Im Sommer 2007 heuerte Lucien Favre bei Hertha BSC zum ersten Mal als Trainer in Deutschland an. Es folgte die fünfjährige, erfolgreiche Zeit bei Borussia Mönchengladbach. Seit Sommer 2018 ist Favre nun Cheftrainer bei Borussia Dortmund, wo er in seiner ersten Saison nur knapp den Meistertitel verpasste.
Im zweiten Teil des Interviews mit SPOX und DAZN spricht Favre über den Aufstieg und Fall während seiner Zeit in Berlin, die Amtszeit bei "Borussia Barca" in Gladbach und Gespräche mit dem speziellen Mario Balotelli. Zudem äußert sich Favre zu seiner ersten Saison beim BVB, zu Gegentoren nach Standardsituationen, zum erhöhten Druck und der zuletzt aufgekommenen Kritik an ihm.
Hier geht es zum ersten Teil des Interviews mit Lucien Favre. Darin spricht der 62-Jährige über die Anfänge, als der Fußball zur Droge wurde, seinen Start als C-Jugendtrainer und die erfolgreiche Zeit beim FC Zürich, die ihm zum Durchbruch und Wechsel nach Deutschland verhalf.
Herr Favre, 2006 und 2007 wurden Sie Schweizer Trainer des Jahres - und wechselten anschließend nach vier Jahren in Zürich zum ersten Mal in Ihrer gesamten Karriere in ein komplett nicht-französischsprachiges Land zu Hertha BSC. Mussten Sie lange überlegen?
Lucien Favre: Ich habe erst ziemlich gezögert und nicht sofort zugesagt. Zürich zu verlassen war hart für mich, denn ich hatte dort die neue Saison bereits vorbereitet und das Berliner Angebot kam sehr spät. Letztlich habe ich die Herausforderung aber angenommen, weil es die deutsche Hauptstadt und ein recht bekannter Klub war.
Wie bewerten Sie nun im Rückblick Ihr erstes Jahr als Trainer in Deutschland, als Sie mit der Hertha auf Platz zehn landeten?
Favre: Man darf nicht vergessen, dass der Verein im Jahr zuvor sechs Spieltage vor Schluss noch in Abstiegsgefahr war und letztlich nicht gut abgeschnitten hatte. Das erste Jahr war schwierig. Wir haben einen sehr guten Start erwischt. Anschließend war es weniger gut, wir haben Anfang Januar ein paar Spiele verloren und sind in eine Krise geraten. Es ging ein wenig die Angst um. Wir mussten uns wieder aufraffen, standen aber wirklich alle zusammen. Diese Situation haben wir sehr gut gemeistert und ins Gegenteil verkehrt. Am Ende haben wir uns auch für den UEFA-Cup qualifiziert, ich glaube aufgrund der Fairplay-Wertung. (lacht)
spoxIn der zweiten Saison kämpfte die Hertha plötzlich vollkommen überraschend um die Meisterschaft. Wie erklären Sie sich diese eklatante Leistungssteigerung?
Favre: Wir haben gute Transfers getätigt. Unsere Abwehr war stark, mit Drobny im Tor sowie der Innenverteidigung um Friedrich und Simunic. Im Mittelfeld hatten wir Raffael und vorne Voronin, der eine außergewöhnliche Saison gespielt hat, sowie Pantelic. Wir haben quasi bis zum Schluss um den Titel mitgespielt.
Wie groß waren Ihre Hoffnungen auf den möglichen Coup? Zwischenzeitlich stand man mit vier Punkten Vorsprung an der Tabellenspitze.
Favre: Wir haben daran geglaubt, aber wussten, dass es schwer würde. Im Februar 2009 haben wir zu Hause die Bayern mit 2:1 geschlagen. Anschließend waren die Hoffnungen aller sehr groß, was normal ist, wenn du nach sechs, sieben Monaten in der laufenden Saison die Tabellenspitze erklimmst. Wir wollten das Maximum erreichen, haben es aber nicht geschafft. Pal Dardai hat ein, zwei Jahre später gesagt, dass wir mit dieser Mannschaft mehr als das Maximum erreicht haben - und er war damals Spieler.
