Wie sehr nervt es Sie, wenn den Schiedsrichtern bei den Diskussionen Ahnungslosigkeit vorgeworfen wird?
Ittrich: Wenn ich höre, dass wir keine Ahnung hätten und die Regeln nicht kennen würden, kann ich mir nur an den Kopf fassen. Es stimmt nun mal nicht. Und trotzdem erzählen mir andere, wie ich meinen Job richtig zu machen habe. Man stelle sich einmal vor, ich würde nach einem Spiel zu einem Trainer gehen und ihm erzählen, dass er anders aufstellen und ein anderes System hätte spielen sollen. Was da los wäre... Es darf nicht sein, dass menschliche Fehler passieren und das System komplett explodiert. Das Rekik-Handspiel beispielsweise wurde einfach übersehen. Aber, dass der Kollege davor 500 überragende Spiele gemacht hat, interessiert dann plötzlich niemanden mehr. Das ist nicht in Ordnung.
Beim Rekik-Fall hätte wohl selbst eine Challenge nichts gebracht, weil es niemand gesehen hat. Dennoch wäre die Challenge doch ein logischer nächster Schritt.
Ittrich: Bei einer Challenge würde die Verantwortung in gewisser Weise weitergereicht werden. Ich gebe aber zu bedenken, dass eine Challenge nicht verhindert, dass 50:50-Entscheidungen getroffen werden und so oder so interpretiert werden können.
Dennoch ist es besser, wenn ein Verein nicht machtlos dasteht, sondern wenigstens eine Überprüfung anfordern kann, deren Ergebnis dann auch klar an alle im Stadion kommuniziert werden muss.
Ittrich: Okay, aber wir haben im Fußball nicht so viele Unterbrechungen wie im Football. Wie schnell kann so etwas ablaufen? Was machen wir, wenn direkt danach ein Foulspiel passiert und wir schon wieder eine neue Spielsituation haben? So einfach ist das regeltechnisch nicht. Das IFAB gibt die Regeln vor.
Ittrich: "Es geht nicht nur um die Bilder und die Beurteilung"
Das ist richtig, dennoch ein weiterer Punkt: In der NFL entscheidet am Ende New York und nicht der Ref auf dem Platz. Niemand würde von einer Enteierung sprechen, aber im Fußball will dann doch jeder, dass der Schiri auf dem Feld letztlich entscheidet. Warum?
Ittrich: Der Schiedsrichter auf dem Feld ist derjenige, der die Dynamik des Spiels erlebt und am besten entscheiden kann. Der Video-Assistent ist genauso kompetent wie der Schiedsrichter auf dem Feld und genauso konzentriert bei der Sache, aber er steht nicht auf dem Platz. Deswegen ist es besser, dass der Schiedsrichter auf dem Platz entscheidet und es auch so von allen wahrgenommen wird.
Der Videoassistent muss nicht die Dynamik des Spiels erleben, er soll sich die Bilder anschauen und entscheiden.
Ittrich: Aber es geht nicht nur um die Bilder und die Beurteilung. Es gibt Strafstoß-Situationen, bei denen meine erste Wahrnehmung auf dem Feld ist, dass es nicht für einen Elfer reicht. Dann schaue ich mir die Bilder an, sehe einen Kontakt und es reicht mir immer noch nicht. Viele sagen dann, dass man an den Bildern nicht mehr vorbeikommt, das stimmt natürlich auch irgendwo, dennoch sehe ich mich als Schiri auf dem Feld am besten in der Lage, unter Einbeziehung aller Faktoren die endgültige Entscheidung zu treffen.
Sie haben eingangs erwähnt, dass ein Schiedsrichter sich auch Fehler zugestehen muss. Babak Rafati, dem Sie damals gemeinsam mit Frank Willenborg und Holger Henschel das Leben retteten, nannte den zu großen Drang nach Perfektionismus als einen Grund, der zu seinem Selbstmordversuch führte. Wie schwer ist es, sich Fehler zu erlauben?
Ittrich: Sich Fehler zu erlauben, darf keine Rechtfertigung werden, welche zu machen. Druck gibt es in allen Branchen und jeder Mensch kann entweder besser oder schlechter damit umgehen. Die Frage ist dann, wie man besser oder schlechter damit umgeht. Wie man für sich den richtigen Weg findet. Ich bin ehrgeizig und möchte keine Fehler machen, aber wenn ich akzeptiere, dass Fehler passieren können und werden, befreit mich das und führt im besten Falle zu besseren Leistungen. Generell haben wir im Schiedsrichterwesen ein neues Beobachtungssystem bekommen. Dieses ist nicht mehr ganz so notengetrieben, das ist eine hilfreiche Weiterentwicklung.