Es war sicherlich gut gemeint und faktisch hat Alexander Wehrle ja auch Recht, wenn er die Vorzüge der Relegation herausstellt. Zumindest aus Sicht des Bundesligisten ist das immer eine feine Sache, als drittschlechteste Mannschaft nach 34 Spieltagen doch noch zwei Chancen zu bekommen, um eine missratene Saison irgendwie noch zu retten. Die Relegation ist für den Sechzehnten der Bundesliga in den meisten Fällen eher Rettungsanker als die unliebsame Verlängerung einer Saison.
Über Wehrles Wortwahl lässt sich allerdings dann doch streiten. "Relegation kann auch Spaß machen", hatte Stuttgarts neuer Vorstandsvorsitzender am Wochenende bei SWR Sport gesagt. Wehrle spielte auf seine Erfahrungen mit dem 1. FC Köln an, wie sein damaliger Klub erst am letzten Spieltag in eben jene Relegation gegen den Dritten der 2. Liga rutschte und dann - nach einem trostlosen 0:1 im eigenen Stadion - den Kontrahenten Kiel mit 5:1 überrollte und gegen einen durch Corona und einen eng getakteten Spielplan völlig ausgelaugten Gegner doch noch feiern durfte.
Beim VfB Stuttgart jedenfalls sollten sie sich über die beiden Bonusspiele freuen, wenngleich die eigene Erinnerung daran eher alte Wunde aufreißt, als in irgendeiner Form Spaß zu machen. Und dass der VfB es überhaupt in die Relegation schafft, steht nach den Darbietungen der letzten Wochen ohnehin mehr denn je in Frage. Es ist wieder einiges verrutscht beim VfB, nachdem der Klub vor vier, fünf Wochen fast schon die Kurve bekommen hätte.
Das Bielefeld-Spiel, die vielen vergebenen Chancen damals, der verpasste Sieg: Das war ein Knackpunkt, seitdem fehlen einige wichtige Komponenten im Abstiegskampf und auch wenn sie das in Bad Cannstatt nicht so gerne hören werden: Die Gefahr, am Ende dann doch noch Platz 16 zu verspielen und neben Greuther Fürth direkt runterzugehen, ist enorm groß. Weil es in zu vielen Bereichen nicht mehr so richtig passt - und weil der VfB nun schon fast die gesamte Saison zu viele Probleme kultiviert. Eine Einordnung.
VfB Stuttgart: Der überschätzte Kader
Der VfB hat wichtige Spieler verloren, musste aber keinen großen Umbruch im Kader vollziehen. Eine Überlegung war, dass die verheißungsvollen Talente in ihrer zweiten Bundesliga-Saison nochmal einen Schritt nach vorne machen würden. Das hat nicht funktioniert.
Roberto Massimo oder Tanguy Coulibaly waren zuletzt nur noch leidliche Optionen, Mateo Klimowicz schaffte es zuletzt wie die Zugänge Ömer Beyaz oder Wahid Faghir oft gar nicht mehr in den Kader. Auch Naouirou Ahamada, Nikolas Nartey oder Clinton Mola waren für Trainer Pellegrino Matarazzo kaum Alternativen, sofern sie denn überhaupt spielfit waren. Und wenn sie spielten, konnten sie der Mannschaft wenig geben.
So wird nun auf einmal wieder Erik Thommy wichtig, der bis vor ein paar Wochen kaum gespielt hat und nun von Beginn an Impulse setzen soll, quasi aus dem Stand. Ähnlich wie Enzo Millot, der neben Coulibaly und A-Jugendspieler Alexis Tibidi plötzlich eine der - so wenigen - fixen Auswechseloptionen des Trainers ist, davor aber fast nur im Trainingsbetrieb oder dem einen oder anderen Testspiel belastet wurde. Einziger Lichtblick ist Hiroki Ito, der ursprünglich für die zweite Mannschaft eingeplant war und nun Stammspieler in der Innenverteidigung ist. Ito spielt auch deshalb, weil es neben ihm in Waldemar Anton und Dinos Mavropanos nur zwei weitere gelernte Innenverteidiger gibt.
Und wie das in der Breite mit den jungen Spielern kaum geklappt hat, wurden auch einzelne Positionen in der Planung der Saison oder dann im Winter, als man noch hätte nachjustieren können, falsch eingeschätzt. Auf der Torhüterposition und auf den offensiven Flügeln ist der VfB schlechter besetzt als in der vergangenen Saison, hier haben die Abgänge von Gregor Kobel und Nicolas Gonzalez Lücken gerissen, die ihre Nachfolger nicht stopfen konnten.
Besonders deutlich wird das im Fall von Florian Müller. Eine spektakuläre Parade wie jene am Wochenende gegen Wolfsburgs Jonas Wind ist nicht nur deshalb so bemerkenswert, weil sie technisch sauber ausgeführt war und am Ende entscheidend mithalf, den einen Punkt zu holen. Sondern weil Aktionen wie diese so rar gesät waren in dieser Saison. Müller leistete sich zwar wenige Fehler, hielt in der Regel ordentlich - aber dieses Gefühl, dass da einer als letzte Instanz den Gegner doch noch aufzuhalten vermag, den Sieg festhalten und das Spiel retten kann: Das hat sich bis heute nie eingestellt.