In der Saison darauf stieg die Hertha genauso überraschend ab. Nur ein halbes Jahr, nachdem man in der Tabelle auf Rang eins stand, wurden Sie dann freigestellt.
Favre: Wir haben viele Spieler verloren und waren dadurch deutlich schlechter. Das war ein Fakt. Es ist schwer, sich einzugestehen, dass man sehr schnell deutlich schwächer geworden ist. Das war nach dieser Vorsaison auch nicht einfach. Wie Sie sagen, am Ende ist diese Mannschaft abgestiegen.
Dass es jedoch so schnell derart bergab gehen würde, war wohl nicht vorherzusehen?
Favre: Das Gleichgewicht und die Stärke einer Mannschaft können sich aufgrund von Kleinigkeiten verändern. Wie ich schon sagte: Man muss jedes Mal versuchen, die Mannschaft zu verstärken. Wenn das nicht gelingt, kann es sehr gefährlich werden. Das bestätigte sich leider in dieser Saison. Es gab Spieler, die nach der guten Saison Angebote bekamen oder deren Vertrag auslief, so dass wir sehr, sehr wichtige Leute verloren haben. Dann kann es sehr schnell nach unten gehen.
Nach Ihrem Aus in Berlin gaben Sie eigenmächtig eine Pressekonferenz, die man anschließend als Kritik an der Vereinsführung auslegte. Würden Sie heute sagen, dass das ein Fehler war?
Favre: Nein, das war nicht eigenmächtig. Das ist alles, was ich dazu sagen möchte.
Wie aber denken Sie heute über das Ende bei der Hertha?
Favre: So ist es einfach. Wir haben Spiele verloren, weil die Mannschaft deutlich schwächer war und sie gute Spieler verloren hat, die nicht ersetzt werden konnten. Das ist ganz einfach, aber natürlich auch schwer für die Verantwortlichen. Manchmal kann man diese Dinge antizipieren, aber selbst wenn dir das gelingt, ist es schwierig, die guten Spieler zu halten. Es gibt keine Wunder. Um eine Mannschaft aufzubauen, muss man sie mit den richtigen und leidenschaftlichen Spielern verstärken - das macht den Unterschied aus.
Im Februar 2011 unterschrieben Sie bei der Borussia aus Mönchengladbach, die damals Tabellenletzter war und sieben Punkte Rückstand auf den Relegationsplatz hatte. Wie schafften Sie es, mit diesem Team aus dem Stand 20 Punkte aus zwölf Spielen zu holen?
Favre: Der Klub hatte praktisch keine Chance mehr auf den Klassenerhalt. Es lief aber sofort sehr gut. Nach nur einem Monat war die Mannschaft plötzlich deutlich besser und es war schwer, gegen sie zu spielen. Zuvor bekam sie durchschnittlich 2,8 Gegentore pro Spiel. Daher haben wir uns zunächst um die Defensive gekümmert. Nach ein paar Wochen waren wir hinten sehr solide und es war für die Gegner unheimlich schwer, gegen uns ein Tor zu erzielen. In der Offensive hatten wir durch Spieler wie den 20-jährigen Marco Reus, Mike Hanke, Juan Arango oder Patrick Hermann die Möglichkeit, ein gutes Angriffsspiel aufzuziehen. Das Team ist zu einer echten Mannschaft geworden, in der jeder ganz genau wusste, was er zu tun, wie er zu verteidigen und zu attackieren hatte.
Am Ende rettete man sich in der Relegation gegen den VfL Bochum mit einem 1:0-Heimsieg und einem 1:1 beim VfL.
Favre: Kleinigkeiten haben den Ausschlag gegeben. Es war sehr eng, aber auch außergewöhnlich, sich im letzten Moment einer Saison zu retten. Ich erinnere mich an das letzte Bundesligaspiel am 34. Spieltag in Hamburg. Nach 20 Minuten waren wir abgestiegen, nach 30 Minuten standen wir über dem Strich und nach der Halbzeit auf dem Relegationsplatz. Das war unglaublich. Wir haben dort auch nicht gut gespielt, weil wir zu sehr auf die Ergebnisse der anderen geschaut und uns nicht auf unser Spiel konzentriert haben. Auch deshalb sage ich so häufig, dass man Spiel für Spiel angehen und sich immer wieder neu konzentrieren muss.
