Im zweiten Teil des Interviews mit SPOX und DAZN spricht Favre über den Aufstieg und Fall während seiner Zeit in Berlin, die Amtszeit bei "Borussia Barca" in Gladbach und Gespräche mit dem speziellen Mario Balotelli. Zudem äußert sich Favre zu seiner ersten Saison beim BVB, zu Gegentoren nach Standardsituationen, zum erhöhten Druck und der zuletzt aufgekommenen Kritik an ihm.
Hier geht es zum ersten Teil des Interviews mit Lucien Favre. Darin spricht der 62-Jährige über die Anfänge, als der Fußball zur Droge wurde, seinen Start als C-Jugendtrainer und die erfolgreiche Zeit beim FC Zürich, die ihm zum Durchbruch und Wechsel nach Deutschland verhalf.
Herr Favre, 2006 und 2007 wurden Sie Schweizer Trainer des Jahres - und wechselten anschließend nach vier Jahren in Zürich zum ersten Mal in Ihrer gesamten Karriere in ein komplett nicht-französischsprachiges Land zu Hertha BSC. Mussten Sie lange überlegen?
Lucien Favre: Ich habe erst ziemlich gezögert und nicht sofort zugesagt. Zürich zu verlassen war hart für mich, denn ich hatte dort die neue Saison bereits vorbereitet und das Berliner Angebot kam sehr spät. Letztlich habe ich die Herausforderung aber angenommen, weil es die deutsche Hauptstadt und ein recht bekannter Klub war.
Wie bewerten Sie nun im Rückblick Ihr erstes Jahr als Trainer in Deutschland, als Sie mit der Hertha auf Platz zehn landeten?
Favre: Man darf nicht vergessen, dass der Verein im Jahr zuvor sechs Spieltage vor Schluss noch in Abstiegsgefahr war und letztlich nicht gut abgeschnitten hatte. Das erste Jahr war schwierig. Wir haben einen sehr guten Start erwischt. Anschließend war es weniger gut, wir haben Anfang Januar ein paar Spiele verloren und sind in eine Krise geraten. Es ging ein wenig die Angst um. Wir mussten uns wieder aufraffen, standen aber wirklich alle zusammen. Diese Situation haben wir sehr gut gemeistert und ins Gegenteil verkehrt. Am Ende haben wir uns auch für den UEFA-Cup qualifiziert, ich glaube aufgrund der Fairplay-Wertung. (lacht)
In der zweiten Saison kämpfte die Hertha plötzlich vollkommen überraschend um die Meisterschaft. Wie erklären Sie sich diese eklatante Leistungssteigerung?
Favre: Wir haben gute Transfers getätigt. Unsere Abwehr war stark, mit Drobny im Tor sowie der Innenverteidigung um Friedrich und Simunic. Im Mittelfeld hatten wir Raffael und vorne Voronin, der eine außergewöhnliche Saison gespielt hat, sowie Pantelic. Wir haben quasi bis zum Schluss um den Titel mitgespielt.
Wie groß waren Ihre Hoffnungen auf den möglichen Coup? Zwischenzeitlich stand man mit vier Punkten Vorsprung an der Tabellenspitze.
Favre: Wir haben daran geglaubt, aber wussten, dass es schwer würde. Im Februar 2009 haben wir zu Hause die Bayern mit 2:1 geschlagen. Anschließend waren die Hoffnungen aller sehr groß, was normal ist, wenn du nach sechs, sieben Monaten in der laufenden Saison die Tabellenspitze erklimmst. Wir wollten das Maximum erreichen, haben es aber nicht geschafft. Pal Dardai hat ein, zwei Jahre später gesagt, dass wir mit dieser Mannschaft mehr als das Maximum erreicht haben - und er war damals Spieler.
In der Saison darauf stieg die Hertha genauso überraschend ab. Nur ein halbes Jahr, nachdem man in der Tabelle auf Rang eins stand, wurden Sie dann freigestellt.
Favre: Wir haben viele Spieler verloren und waren dadurch deutlich schlechter. Das war ein Fakt. Es ist schwer, sich einzugestehen, dass man sehr schnell deutlich schwächer geworden ist. Das war nach dieser Vorsaison auch nicht einfach. Wie Sie sagen, am Ende ist diese Mannschaft abgestiegen.
Dass es jedoch so schnell derart bergab gehen würde, war wohl nicht vorherzusehen?
Favre: Das Gleichgewicht und die Stärke einer Mannschaft können sich aufgrund von Kleinigkeiten verändern. Wie ich schon sagte: Man muss jedes Mal versuchen, die Mannschaft zu verstärken. Wenn das nicht gelingt, kann es sehr gefährlich werden. Das bestätigte sich leider in dieser Saison. Es gab Spieler, die nach der guten Saison Angebote bekamen oder deren Vertrag auslief, so dass wir sehr, sehr wichtige Leute verloren haben. Dann kann es sehr schnell nach unten gehen.
Nach Ihrem Aus in Berlin gaben Sie eigenmächtig eine Pressekonferenz, die man anschließend als Kritik an der Vereinsführung auslegte. Würden Sie heute sagen, dass das ein Fehler war?
Favre: Nein, das war nicht eigenmächtig. Das ist alles, was ich dazu sagen möchte.
Wie aber denken Sie heute über das Ende bei der Hertha?
Favre: So ist es einfach. Wir haben Spiele verloren, weil die Mannschaft deutlich schwächer war und sie gute Spieler verloren hat, die nicht ersetzt werden konnten. Das ist ganz einfach, aber natürlich auch schwer für die Verantwortlichen. Manchmal kann man diese Dinge antizipieren, aber selbst wenn dir das gelingt, ist es schwierig, die guten Spieler zu halten. Es gibt keine Wunder. Um eine Mannschaft aufzubauen, muss man sie mit den richtigen und leidenschaftlichen Spielern verstärken - das macht den Unterschied aus.
