Wie kam der Wechsel zum anderen VfL schließlich zustande?
Reis: Ich weiß noch, dass wir damals mit der Bochumer U19 die ersten neun Saisonspiele gewonnen haben, das gab es noch nie. Und das mit Spielern, die überwiegend vom jüngeren Jahrgang waren. Diese Arbeit wurde in Wolfsburg anscheinend registriert. Trotzdem kam der Anruf für mich irgendwie aus dem Nichts. Ich hatte zwar einen unbefristeten Vertrag in Bochum, aber ich fand, dass die Zeit aus unterschiedlichen Gründen für einen Wechsel reif war. Und in Wolfsburg steht eines der Top-Leistungszentren in Deutschland. Das war für mich also eine tolle Gelegenheit, um als Trainer dem Seniorenbereich grundsätzlich näher zu kommen.
Sie blieben drei Jahre in Wolfsburg und hatten Ihren Dreijahresvertrag auch bereits um drei weitere Jahre verlängert, ehe Sie am 6. September 2019 die Nachfolge von Robin Dutt in Bochum übernahmen. War diese Rückkehr einfach Zufall oder hatten Sie eine Bochum-Klausel in Ihrem Vertrag?
Reis: Nein, eine Bochum-Klausel gab es nicht. Ich hatte zuvor schon zwei, drei Gespräche bezüglich eines Cheftrainerpostens im Seniorenbereich geführt, aber da hatte man sich dann jeweils für einen anderen Kandidaten entschieden. Das war auch kein Problem für mich, denn allein die Vorstellungsrunden haben mich persönlich weitergebracht.
Sie sagen das jetzt so nüchtern, dabei haben Sie ja Ihren Traum wahr werden lassen. Haben Sie Bochum nicht ohne größeres Überlegen zugesagt?
Reis: Nein, auch das nicht. Ich habe schon genau überlegt, denn machen wir uns nichts vor: A-Jugend in Wolfsburg ist jetzt nicht so schlecht. Davon kann man gut leben und du hast kaum Stress, wenn man das mit einem Posten als Bundesligatrainer vergleicht, wenn auch "nur" 2. Bundesliga. Ich wollte aber nicht im Alter im Ohrensessel hocken und mir denken: Hättest du doch mal! Zumal Bochum zwar mit nur zwei Punkten Vorletzter in der 2. Liga war, aber es waren auch erst sechs Spiele gespielt.
Weniger als zwei Jahre später haben Sie mit der Rückkehr in die Bundesliga nach elf Jahren Abstinenz als Bochumer Chefcoach bereits Sensationelles geleistet. Wo würden Sie angesichts des mit Fürth geringsten Etats der Liga den Klassenerhalt ansiedeln, sollte er dem VfL gelingen?
Reis: Das wäre definitiv die noch größere Sensation. Schauen Sie: Beispielsweise ist der Etat von Mainz 05 fast viermal so hoch wie unserer. Das sagt einiges aus. Mich spornt das aber auch an. Genauso wie die vielen Experten-Meinungen vor der Saison, wonach wir eindeutiger Abstiegskandidat sind. Würde uns der Klassenerhalt tatsächlich gelingen, wäre uns ein Wunder gelungen und es wäre die Krönung meiner bisherigen Trainerlaufbahn.
Momentan sieht es damit ziemlich gut aus, der VfL gehört zu den Überraschungsteams der Liga. Fürchten Sie im Fall des Klassenerhalts eine gesteigerte Erwartungshaltung? Dieses Phänomen war ja bereits an einigen anderen Standorten zu begutachten.
Reis: Erstmal müssen wir den Klassenerhalt überhaupt realisieren. Das wird schwierig genug, trotz einer positiven Zwischenbilanz. Deswegen mache ich mir über das, was nach dieser Saison kommen könnte, zunächst überhaupt keine Gedanken. Grundsätzlich lässt sich aber festhalten, dass sich mit dem Erfolg auch die Erwartungshaltung verändert. Das merkt man schon, da kann man zum Beispiel in dieser Saison in Bielefeld nachfragen.
Bochum gilt schon lange als Kultklub und bekommt gerade deshalb aktuell viele Sympathien ab, weil der Verein und das Stadion eine gewisse Nostalgie versprühen, die es heute nur noch selten gibt und nach der einige dursten. Geht es Ihnen ähnlich?
Reis: Selbstverständlich, aber das ist einfach eine Generationenfrage. Ich zähle mich jetzt mal zu den Älteren, daher weiß ich sehr gut, wie der Fußball früher war und was mir dazu im Vergleich zu heute fehlt. Es gibt aber nicht nur uns Ältere und wir leben in der Gegenwart, daher hilft das leider alles nichts. Die Jüngeren können ja gar nicht wissen oder wirklich greifen, um was es da überhaupt konkret geht. Natürlich haben wir ein tolles Stadion, das Spaß macht und Kult ist. Doch man muss auch klar benennen, dass wir damit im Ligavergleich hinten dran sind. Freiburg hat gerade ein neues Stadion bekommen, obwohl das alte auch Kult war. Im infrastrukturellen Bereich hat sich enorm viel verändert. Nur auf die Tradition zu pochen, reicht heute nicht mehr. Man muss sich mitentwickeln, sonst wird man schlicht abgehängt.
Wie blicken Sie denn als Bochumer Trainer, der mit ganz eigenen Problematiken ums sportliche Überleben kämpft, auf solche Geschehnisse wie beispielsweise bei Newcastle United?
Reis: Man könnte da natürlich argumentieren, solche Auswüchse machten den Fußball kaputt. Geld war immer schon ein beziehungsweise der Motor im Profifußball. Die deutschen Verhältnisse sind andere als die in England und der Premier League, wo Investoren gang und gäbe sind. Dass die Newcastle-Fans die Übernahme gefeiert haben, ist für uns natürlich befremdlich. Es wird interessant sein zu beobachten, wie künftig alle versuchen werden, Newcastle zu bekämpfen.
Nations und Conference League, der Versuch einer Super League, dazu die Überlegungen, die WM alle zwei Jahre auszutragen - wie stehen Sie dazu?
Reis: Mir persönlich ist das eindeutig zu viel. Früher war die Champions League noch der Cup der Meister. Mittlerweile ist sie dermaßen aufgeblasen und überfrachtet, weil nur noch die Kohle im Vordergrund steht. Auch diese WM in Katar ist aus vielerlei Gründen höchst problematisch. Aus Trainersicht: Mitten in der Saison hast du plötzlich zwei Monate lang kein Pflichtspiel mehr. Das muss dann vorher oder nachher kompensiert werden. Ich finde es fatal, dass die Gesundheit der Spieler keine übergeordnete Rolle mehr zu spielen scheint. Man müsste die Kader ja riesengroß aufblähen, damit wir unserer Verantwortung gegenüber den Spielern, diese ungesunde Belastung vernünftig zu verteilen, gerecht werden können.
Fällt Ihnen die Identifikation mit der Elite des Fußballsports schwer?
Reis: Die Schere ist einfach zu stark auseinandergegangen. Es ist doch schade, wie utopisch solche Dinge geworden sind, dass ein Aufsteiger, wie wir mit dem VfL Bochum 1997, direkt ins internationale Geschäft einziehen kann.