Wie war es möglich, nur ein Jahr später sensationell Platz vier zu erreichen?
Favre: Es war die gleiche Mannschaft, weil wir uns keine Neuzugänge leisten konnten. Das war eine Frage des Selbstvertrauens und des eigenen Zutrauens. Die Spieler waren stolz darauf, in der 1. Liga geblieben zu sein. Wir haben auch viel gearbeitet und trainiert, dienstags und mittwochs je zweimal. Wir waren physisch und taktisch bereit, aber auch, was die Details angeht. Wir haben keine Dummheiten gemacht oder Geschenke verteilt. Das war in dieser Saison sehr wichtig. Wir wussten, dass wir in allen Bereichen sehr solide sind und in der Offensive jederzeit gefährlich werden können. Man hat uns "Borussia Barca" genannt. Das hatte auch seine Berechtigung, weil wir gut Fußball gespielt und immer Torchancen kreiert haben. Es war aber vor allem extrem schwierig, uns defensiv zu destabilisieren.
"Borussia Barca" - waren Sie stolz auf diese Bezeichnung?
Favre: Natürlich. Das ist normal. Wir haben wirklich im Wortsinn gespielt, waren aber auch kompakt und nur schwer aus dem Gleichgewicht zu bringen. Gerade nach Ballgewinn waren wir sehr gut und haben dann immer versucht, zu spielen.
Schmeichelte Ihnen eine Umschreibung wie "Taktik-Genie Lucien Favre" oder die dreimalige Auszeichnung zum Trainer der Saison?
Favre: Ja. Ich akzeptiere die Komplimente genauso wie die Kritik. Beide Male ist es für mich übertrieben und etwas zu viel. Es ist ganz einfach: Es hat damals funktioniert, weil die Spieler verstanden haben. Für mich waren das einfache Dinge, aber wichtig war, dass die Spieler sie verstanden haben. Sie haben zugehört, wollten lernen und haben verstanden. Sie waren wie gesagt auch physisch alle bereit, ob das in den Zweikämpfen oder bei der Balleroberung war. Defensivtaktisch waren sie sehr intelligent. All dies war der Grund dafür, warum wir so gute Ergebnisse einfahren konnten.
Inwiefern kann es auch vorkommen, dass es bei Spielern nicht sofort Klick macht wie bei jenen damals in Gladbach?
Favre: Man muss sie wie gesagt immer überzeugen. Bei manchen dauert das länger als bei anderen. Es geht auch darum, aufnahmefähig zu sein, sich sofort korrigieren zu können und den Willen zu haben, zu lernen und sich zu entwickeln. Daher finde ich das Verhalten von Federer oder Nadal so imposant: Egal, ob sie gewonnen oder verloren haben, sie sagen immer, dass sie sich auf das nächste Training freuen, um sich zu entwickeln. Diese Mentalität hatten wir in Gladbach.
Ist dafür auch schlichtweg eine grundsätzliche Intelligenz vonnöten?
Favre: Gewiss, hauptausschlaggebend ist aber die Spielintelligenz. Das ist die Qualität Nummer eins, die man benötigt. Die Philosophie von Ajax Amsterdam oder Barcelona ist im Grunde auf drei Punkten aufgebaut: erstens die Spielintelligenz, zweitens Technik und Bewegung, drittens Kondition. Das Spiel lesen und spüren zu können, ist am wichtigsten - offensiv wie defensiv. Man muss die Aktionen antizipieren können.
Wie schwer war für Sie der Abgang von Leistungsträgern wie Marco Reus und die Tatsache zu verkraften, dass es als Gladbacher Coach schwierig ist, langfristig ein starkes Team aufzubauen?
