramatisch.
SPOX: Und innerhalb der Mannschaft?
Judt: Natürlich gab es ab und zu Witzeleien oder Anspielungen, aber das war alles nur Spaß, nie Ernst.
SPOX: Kaum beim Club angekommen haben Sie als Zweitligist bereits in der zweiten Runde des DFB-Pokals beim FC Bayern München gespielt und Sie waren in der Startelf.
Judt: Das war der Wahnsinn. Bayern München ist sowieso die Mannschaft, gegen die ich am häufigsten gespielt habe. Ich habe da viele und meistens eher schlechte Erinnerungen. (lacht)
SPOX: Inwiefern?
Judt: Ich habe nicht so gerne gegen Franck Ribery gespielt. Er war damals in seiner absoluten Blütezeit. Das ist ein Ausnahmekönner und es ist wahnsinnig schwierig, ihn zu verteidigen.
SPOX: Sind die Duelle gegen die Bayern die Spiele, die für Sie persönlich beim Rückblick auf Ihre Karriere besonders herausstechen?
Judt: Einen bleibenden Eindruck haben für mich vor allem die Relegationsspiele mit Nürnberg gegen Energie Cottbus und den FC Augsburg hinterlassen. Das sind Spiele, bei denen sehr viel auf dem Spiel steht und der Druck enorm hoch ist. Die Tage davor, die Vorbereitung, die Presse, der Druck - das ist alles andere als angenehm. Wenn Du das durchmachst und auch noch erfolgreich bestreitest, macht Dich im Fußball, aber auch im Privatleben so schnell nichts mehr verrückt. Gegen die Relegation stinkt alles ab.
SPOX: Sie haben es geschafft, die Relegation zweimal hintereinander für sich zu entscheiden. Aber wie stehen Sie denn grundsätzlich zu dem Modus?
Judt: Für die Zweitligisten ist es brutal bitter, für die Erstligisten ist es gut. Ich sehe das sehr kritisch. Genauso schwierig ist für mich die Regelung in der Regionalliga, dass der Meister keine Garantie hat aufzusteigen. Für den Zuschauer sind die Relegationsspiele interessant. Aber ich fand die vorherige Regelung auf jeden Fall sinnvoller.
SPOX: Besonders in Nürnberg waren Sie enorm beliebt bei den Fans, weil diese Ihren Einsatzwillen und Ihre Einstellung geschätzt haben. Woher kommt diese Eigenschaft? Sind Sie privat auch so ein Beißer?
Judt: Ich sage es mal so: Ich muss meine technischen Defizite mit einer aggressiven Spielweise wettmachen. Aber mit mir als Privatperson hat das nichts zu tun. Privat bin ich entspannt und ein ganz anderer Mensch.
SPOX: 2011 sind Sie vom Club in die Regionalliga zu RB Leipzig gewechselt. War die rasante Entwicklung damals bereits abzusehen?
Judt: Die Richtung war klar vorgegeben und es war vorhersehbar, dass dort etwas Großes entstehen würde. Aber dass es innerhalb so kurzer Zeit so schnell nach oben geht, konnte man nicht erwarten. Da muss man vor Leuten wie Ralf Rangnick den Hut ziehen. Er hat in diesem Verein an den richtigen Stellschrauben gedreht.
SPOX: Rangnick ist etwa zeitgleich mit Ihnen in den Verein gekommen.
Judt: Genau. Geholt hat mich zwar noch Peter Pacult. Aber ihn habe ich nur etwa eine Woche kennengelernt. Dann hat Herr Rangnick Alexander Zorniger als Trainer geholt und es ging nur noch bergauf.
SPOX: Es hätte auch ganz anders laufen können. Das Relegationsspiel gegen Lotte ist erst in der Verlängerung entschieden worden.
Judt: Allerdings. Das sind Nuancen, die in solchen Spielen über die Zukunft eines Vereins entscheiden. Hätte man in dieser Situation den Aufstieg verpasst, würde RB Leipzig heute möglicherweise noch in der 2. oder sogar 3. Liga spielen. Aber es ist anders gekommen und jetzt spielen sie bald Champions League. So eng ist das manchmal beisammen.
SPOX: Wie schnell hat man neben Personalentscheidungen auch strukturell den Einfluss von Rangnick in Leipzig gespürt?
Judt: Er hat seine Ideen schon sehr schnell eingebracht. Er hat stark auf die Ernährung der Spieler geachtet, die Trainingsbedingungen, Hotels - die ganze Infrastruktur war schon damals zu Regionalligazeiten erstligareif. Aber ich habe nicht erwartet, dass es so schnell nach ganz oben geht.