Im Februar 2011 unterschrieben Sie bei der Borussia aus Mönchengladbach, die damals Tabellenletzter war und sieben Punkte Rückstand auf den Relegationsplatz hatte. Wie schafften Sie es, mit diesem Team aus dem Stand 20 Punkte aus zwölf Spielen zu holen?
Favre: Der Klub hatte praktisch keine Chance mehr auf den Klassenerhalt. Es lief aber sofort sehr gut. Nach nur einem Monat war die Mannschaft plötzlich deutlich besser und es war schwer, gegen sie zu spielen. Zuvor bekam sie durchschnittlich 2,8 Gegentore pro Spiel. Daher haben wir uns zunächst um die Defensive gekümmert. Nach ein paar Wochen waren wir hinten sehr solide und es war für die Gegner unheimlich schwer, gegen uns ein Tor zu erzielen. In der Offensive hatten wir durch Spieler wie den 20-jährigen Marco Reus, Mike Hanke, Juan Arango oder Patrick Hermann die Möglichkeit, ein gutes Angriffsspiel aufzuziehen. Das Team ist zu einer echten Mannschaft geworden, in der jeder ganz genau wusste, was er zu tun, wie er zu verteidigen und zu attackieren hatte.
Am Ende rettete man sich in der Relegation gegen den VfL Bochum mit einem 1:0-Heimsieg und einem 1:1 beim VfL.
Favre: Kleinigkeiten haben den Ausschlag gegeben. Es war sehr eng, aber auch außergewöhnlich, sich im letzten Moment einer Saison zu retten. Ich erinnere mich an das letzte Bundesligaspiel am 34. Spieltag in Hamburg. Nach 20 Minuten waren wir abgestiegen, nach 30 Minuten standen wir über dem Strich und nach der Halbzeit auf dem Relegationsplatz. Das war unglaublich. Wir haben dort auch nicht gut gespielt, weil wir zu sehr auf die Ergebnisse der anderen geschaut und uns nicht auf unser Spiel konzentriert haben. Auch deshalb sage ich so häufig, dass man Spiel für Spiel angehen und sich immer wieder neu konzentrieren muss.
Wie war es möglich, nur ein Jahr später sensationell Platz vier zu erreichen?
Favre: Es war die gleiche Mannschaft, weil wir uns keine Neuzugänge leisten konnten. Das war eine Frage des Selbstvertrauens und des eigenen Zutrauens. Die Spieler waren stolz darauf, in der 1. Liga geblieben zu sein. Wir haben auch viel gearbeitet und trainiert, dienstags und mittwochs je zweimal. Wir waren physisch und taktisch bereit, aber auch, was die Details angeht. Wir haben keine Dummheiten gemacht oder Geschenke verteilt. Das war in dieser Saison sehr wichtig. Wir wussten, dass wir in allen Bereichen sehr solide sind und in der Offensive jederzeit gefährlich werden können. Man hat uns "Borussia Barca" genannt. Das hatte auch seine Berechtigung, weil wir gut Fußball gespielt und immer Torchancen kreiert haben. Es war aber vor allem extrem schwierig, uns defensiv zu destabilisieren.
"Borussia Barca" - waren Sie stolz auf diese Bezeichnung?
Favre: Natürlich. Das ist normal. Wir haben wirklich im Wortsinn gespielt, waren aber auch kompakt und nur schwer aus dem Gleichgewicht zu bringen. Gerade nach Ballgewinn waren wir sehr gut und haben dann immer versucht, zu spielen.
Schmeichelte Ihnen eine Umschreibung wie "Taktik-Genie Lucien Favre" oder die dreimalige Auszeichnung zum Trainer der Saison?
Favre: Ja. Ich akzeptiere die Komplimente genauso wie die Kritik. Beide Male ist es für mich übertrieben und etwas zu viel. Es ist ganz einfach: Es hat damals funktioniert, weil die Spieler verstanden haben. Für mich waren das einfache Dinge, aber wichtig war, dass die Spieler sie verstanden haben. Sie haben zugehört, wollten lernen und haben verstanden. Sie waren wie gesagt auch physisch alle bereit, ob das in den Zweikämpfen oder bei der Balleroberung war. Defensivtaktisch waren sie sehr intelligent. All dies war der Grund dafür, warum wir so gute Ergebnisse einfahren konnten.
Inwiefern kann es auch vorkommen, dass es bei Spielern nicht sofort Klick macht wie bei jenen damals in Gladbach?
Favre: Man muss sie wie gesagt immer überzeugen. Bei manchen dauert das länger als bei anderen. Es geht auch darum, aufnahmefähig zu sein, sich sofort korrigieren zu können und den Willen zu haben, zu lernen und sich zu entwickeln. Daher finde ich das Verhalten von Federer oder Nadal so imposant: Egal, ob sie gewonnen oder verloren haben, sie sagen immer, dass sie sich auf das nächste Training freuen, um sich zu entwickeln. Diese Mentalität hatten wir in Gladbach.
Ist dafür auch schlichtweg eine grundsätzliche Intelligenz vonnöten?
Favre: Gewiss, hauptausschlaggebend ist aber die Spielintelligenz. Das ist die Qualität Nummer eins, die man benötigt. Die Philosophie von Ajax Amsterdam oder Barcelona ist im Grunde auf drei Punkten aufgebaut: erstens die Spielintelligenz, zweitens Technik und Bewegung, drittens Kondition. Das Spiel lesen und spüren zu können, ist am wichtigsten - offensiv wie defensiv. Man muss die Aktionen antizipieren können.