Favre: Es ist immer die gleiche Geschichte: Man spielt eine fantastische Saison und verliert anschließend wichtige Spieler. Wir haben Dante, Reus und Neustädter abgegeben. Es war schwer, sie zu ersetzen, so dass wir in der Folgesaison Achter wurden. Wie gesagt: Es gibt keine Wunder. Wenn man wichtige Spieler verliert und sie nicht ersetzen kann, wird es schwer, dieselben Resultate einzufahren. Dante und Reus waren Stützen der Mannschaft. Dante war der Leader in der Kabine und auf dem Platz, weniger beim Training. (lacht) Reus war der Anführer der Offensive. Wenn man solche Spieler verliert, wird es danach automatisch schwerer, weil es nicht leicht ist, den gleichen Spielertyp zu finden. Man kann dann natürlich einen guten Spieler verpflichten, aber muss ihm Eingewöhnungszeit zugestehen, er muss die anderen kennenlernen. Das ist dann etwas komplett Unterschiedliches. Als wir uns 2013 mit Raffael aus Schalke, Max Kruse und Granit Xhaka verstärkt haben, hatten wir wieder eine gute Mannschaft und sind am Ende als Dritter direkt in die Champions League eingezogen.
Ärgert es Sie, dass diese Entwicklungen innerhalb einer Mannschaft nur wenige verstehen und die Öffentlichkeit vielmehr enttäuscht ist, wenn man Vierter und in der Folgesaison nur Achter wird?
Favre: So ist das eben heutzutage. Man muss auch sagen, dass das Ausmaß der Verluste auf Spielerseite meist sehr schlecht erklärt wird. Das ist wie in einer Firma: Wenn du kein gutes Produkt hast, wirst du es schwer haben. Man braucht gute Spieler und einen guten Trainer, aber muss vor allem dann sehr aufpassen, wenn man sehr gute Spieler verliert. Das ist logisch. Ich bin damals in Gladbach geblieben, weil wir wieder nach und nach eine Mannschaft aufgebaut haben. Wir sind erst Achter, dann Sechster und schließlich Dritter geworden. Ich war dort fünf Jahre, was für heutige Verhältnisse wirklich viel und selten ist.
Was meinen Sie damit, dass das schlecht erklärt wird?
Favre: Wenn die Leute nicht verstehen können, warum man in einer Saison Vierter wird, gute Spieler verliert und in der nächsten Saison Achter wird, dann muss ja etwas schlecht erklärt sein. Wenn ich das dann zweimal erkläre, erkläre ich es kein drittes Mal. Ich darf als Trainer keine Zeit mit ständigen Erklärungen verlieren. Man kann sich als Trainer auch nicht hinstellen und klar aussprechen, dass man deutlich schwächer geworden ist, weil man wichtige Spieler verloren hat und die Ergebnisse künftig weniger gut sein werden.
Welche Rolle für den Erfolg spielte die Tatsache, dass das Umfeld in Gladbach ein deutlich ruhigeres war als jenes in Berlin?
Favre: Das hatte auf mich keinen Einfluss. In Berlin ist das Umfeld sehr speziell, die Presse ist dort ziemlich bissig. In Gladbach waren die Leute aber auch schnell unzufrieden, wenn die Ergebnisse ausblieben. Ich erinnere mich gut, dass wir zwei, drei Monate nach meiner Ankunft ein schwieriges Heimspiel verloren haben und die Unzufriedenheit auf Seiten der Fans und Medien sofort da war. Das ist grundsätzlich so etwas wie ein Automatismus.
Sie waren zu dieser Zeit ein sehr begehrter Trainer. Es kamen auch Gerüchte auf, wonach Sie ein Kandidat beim FC Bayern gewesen seien. Gab es damals ein Angebot von Ihrem ehemaligen Mitspieler Rummenigge?
Favre: Es gab Gespräche.
Nach Ihrem Ende in Gladbach hieß es, Sie hätten zwischendurch immer mal wieder mit einem Rücktritt geliebäugelt. Stimmt das?
