Tah verrät, warum eine Rückkehr nach Hamburg nicht für ihn infrage kam, was ihn mitunter an der Fußball-Berichterstattung stört und warum er sich mittlerweile mit anderen Menschen umgibt als früher.
Außerdem erklärt der deutsche Nationalspieler, was es mit dem Namen seiner neuen DAZN-Doku (Alle Folgen stehen seit dem 7. Dezember bei DAZN und auf dem DAZN-YouTube-Kanal zum Abruf bereit) auf sich hat und welche Liga ihn mit Blick auf die Zukunft ganz besonders reizt.
Jonathan, Ihre Karriere begann auf einem Bolzplatz am Kemal-Altun-Platz in Hamburg-Altona. Was verbinden Sie heute mit diesem Ort?
Jonathan Tah: Dieser Ort hat für mich den Grundstein gelegt, wer ich heute bin. Ich habe am Kemal-Altun-Platz auf dem Gummi-Bolzplatz den Fußball lieben gelernt und erfahren, wie wichtig zwischenmenschliche Werte sind. Dort hat alles als Hobby angefangen und ich bin unendlich glücklich, dass ich die dort entwickelte Leidenschaft zu meinem Beruf machen durfte.
Ihre Mutter musste wegen Ihrer vielen Grätschen häufig Ihre Hosen stopfen. Wie kam es dazu, dass Sie schon als Kind das Hauptaugenmerk aufs Verteidigen legten?
Tah: Ich war immer schon groß und gut gebaut, dementsprechend wurde meine Rolle auf dem Bolzplatz festgelegt. Es hieß: 'Okay, der wird mit seiner Statur die Gegner schon aufhalten.' Daran hat sich im weiteren Verlauf meines Lebens nichts mehr geändert.
Jonathan Tah: "Mein erstes Trikot war ein Ronaldinho-Trikot"
Vorbilder spielen in jungen Jahren eine wichtige Rolle. Welcher Name zierte Ihr erstes Fußballtrikot?
Tah: Mein erstes Trikot war ein Barcelona-Trikot mit Ronaldinho auf dem Rücken. Er hat gemacht, was er wollte und hat es geschafft, die Menschen zu verzaubern. Seine zahlreichen Qualitäten auf dem Platz haben mich fasziniert und inspiriert. Auf dem Bolzplatz hat jeder über ihn gesprochen, jeder kannte ihn und schätzte seinen Spielstil. Ronaldinho hat mir gezeigt, was alles möglich ist, wenn man mit Spaß und Leidenschaft an eine Sache herangeht. Dabei war es egal, dass er auf einer anderen Position gespielt hat, seine Ausstrahlung war das Besondere. Das hat mich dazu animiert, ebenfalls das Bestmögliche aus mir herauszuholen zu wollen.
Ihre Mutter zog Sie und Ihre Geschwister allein auf, Geld war nicht im Überfluss vorhanden. Welche Werte hat Sie Ihnen mit auf den Weg gegeben?
Tah: Meine Mutter hat nicht nur über Werte gesprochen, sie hat sie perfekt vorgelebt und uns gezeigt, dass Geld und Macht im Leben keine übergeordnete Rolle spielen sollten, dass Toleranz, Liebe und Loyalität wichtigere Eigenschaften sind. Natürlich hat Geld in unserer Gesellschaft einen großen Stellenwert, es ist Mittel zum Zweck. Aber ich habe von meiner Mutter gelernt, dass Geld nicht ausschlaggebend ist, um glücklich zu sein. Das hat mir geholfen, zu differenzieren und zu erkennen, was wirklich wichtig ist
Wie fiel die Reaktion Ihrer Mutter aus, als sich Ihr Wunsch, Profifußballer zu werden, konkretisierte?
Tah: Als Mutter macht man sich natürlich Gedanken, weil man immer das Beste für sein Kind möchte. Ihr war in erster Linie wichtig, dass ich die Schule zu Ende bringe. Sie hat mir erzählt, dass ich früher ausschließlich über Fußball gesprochen habe und mir alles andere gefühlt egal war. Ich habe zwar die Schule abgeschlossen, aber der Fokus lag immer auf diesem Plan A. Das hat sie wahrgenommen und mich komplett unterstützt.
Fast zehn Jahre lang spielten Sie für Altona 93. Inwieweit haben Sie mitbekommen, dass Sie plötzlich in den Fokus der großen Hamburger-Klubs gerückt waren?
Tah: Ich habe selbst nie wahrgenommen, dass Scouts bei unseren Spielen anwesend waren. Meine Mutter hat mir eines Tages gesagt: 'Die Talentsichter haben schon viele Spiele von Dir gesehen. Sie wissen genau, wer Du bist und haben sich auch schon mehrfach mit Deinem Trainer unterhalten.'
Wie kam es zum Kontakt mit dem Hamburger SV?
Tah: Ein Verantwortlicher des HSV hat meine Mutter angerufen und ihr erklärt, dass ich das Interesse des Klubs geweckt habe und dass man mich gerne verpflichten würde. Das war für mich ein ganz besonderer Moment. Die Freude war riesig, als der Anruf kam. Ich wollte das unbedingt machen.
Was gleichzeitig bedeutete, dass Sie Ihr Zuhause gegen das Fußball-Internat eintauschen mussten. Wie schwer fiel der Schritt?