SPOX: Nach Leipzig hatten Sie ein kurzes, unglückliches Engagement in Saarbrücken, das Sie selbst als Fehler bezeichnet haben, sind dann in Erfurt aber noch einmal aufgeblüht. Dort haben Sie wie in der Jugend im zentralen Mittelfeld gespielt, was Ihnen den Spitznamen "Philipp Lahm Erfurts" eingebracht hat. Eine treffende Beschreibung?
Judt: Das ist ein weit hergeholtes Kompliment. (lacht) Das nimmt man gerne an, aber ich bin ein Typ, der das einordnen kann. Die zwei Jahre in Erfurt waren eine super Zeit. Dort habe ich mich fußballerisch am wohlsten gefühlt.
SPOX: Tatsächlich? spox
Judt: Ja, es hat riesigen Spaß gemacht. Im Umfeld war zu spüren, dass Erfurt ein Arbeiterverein ist, der sich das Geld mühsam erarbeiten muss. Der Verein muss jedes Jahr um den Klassenverbleib zittern. Das schweißt die Leute zusammen, dort packt jeder mit an. Und auch in der Mannschaft waren alles einwandfreie Charaktere. Da habe ich schon wahnsinnig wohlgefühlt. Aber letztlich habe ich mich dazu entschlossen, den Vertrag in Erfurt nicht zu verlängern und einen komplett anderen Weg einzuschlagen.
SPOX: Der Journalist und Schriftsteller Ronald Reng hat über Sie gesagt, Sie hätten sich während Ihrer Karriere stets mit der Frage gequält, ob Fußballprofi so ein toller Beruf sei. Wie würden Sie diese quälende Frage aus heutiger Sicht beantworten?
Judt: Es ist definitiv ein toller Beruf. Aber es gibt natürlich auch Nachteile. Zum Ende meiner Karriere kam meine Familie dazu, meine Frau und zwei Kinder. Da muss man irgendwann Prioritäten setzen. Entweder Du spielst weiter und dafür kommt die Familie zu kurz oder Du schlägst einen komplett anderen Weg ein und lernst etwas Vernünftiges.
SPOX: Für Letzteres haben Sie sich entschieden und eine Ausbildung zum Verwaltungsfachwirt begonnen. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Judt: Das war eher zufällig. Ich habe mitbekommen, dass das Landesamt für Statistik seinen Hauptsitz von München nach Fürth verlagert. Dann habe ich mich einfach mal drauflosbeworben. Das hat super funktioniert und so bin ich dort gelandet. Bis jetzt habe ich diesen Schritt nicht bereut.
SPOX: Sie haben zu Beginn der Saison noch für Seligenporten gespielt, haben dann aber Ihre Karriere beendet, weil Sie sich voll auf Ihre Ausbildung konzentrieren wollten.
Judt: Naja, die Karriere habe ich nach dem Engagement in Erfurt beendet. Da habe ich mich entschieden, den Fokus vom Fußball wegzunehmen. Als ich in Seligenporten zugesagt habe, hat der Verein noch in der Bayernliga gespielt. Der Aufwand wäre verhältnismäßig überschaubar gewesen. Aber sie sind aufgestiegen. Das hat die Situation verändert. Ich wollte erst einmal schauen, wie es läuft. Aber ich habe schnell festgestellt, dass mir drei bis vier Mal Training in der Woche plus Spiele einfach zu viel sind. Zumal die Spiele ja nicht immer um die Ecke sind.
SPOX: Also haben Sie sich gesagt, Sie möchten keinen ganzen Wochenendtag opfern, wenn Sie schon die ganze Woche arbeiten.
Judt: Genau das war die Überlegung. Wenn ich einen so hohen Aufwand betreiben und so den Fokus von Ausbildung und Familie wegnehmen wollte, hätte ich ja auch in Erfurt weiterspielen können.
SPOX: Gibt es Faktoren am Profileben, die Sie vermissen?
Judt: Eigentlich nicht. Ich habe das freie Wochenende zu schätzen gelernt. Das ist schon Gold wert. Ich schufte mich gerne in der Woche 40 Stunden ab und weiß dann, dass ich am Wochenende frei habe.
SPOX: Wie zufrieden sind Sie damit, wie Ihre Ausbildung läuft?
Judt: Am Anfang war es eine Umstellung, die Woche über im Büro zu sitzen oder auf Klausuren für die Berufsschule zu lernen. Aber ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt und der Alltag ist eingekehrt. Ich würde mich auf jeden Fall wieder so entscheiden.
Juri Judt im Steckbrief