Im Sommer 2012 sind Sie dann zum BVB zurückgekehrt. Wie lief die Entscheidungsfindung?
Reus: Einerseits habe ich mich in Gladbach sehr wohlgefühlt. Wir hatten eine starke Truppe und ich strebe - wie ich gerade schon betont habe - immer nach Kontinuität. Ich hatte das Gefühl, dass wir eine Mannschaft aufbauen können, um in den kommenden Jahren europäisch zu spielen, was Gladbach in den Jahren zuvor nicht geschafft hatte. Andererseits bekommst du nicht zwei- oder dreimal die Chance, dass dich dein Heimatklub zurückholen möchte. In der Folge habe ich viel nachgedacht, mir eine Pro-und-Contra-Liste erstellt. Relativ schnell kam dann der Entschluss, dass ich zum BVB wechseln möchte. Letztlich war es eine Herzensentscheidung.
Wie haben Sie Ihr erstes Gespräch mit Jürgen Klopp in Erinnerung?
Reus: Oh Gott. (lacht) Der Jürgen war so ein Tier. Jemanden wie ihn kanntest du nur aus dem Fernsehen. Wenn Jürgen vor dir sitzt mit seiner Aura, mit seiner Aggressivität, die er selbst beim Sprechen ausstrahlt, mit seiner Größe, dann ist das schon beeindruckend. Auch die Art und Weise, wie er mit dir spricht - so etwas gibt es selten im Profigeschäft. Er zieht dich in seinen Bann und lässt dich nicht mehr los. Ich bin mit flatterndem Herzen aus dem Gespräch gegangen. Er war auf jeden Fall einer der Gründe, warum ich zu Dortmund gewechselt bin.
Klopp wird primär über Emotionen definiert. Hat er Sie auch inhaltlich überzeugt?
Reus: Vor einer Saison kann man vieles planen. Es können aber so viele unvorhersehbare Dinge passieren wie ein Systemwechsel oder Verletzungen, dass es doch ganz anders kommt. Wenn ein Verein einen Spieler verpflichten möchte, ist es wichtig, dass der Trainer dem Spieler die Philosophie nahebringt und ihm erklärt, was er mit ihm vorhat. Das war bei mir nicht anders. In dem Jahr ist Shinji Kagawa zu Manchester United gewechselt, ich war der Ersatz. Wir haben dann darüber gesprochen, auf welcher Position er mich sieht und in welchen Bereichen ich mich noch verbessern kann. Jürgen kann Spieler weiterentwickeln und besser machen. Das ist ein ganz wichtiger Faktor. Er hat eine spezielle Art, im Training und im persönlichen Umgang.
Im Sommer 2013 wechselte Mario Götze zum FC Bayern. Bereits im April war das Thema einen Tag vor dem Halbfinal-Hinspiel der Champions League gegen Real Madrid an die Öffentlichkeit gelangt. Wie haben Sie von dem Transfer erfahren?
Reus: Ich war zuhause, es hat geklingelt und Mario stand vor meiner Tür. Er hat mir persönlich gesagt, dass er den Verein verlassen und einen anderen Weg einschlagen wird. Ich wusste in dem Moment gar nicht, was ich denken oder sagen soll. Ich war frisch nach Dortmund gekommen und hatte das Gefühl, dass wir ein gutes Duo sein könnten. Deshalb war seine Entscheidung für mich in dem Moment schwierig nachzuvollziehen. Wir hatten damals eine gute Truppe für die kommenden Jahre. Und ich hatte eigentlich das Gefühl, dass es zwischen uns passt und dass wir noch besser zusammenspielen können.
Waren Sie wütend?
Reus: Das will ich so nicht sagen, aber man will natürlich immer mit den Besten zusammenspielen. Wenn dann einer der Besten geht, ist das schwierig zu verstehen. Letztlich muss jeder seine eigenen Entscheidungen treffen. Man hat nur eine Karriere. Und wenn das damals für ihn die richtige Entscheidung war, dann hat das jeder zu akzeptieren.
Die Reaktionen auf den Wechsel waren heftig. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Reus: Ich habe Mario vor dem Champions-League-Spiel gegen Real Madrid abgeholt. Er saß hinten im Auto, die Fans haben auf ihn gewartet. Das war keine einfache Situation. Ich weiß, wie er das damals erlebt und empfunden hat und wollte nicht in seiner Haut stecken. Welcher Druck auf seinen Schultern lastete - das können Außenstehende und auch ich als Fußballer gar nicht begreifen. Mario ist dann richtig gut mit der Situation umgegangen, hat ein überragendes Spiel gemacht und das erste Tor vorbereitet. Von daher hat er sich riesigen Respekt verdient. Über den Zeitpunkt und darüber, wie die Meldung an die Öffentlichkeit gelangt ist, brauchen wir ohnehin nicht sprechen. Zum Glück konnten wir die Fans mitnehmen, sonst hätten wir dieses Spiel nicht so bestreiten können.