Favre: Nein, das ist einfach Unsinn. Niemand kennt die Geschichte dahinter genau. Das erfährt man erst, wenn ich mein Buch geschrieben habe. (lacht) Das sind einfach reine Geschichten. Es gibt Geschichten, die nicht wahr sind.
Hat es Sie damals überrascht, dass Ihr Rücktrittsangebot im September 2015 nach sechs aufeinanderfolgenden Pflichtspielniederlagen zum Saisonstart von den Gladbacher Verantwortlichen abgelehnt wurde?
Favre: Nein. Wir hatten fünf Jahre lang eine wunderbare Zeit und ich habe bis heute noch Kontakte nach Gladbach. Das zählt für mich. Ein solches Ende kann in einer Karriere vorkommen.
Warum sind Sie anschließend ins Ausland zu OGC Nizza gegangen und nicht in der Bundesliga geblieben?
Favre: Ich war acht Jahre lang in der Bundesliga. Ich fand, dass es Zeit für eine Änderung war.
Wie war dort denn die Arbeit mit einem extravaganten Spieler wie Mario Balotelli?
Favre: Er war speziell. Man muss mit ihm diplomatisch sein, aber kann mit ihm sprechen und die Dinge erklären. Es gab manchmal kleinere Probleme wegen seines Verhaltens. Er war auch nicht derjenige, der am meisten gelaufen ist, aber er ist ein sehr guter Spieler. Wir haben uns zwei Jahre gut verstanden. In der ersten Saison war er sehr gut.
Kann es eigentlich vorkommen, dass gestandene Spieler fußballerische oder taktische Hinweise als Belehrung und gewissermaßen als Beleidigung ihrer eigenen Qualitäten fehldeuten?
Favre: Ich glaube, dass ein Spieler, der vorankommen möchte, immer gerne zuhört. Es kommt auch darauf an, wie man es ihm sagt. Es sind letztlich immer nur Vorschläge, zum Beispiel für technische Übungen, für Koordinations-, Bein- oder Ballarbeit. Ich versuche immer, einen Spieler davon zu überzeugen, wo er sich technisch, taktisch oder körperlich verbessern muss. Es kommt selten vor, dass einen die Spieler fragen, weshalb man diese oder jene Übungen machen soll.
Nach der ersten Spielzeit an der Cote d'Azur wollte Sie im Sommer 2017 bereits der BVB haben. Waren Sie enttäuscht, dass Nizza das Angebot ablehnte?
Favre: Nein. Nizza konnte zu dem Zeitpunkt einfach schwer einen potentiellen Nachfolger finden. Sie haben sich dann auf meinen Vertrag berufen und mich nicht gehen lassen. Ich wollte daraus auch keine große Sache machen. Es war für mich kein Problem, zu bleiben.
War Ihnen denn damals schon klar, dass es der BVB ein Jahr später erneut versuchen wird?
Favre: Nein, das konnte ich nicht ahnen. Das weiß man nie, im Fußball kann es schnell gehen. Als der BVB noch einmal nachgehakt hat, ging es dann schnell.
Wie groß war bei Ihrem Wechsel nach Dortmund die Lust, nach über 25 Jahren im Trainergeschäft den größten Verein mit dem besten Kader Ihrer Karriere zu übernehmen?
Favre: Es ist schwierig, ein Angebot von einem Klub wie Dortmund auszuschlagen. Darauf hatte ich natürlich Lust. Wir haben gleich eine wunderbare Saison gespielt. Man sollte darüber auch keine negativen Worte verlieren. Wir haben 76 Punkte geholt und bis zum letzten Spiel um die Meisterschaft gespielt.
Inwiefern war es ein Problem, dass der BVB unter Ihnen vom Fleck weg Spiele gewann und dadurch immer mehr in Vergessenheit geriet, wie eng viele Partien tatsächlich waren?