Müller wurde wie Kapitän Wataru Endo aus nachvollziehbaren Gründen die Reise zu den Olympischen Spielen gewährt. Für die Spieler und die Mannschaft erwies sich das aber als besonders kontraproduktiv. Gerade Endo, der auch danach in den Länderspielfenstern mit der japanischen Nationalmannschaft um den gesamten Globus reisen musste, fiel in der ersten Saisonhälfte in ein Loch, wirkte überspielt und für seine Verhältnisse fahrig.
Andere, wie der notorisch unterschätzte Philipp Förster, Omar Marmoush und phasenweise sogar Chris Führich stagnieren oder sind wie Daniel Didavi keine Option mehr. In der Summe sind das dann zu viele Baustellen, um eine ruhige Saison spielen zu können oder so etwas wie eine eingespielte und widerstandsfähige Mannschaft zu präsentieren.
VfB Stuttgart: Die Formkurven der Spieler
Dazu kommen Formschwankungen und Leistungsdefizite von eminent wichtigen Spielern zur Unzeit. Orel Mangala dürfte theoretisch der beste Fußballspieler im Kader sein, der Belgier kann im zentralen Mittelfeld sehr viele sehr gute Dinge veranstalten. Mangala ist nun aber schon seit geraumer Zeit offenbar mit dem Kopf nicht bei der Sache, war zuletzt in Berlin ein Totalausfall und saß dann gegen Wolfsburg - als Matarazzo nur drei Wechsel vornahm - 90 Minuten auf der Bank.
Sasa Kalajdzic stand gegen Wolfsburg komplett neben der Spur. Eine Woche zuvor nach der Niederlage gegen Berlin heulte Kalajdzic noch auf dem Rasen. Dem Österreicher ist förmlich anzusehen, wie es in seinem Kopf rattert. Ob nun wegen der misslichen Lage der Mannschaft oder seiner offiziell immer noch nicht geklärten Zukunft. Aber Kalajdzic in der aktuellen Form wäre theoretisch ein Kandidat für einen Platz auf der Bank - wenn der Kader denn auch nur eine Alternative hergeben würde.
Auch die Flügelzange mit Marmoush und Tiago Tomas, der einen tollen Start beim VfB hatte und Lust auf mehr machte, wirkt verkrampft, überambitioniert und -motiviert und dem mächtigen Druck wohl nicht ganz gewachsen. Jedenfalls ist aus den Hoffnungsträgern des Winters, aus Kalajdzic nach dessen Verletzungspause, aus Marmoush und Zugang Tomas, ein Offensivtrio geworden, das kaum noch Bedrohung für den Gegner ausstrahlt.
Dass nun die Kritik wegen der fehlenden erfahrenen Spieler beim jüngsten Kader der Liga auch von Experten oder Ex-Spielern lauter wird, greift aber trotzdem zu kurz. Es mangelt nicht an Erfahrung, sondern an Selbstvertrauen und an einer gesunden Portion Unbekümmertheit. An Faktoren also, die man als Tabellen-Sechzehnter in der Regel nicht aufweist. Dass das mit einer ganzen Horde an erfahrenen, älteren Spielern auch ganz mächtig nach hinten losgehen kann, dürfte der Abstieg 2019 eigentlich jedem vor Augen geführt haben.
VfB Stuttgart: Das heftige Verletzungspech
Bei aller Kritik an den Spielern und der schauderhaften Saison ist allerdings auch festzuhalten, dass es den VfB so hart wie kaum eine andere Mannschaft erwischt hat in dieser Saison. Zwar steht Borussia Dortmund gemessen an den Ausfalltagen seiner Spieler noch etwas über dem VfB, allerdings hat die Borussia auch einen ganz anderen Kader und konnte Ausfälle von wichtigen Spielern im Quervergleich besser kompensieren.
Stuttgart spielt quasi die komplette Saison ohne Silas und ohne den bärenstarken Mohamed Sankoh, ein überragendes Mittelstürmer-Talent, das sich gleich am ersten Spieltag einen Totalschaden im Knie zugezogen hatte. Ähnlich ist die Saison für Lilian Egloff verlaufen, das Eigengewächs hätte eine der Entdeckungen der Saison werden können, jedenfalls bringt Egloff fußballerisch wirklich alles mit. Derzeit steht der 19-Jährige nach einem Mittelfußbruch und Rückenproblemen bei ganzen 28 Spielminuten in dieser Saison und tastet sich über Einsätze in der zweiten Mannschaft langsam wieder heran.
Dazu kommt die verpasste Hinserie von Kalajdzic, dessen Suche nach der Form in der zweiten Saisonhälfte und die zum Teil schweren Verletzungen von Pascal Stenzel, Führich, Mola, Nartey, Mangala oder Förster, dazu etliche Corona-Fälle. Der VfB steuert deshalb schnurstracks auf 3000 Ausfalltage seiner Spieler zu. Aktuell sind "nur" sechs Spieler verletzt, in Hochzeiten waren es bis zu zwölf. Das führt unterm Strich dazu, dass der VfB schon 34 Spieler einsetzen musste. Nur Hertha BSC (36) hat mehr, aber da hatten oder haben aber auch vier verschiedene Trainer in einer Saison das Sagen...