Zeigen die Reaktionen auch, wie sehr das Fußballgeschäft in der Öffentlichkeit überhöht wird?
Reus: Wenn ein Top-Spieler den Verein verlässt, ist man als Fan enttäuscht. Man möchte immer, dass die besten Spieler im Verein bleiben. Man muss aber auch den Spieler verstehen und irgendwann akzeptieren, dass er diesen Weg für seine eine Karriere gewählt hat. Natürlich kann man darüber streiten, ob es richtig oder falsch war. Hinterher ist man immer schlauer. Mario war damals ein unfassbarer Rohdiamant. Dass er ausgerechnet zu dem Klub gegangen ist, der unser größter Konkurrent war und ist, dass er die Bayern noch stärker gemacht hat, war für die Fans extrem enttäuschend. Dadurch war es doppelt bitter.
Im Hinspiel gegen Real ist die Mannschaft beim 4:1 über sich hinausgewachsen, im Rückspiel (0:2) wurde es nochmal eng. Wie haben Sie diese Achterbahnfahrt innerhalb von einer Woche erlebt?
Reus: In diesem Jahr hätte ich uns mit dieser Mannschaft alles zugetraut - und das haben wir ja auch fast geschafft. Wir waren unfassbar gut, hatten unheimlich schnelle Spieler, hatten aber auch Malocher, die gekämpft haben. Wir waren ein stabiles Gebilde, auch in der Breite. Im Hinspiel gegen Real hatte ich selbst nach dem zwischenzeitlichen 1:1 durch Ronaldo nicht das Gefühl, dass das Spiel kippen würde. Natürlich war es schwierig, aber wir haben uns irgendwann in einen Rausch gespielt.
Und im Rückspiel?
Reus: Da war es die absolute Hölle. Die letzten zehn Minuten waren die längsten zehn Minuten meiner Karriere. Im Santiago Bernabeu wurde es auf den Rängen immer lauter, auf dem Platz immer enger. Real hat relativ spät die Tore gemacht, nachdem wir zuvor Riesenchancen liegengelassen hatten, mit denen wir das Ding längst hätten klarmachen können. Nach dem Abpfiff war man emotional gelöst, aber auch richtig fertig und geplättet, weil das Spiel einfach so viel Kraft gekostet hatte, allein mental. Letztlich war es ein goldener Moment.
Wie bewerten Sie das Champions-League-Finale gegen Bayern aus heutiger Sicht?
Reus: Wir waren in der ersten Halbzeit richtig stark. Natürlich kann man immer darüber spekulieren, ob es anders ausgegangen wäre, wenn wir in dieser Phase des Spiels mit 1:0 in Führung gegangen wären. So muss man sagen, dass uns am Ende die Körner gefehlt haben. Da waren die Bayern erfahrener. Sie hatten im richtigen Moment die richtige Lösung parat. Mit Arjen Robbens Tor war es dann vorbei.
Damals waren Sie 23 Jahre jung. Inzwischen sind Sie 30 und Kapitän des BVB. Wie hat sich Ihre Rolle verändert?
Reus: Für mich steht immer noch im Vordergrund, Spaß am Fußball zu haben. Grundsätzlich bin ich mir der Verantwortung aber bewusst. Man lernt im Laufe der Jahre, damit umzugehen. Das kann man nicht mit 22 oder 23 Jahren, sondern in einem Alter ab 26 oder 27. Dann weiß man, wofür man geradestehen muss. Ich bin der Meinung, dass in einem Team jeder Verantwortung übernehmen muss. Trotzdem trägt man als Kapitän noch ein Stück mehr Verantwortung, weil man die Mannschaft führen und auch in schwierigen Momenten vorweg gehen muss. Für mich persönlich sind das teilweise auch neue Situationen. Man wächst mit der Zeit mehr und mehr in die Rolle hinein und weiß, in welchen Situationen man etwas sagen muss und in welchen nicht.
Sie sind vor kurzem Vater geworden. Inwiefern hat sich Ihr Leben dadurch verändert?
Reus: Es ist das schönste Gefühl der Welt. Im Vorfeld kann man sich gar nicht ausmalen, was da auf einen zukommt und wie das kleine Wesen aussieht. Das ist ein Moment, den man mit all den Emotionen am liebsten für immer einfangen würde. Ein Moment, den man gar nicht mit Worten beschreiben kann. Man merkt, dass gewisse Dinge nicht mehr so wichtig sind, wie sie es vorher waren. Du hast plötzlich ein Kind zuhause, das dich braucht, das dir noch nicht erzählen kann, was es eigentlich will. Da gibt es jeden Tag unheimlich viele Momente, die wunderschön sind und die ich sehr genieße.