Favre: Am Anfang war es sehr schwer. Wir haben zwar gleich mit 4:1 gegen Leipzig gewonnen, aber jeder hat vergessen, dass Leipzig nach der Führung eine Großchance auf das 2:0 hatte. Das muss normalerweise ein Tor sein. Wenn da das 2:0 fällt, weiß ich nicht, ob wir dann noch einmal zurückgekommen wären. So ging es los. Danach haben wir 0:0 in Hannover gespielt und es kam gleich Kritik auf. Nach und nach haben wir dann unsere Spiele gewonnen, aber sie waren immer sehr, sehr eng. Wir haben nur ein einziges Spiel gewonnen, das nicht eng war: das 7:0 gegen Nürnberg. Alle anderen Partien waren an der Grenze. Erinnern Sie sich an das 4:3 gegen Augsburg oder das 2:2 gegen Hertha. Wir haben viele Tore geschossen, das stimmt, aber es war immer eng. In Leverkusen lagen wir 0:2 zurück, haben aber noch 4:2 gewonnen. Wir hatten ehrlich gesagt eine maximale Erfolgsquote, auch wenn wir gut gespielt und uns immer viele Torchancen erarbeitet haben. Insgesamt ist es eine tolle Saison geworden.
Sie wurden damals, aber auch schon zuvor, sehr für Ihre extreme Akribie und Detailversessenheit gelobt. Woher rühren diese Eigenschaften bei Ihnen?
Favre: Dass Details im Fußball wichtig sind, wird Ihnen jeder Trainer sagen. Sie machen vielleicht nicht immer den Unterschied aus, aber es ist sehr wichtig, die Überzeugung zu haben, auch das kleinste und letzte Detail zu berücksichtigen. Man muss alles tun, damit die Dinge funktionieren und um das zu gewährleisten, können Details eine sehr wichtige Rolle spielen - nicht nur auf dem Feld. Es kann auch ein gut gewähltes oder positives Wort sein, das viele Dinge verändern kann. Es geht um Perfektion und darum, dass alles richtig und gut gemacht wird. Details sind daher immer wichtig. In allen Bereichen, nicht nur im Fußball.
Wie schwer war es denn zu Saisonbeginn für Sie, eine deutschlandweit diskutierte Personalie wie Mario Götze zu moderieren, der anfangs häufig auf der Bank saß und zu dem permanent dieselben Nachfragen kamen?
Favre: Das war kein Problem für mich. Ich weiß, dass Mario Götze in Deutschland ein Idol ist. Er hat das Tor zum WM-Titel geschossen. Es ist klar, dass so etwas bleibt. Er ist ein sehr guter Spieler, aber er hat im letzten Jahr ab Oktober sehr regelmäßig gespielt. Manchmal kommt so etwas vor, es gibt überall Konkurrenz. Das muss man akzeptieren können. Konkurrenz kann Auftrieb verleihen.
War Ihnen klar, dass es in der Rückrunde etwas bergab gehen könnte, wenn man zuvor derart am Limit gespielt hat?
Favre: Nein. Es sind Kleinigkeiten, die den Unterschied ausmachen können: Formschwankungen können deine Mannschaft zum Beispiel verändern. Es ist unmöglich, einen Spieler die komplette Saison über in Form zu halten.
In der Rückrunde mehrten sich beim BVB die individuellen Patzer und Schwächen bei Standardsituationen.
Favre: Das stimmt, aber letztlich haben wir vor allem absolut vermeidbare Gegentore kassiert. Wir haben ein paar Mal dem Gegner die Bälle geschenkt, das waren Angebote. Bei Standards haben wir Raumdeckung gespielt und die muss man gut interpretieren. Die Standardsituationen waren in Ordnung, wenn man die gesamte letzte Saison betrachtet. Sie haben nicht den Unterschied gemacht. Im Pokal gegen Bremen, da war das der Fall. Sonst waren es schlicht zu einfache Fehler, wir haben die Bälle unter leichtfertigen Umständen verloren. In dieser Saison haben wir bei den Standards ein bisschen was verändert und weniger Fehler gemacht. Es ist besser geworden. So müssen wir nun weitermachen.
Nach der starken ersten Saison unter Ihnen lechzt das Umfeld nach mehr. Wie bewerten Sie das?
