Adi Hütter von Borussia Mönchengladbach im Interview: "Der römische Philosoph Seneca brachte es gut auf den Punkt"

Adi Hütter ist seit Sommer 2021 Trainer von Borussia Mönchengladbach.
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Mittlerweile arbeiten Sie immer wieder auch mit Visualisierungen, um sportliche Ziele bildlich darzustellen. Wie entwickelte sich das?

Hütter: Das kam auch durch den Input von Jörg. Der Kopf ist im Fußball einfach wahnsinnig wichtig. Wenn du ein Ziel vor Augen hast und es dir auch bildlich vorstellen kannst, ist das in meinen Augen eine zusätzliche Motivation. Gehen Sie doch einmal eine halbe Stunde joggen und denken dabei an negative Dinge - und dann schauen Sie einmal, wie Sie atmen und wie schwer Sie laufen. Beim nächsten Mal denken Sie an die schönen Momente Ihres Lebens - da atmen und joggen Sie ganz anders.

Greifen Sie regelmäßig auf dieses Mittel zurück?

Hütter: Das mache ich nach Gefühl und wenn ich denke, so etwas kann zusätzlich unterstützen. Dann muss man es aber auch gut vorbereiten und moderieren können. Bei meiner dritten Station in Grödig in der 2. Liga habe ich unsere Ziele von den Spielern formulieren lassen und die Frage gestellt, welches Bild der Einzelne im Kopf hat, würden wir Meister werden. Als das Ziel schließlich immer näher rückte, habe ich sie vor den Spielen die Augen schließen lassen. Jeder hatte dann sein Bild vor Augen, die konnten das richtig visualisieren. Im dritten Jahr in Bern habe ich nach unserer starken Hinrunde im Winter gesagt: Wir müssen es uns auch im Kopf vorstellen können, dass es passiert, Meister zu werden.

Messen Sie der reinen Vorstellungskraft damit einen höheren Stellenwert bei als der individuellen Willensleistung?

Hütter: Nein. Der Wille ist das eine, den brauchst du sowieso immer, wenn du etwas erreichen willst. Man muss aber genau davon auch eine Vorstellung haben. In Bern hingen die Bilder der Spieler in deren Spinds. Bevor wir aufs Feld gingen, sollte jeder noch einmal zu seinem Spind gehen. Dann haben wir einen Kreis gebildet und die Spieler haben sich ihre Bilder vor das geistige Auge geholt. Da war dann so viel Energie zu spüren, das war phänomenal. Der römische Philosoph und Schriftsteller Seneca brachte es gut auf den Punkt: Wer den Hafen nicht kennt, in den er segeln will, für den ist kein Wind der richtige.

Adi Hütter: "70 Prozent aller Tore fallen nach Ballgewinnen"

Früher galten Sie als Ballbesitztrainer, mit der Zeit rückte dann das Thema Pressing in den Vordergrund. Wieso wollten Sie es zunächst mit verstärkter Ballzirkulation versuchen?

Hütter: Ich wollte stets einen schönen, technisch sauberen Fußball spielen lassen, weil das auch meinem Profil als Spieler entsprach. Mir war wichtig, den Ball zu haben. Irgendwann hatte ich dann ein sehr gutes Gespräch mit Ralf Rangnick. Er hat mich in die Richtung gebracht, meine Sichtweise einmal zu drehen und zu schauen, was man tun kann, wenn der Gegner den Ball hat. So erinnerte ich mich an 1992 zurück, als ich beim Grazer AK einen sehr guten Trainer namens Milan Miklavic hatte. Er war großer Fan des Mailänder 4-4-2-Pressings unter Arrigo Sacchi und hat das mit uns spielen lassen. Ab meinem zweiten Jahr in Grödig versuchte ich das dann auch. Zumal mir zu jener Zeit der FC Barcelona brutal imponierte. Barca hatte zwar immer viel Ballbesitz, aber die wenigsten haben geschaut, was sie die ersten sechs, sieben Sekunden nach Ballverlust machen - das war reines Gegenpressing.

Rangnick hat mit seiner Art, den Fußball zu denken, enorm viele Trainer geprägt. Wie genau sah inhaltlich sein Einfluss auf Sie aus?

Hütter: Ich habe erkannt, dass ich mich nicht mehr einzig über Ballbesitz definieren möchte. Auch weil jemand wie Helmut Groß, ein enger Vertrauter von Ralf Rangnick, statistisch nachwies, dass 70 Prozent aller Tore nach Ballgewinnen erzielt werden. Damit habe ich mich dann extrem beschäftigt. Der Fußball ist einfach ein Umschaltspiel geworden. Es gibt heute kaum noch die Möglichkeit, den Gegner von hinten bis nach vorne so auszuspielen, dass er nicht einmal an den Ball kommt.

Bierdusche nach dem Erreichen der Europa-League-Qualifikation 2014: Hütter als Trainer des SV Grödig.
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Bierdusche nach dem Erreichen der Europa-League-Qualifikation 2014: Hütter als Trainer des SV Grödig.

Dass Sie diesen Ansatz aber erstmals bei einem Dorfklub wie Grödig forcierten, wo Ihnen nach dem ohnehin sensationellen Aufstieg in die Bundesliga 2013 ein Budget von lediglich 3,5 Millionen Euro zur Verfügung stand, war schon gewagt.

Hütter: Das mag sein, aber ich wollte nicht so wie die meisten Aufsteiger spielen: hinten reinstellen und sich über Konter und Standards definieren. Wir haben sogar unseren mit 17 Treffern besten Torjäger des Vorjahres verkauft, weil er mir für das Pressing zu langsam war. Die Jungs haben sich gedacht: Der ist doch nicht ganz sauber in der Birne! (lacht) Wir haben dafür viele schnelle Spieler geholt, die das umsetzen konnten. Am Ende zogen wir sogar als Dritter in die Europa League ein und haben bis auf Salzburg alle Großen geschlagen.

Nach den zwei sehr erfolgreichen Jahren in Grödig verlängerten Sie dort Ihren Vertrag nicht und gingen zu Red Bull Salzburg, wo Rangnick Sportdirektor war. Sie gewannen das Double, verließen den Verein nach einer Saison aber wieder. Inwiefern ist Ihnen denn heute generell betrachtet der fußballerische Ansatz bei Red Bull vielleicht sogar etwas zu extrem?

Hütter: Er ist mir zu einseitig vorgekommen, aber ich bin sehr dankbar, diese Art und Weise von Fußball mitbekommen zu haben, weil sie mir enorm geholfen hat. Mir war dieser Tunnelblick zu viel, dass es ohne Alternative ist, bedingungslos nach vorne zu attackieren. Es kann nicht immer der Grund sein, dass man nicht gut gegen den Ball war, wenn man nicht gut genug gespielt hat. Das ist mir zu einfach. Daher entwickelten sich dort auch unterschiedliche Auffassungen zwischen uns. Ich habe gespürt, es wäre für eine weitere Saison zu viel Konfliktpotential da gewesen.