Tah: Einfach war es nicht. Aber sowohl ich als auch meine Mutter sind mit der Situation gut umgegangen. Wir hatten immer ein sehr enges Verhältnis, das durch den Auszug nicht getrübt wurde. Beide wussten, dass der Schritt für meinen weiteren Weg nur hilfreich sein kann, wir haben das als absolutes Privileg wahrgenommen.
Jonathan Tah im Steckbrief
geboren | 11. Februar 1996 in Hamburg |
Größe | 1,95 m |
Gewicht | 96 kg |
Position | Innenverteidiger |
starker Fuß | rechts |
Stationen | Altona 93 Jugend, Concordia Jugend, HSV Jugend, HSV, Fortuna Düsseldorf, Bayer Leverkusen |
Bundesligaspiele/-tore | 155/5 |
Jonathan Tah über seine Zeit beim HSV
Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Anfangszeit beim HSV?
Tah: Ich war nervös, weil viele Jungs schon von Kindesbeinen an im Verein waren und die Abläufe genau kannten. Jedes Jahr wurden drei oder vier Spieler nicht übernommen. Andererseits kamen zwei oder drei neue Jungs dazu, die mental und fußballerisch noch besser waren. Ich würde mir wünschen, dass im Jugendbereich mehr darauf geachtet wird, den Druck für die jungen Spieler nicht zu groß werden zu lassen.
Inwiefern?
Tah: Ich habe es selbst erlebt und gemerkt, dass der Druck bei einem Klub wie dem HSV deutlich zunimmt. Ich hatte das Glück, dass ich gut genug war, es jedes Jahr in die jeweils nächste Mannschaft zu schaffen. Aber zu Beginn habe ich noch nicht über das nötige Selbstbewusstsein verfügt. In jungen Jahren ist es enorm schwierig, mit dem ständigen Druck umzugehen. Ich habe viele Spieler gesehen, die es hart getroffen hat. Sie wurden nicht übernommen und waren plötzlich raus. Man wird ein wenig alleingelassen, diesbezüglich würde ich für mehr Unterstützung plädieren.
Jeder im Internat hat das gleiche Ziel, Konkurrenzdenken ist also allgegenwärtig. Was bedeutet das für potenzielle Freundschaften?
Tah: Es kommt immer auf den Charakter an. Jeder möchte natürlich spielen, dementsprechend ergibt sich automatisch eine Konkurrenzsituation. Ich hatte aber damals nicht das Gefühl, dass das Mannschaftsgefüge oder Freundschaften aufgrund von zu großem Konkurrenzdenken kaputtgegangen sind.
Sie haben im Alter von 16 Jahren gemeinsam mit Sinan Kurt, Raif Husic und Patrick Pflücke an einer Dokumentation namens "Projekt Profi" teilgenommen. Wie kam es dazu?
Tah: Der Sender ist damals auf meine Mutter und mich zugekommen. Es hat mich gefreut, dass sie mich für dieses Projekt ausgewählt haben, das war etwas Besonderes. Ich gucke mir die Videos noch heute gerne an, weil sie meinen Karriereweg schön skizzieren.
Was haben Sie für sich damals mitgenommen?
Tah: Vor allem war es hilfreich für mich, weil ich schon früh mit Medienarbeit konfrontiert wurde. Ich wusste, dass das irgendwann auf mich zukommen würde und konnte schon erste Erfahrungen mit Interviews vor der Kamera sammeln. Das war ein gutes Training für die Zukunft.
In der Doku wurde gezeigt, wie Sie in der U16 des DFB zum Kapitän ernannt wurden, fortan führten Sie sämtliche Jugendnationalmannschaften an. Wie definieren Sie die Rolle des Leaders?
Tah: Sofern man nicht für sich selbst Verantwortung tragen kann, ist es schwierig, Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen. Die Werte, die mir in der Vergangenheit vermittelt wurde, möchte ich weitergeben. Im Fußball bedeutet Verantwortung nicht, bloß mit der Binde auf den Platz zu laufen und ein gutes Spiel zu machen, sondern es geht darum, die anderen mitzunehmen. Das Zwischenmenschliche ist noch wichtiger als die Leistung. Wenn jemand einen Fehler macht oder private Probleme hat, muss man für die Mitspieler da sein und Verständnis aufbringen. Dabei sollte man sich nicht selbst überhöhen, ganz im Gegenteil: Man sollte immer offen dafür sein, von den Teamkollegen zu lernen.
Ihre drei Mitstreiter besagter Doku spielen heute unterklassig, sie haben es als einziger Protagonist nach oben geschafft. Welche Gründe gibt es dafür?
Tah: Ich habe ihre Werdegänge bis zu einem gewissen Punkt noch sehr genau verfolgt. Jetzt weiß ich ungefähr, wo sie gerade spielen. Vergleichen kann und möchte ich unsere Entwicklungen aber nicht. Jeder muss andere Hürden nehmen, es gibt unterschiedliche Gründe, warum Spieler x den einen und Spieler y einen anderen Weg eingeschlagen hat. Ich würde nicht per se sagen, dass ich es geschafft habe und die anderen Jungs nicht. Weil ich nicht weiß, welche Ziele sie für sich gesteckt hatten. Vielleicht sagen sie: 'Das, was ich geschafft habe, ist genau das, was ich erreichen wollte.'