Favre: Wenn man eine solche Saison abliefert, in der man um den Titel spielt, dann ist es klar, dass die Erwartungshaltung enorm sein wird. Wir haben sehr viele Punkte geholt, manchmal in letzter Sekunde, meistens verdient, aber viele Spiele waren sehr ausgeglichen. Es ist klar, dass anschließend die Öffentlichkeit erwartet, dass wir das wiederholen und noch toppen. Das gehört dazu.
Auch der Verein hat den Kampf um den Meistertitel vor der Saison als Ziel ausgegeben. Das hat den Druck noch einmal steigen lassen.
Favre: Ja, dadurch ist Druck da. Der wäre nach dieser Vorsaison aber auf jeden Fall ohnehin da gewesen. Ich kann verstehen, dass man das so geäußert hat.
Wie problematisch ist es denn für Sie als Trainer, bei einem Klub wie dem BVB eigentlich jedes Spiel gewinnen zu müssen?
Favre: Das ist überall so, selbst wenn du in der 3. Liga trainierst. Das ist dann zwar nicht dasselbe Niveau, nicht dieselbe Begeisterung, nicht derselbe mediale Nachhall, aber dort ist es genauso. Man braucht Ergebnisse. Dennoch ist klar, dass immer Druck herrscht.
Der Saisonstart verlief diesmal nicht zufriedenstellend und es hagelte Kritik, auch weil der BVB zweimal aufgrund von späten Eigentoren den Sieg leichtfertig verspielte. Hätte man diese Spiele gewonnen, würde man an der Tabellenspitze stehen.
Favre: Und daraus macht man dann eben eine Geschichte. Es findet überall und sehr schnell eine große Übertreibung statt. Es stimmt, dass wir aktuell nicht so gut dastehen wie im letzten Jahr. Es liegt aber an nichts. Es sind die Resultate, das ist alles. Man analysiert die Resultate, aber analysiert den Rest nicht genug.
Wie blicken Sie denn auf dieses mediale Auf und Ab?
Favre: Das beeinflusst mich nicht sehr. Ich verstehe das, weil ich denke, dass es heutzutage Medien gibt, die sehr scharf schreiben müssen, um gelesen zu werden. Tun sie das nicht, werden sie nicht mehr gelesen. Es gibt bestimmte Zeitungen, die ich seit langer Zeit nicht mehr lese. Ich weiß, dass in diesem Metier immer Druck herrscht. Ganz egal, welchen Klub du trainierst, dieser Druck scheint dort immer vorhanden zu sein. Trotzdem muss man bei den Analysen gerecht und sachlich bleiben. Ich finde, manchmal sind sie nicht sehr präzise.
Was sagen Sie dazu, dass man die Leistungen an sich als nicht mehr so überzeugend einstuft wie noch in der Hinrunde der letzten Saison?
Favre: Wer sagt das?
Vor allem die Medien, aber auch Teile des Dortmunder Umfelds.
Favre: Das stimmt aber nicht. Noch einmal: In der vergangenen Saison hatten wir eine außergewöhnliche Erfolgsquote. Sehr viele junge, talentierte Spieler mussten eingebaut werden und das muss berücksichtigt werden. Seit Beginn dieser Saison befinden sich manche Spieler nicht auf ihrem besten Niveau. Das kann vorkommen. Wie gesagt: Es hängt an solchen Kleinigkeiten.
Inwiefern können Sie es nachvollziehen, dass die Kritik zuletzt auch gegen Sie und Ihre Spielweise gerichtet ist, die gerade nach den Führungen Ihrer Mannschaft als zu passiv bezeichnet wird?
Favre: Ich habe nicht wirklich die Zeit, diese Kritiken zu lesen. Wir haben immer sehr offensiv gespielt. Wir spielen quasi ein 4-4-2, aber es war manchmal mehr ein 4-2-4 mit extrem offensiven Außen. Wir sind trotzdem immer ein wenig auf der Suche nach dem Gleichgewicht und werden weiter daran arbeiten. Wie Sie sagen: Wir haben zwei Eigentore geschossen, ohne die wir an der Tabellenspitze stehen würden. Es hängt also an Kleinigkeiten. Und wir befinden uns noch am Anfang der Saison.