Für den Beruf des Trainers hält die deutsche Sprache einige ganz wunderbare Synonyme parat. Übungsleiter beispielsweise, oder auch Fußballlehrer. Julian Nagelsmann ist beim FC Bayern je nach sprachlicher Vorliebe selbstverständlich beides, nach dem 3:0-Sieg seiner Mannschaft bei Arminia Bielefeld war er aber vor allem Fußballlehrer mit Betonung auf "Lehrer".
Sein Schüler war in diesem Fall Tanguy Nianzou. Beim vorangegangenen Spiel hatte der 19-Jährige mit einer durchaus fahrlässigen Aktion einen Eintrag ins Klassenbuch provoziert. Kurz vor der Halbzeitpause sprang er in seinen Gegenspieler Fabian Kunze und rammte ihm den Ellenbogen ins Gesicht. Nianzou kam mit der Gelben Karte davon, Kunze mit einer Halskrause auf einer Trage.
Mitspielen durfte nach dem Seitenwechsel aber auch Nianzou nicht mehr, er musste zum Nachsitzen draußen bleiben. Die Auswechslung sei eine "erzieherische Maßnahme" gewesen, erklärte Nagelsmann nach dem Spiel. Noch angemessener hätte der Fußballlehrer einen vorzeitigen Platzverweis von Schiedsrichter Matthias Jöllenbeck gefunden. "Das war eine Rote Karte für mich", sagte Nagelsmann.
"Er muss das noch lernen. Er ist ein sehr aggressiver Spieler, aber er muss gut abwägen, wann er diese Aggressivität aufs Feld bringt", erklärte Nagelsmann. "Mit so einer großen Distanz ins Kopfballduell zu gehen: Da kommst du einfach nicht mehr hin, da musst du wegbleiben und clever sein." Nianzou ist laut Nagelsmann "ein total lieber Kerl" und Absicht sei es sicher nicht gewesen, so ganz überraschend kam die Aktion aber auch nicht: "Das hat er auch immer wieder im Training, diesen Drang manchmal einen Tick zu aggressiv zu sein."
Tanguy Nianzou: Vier Bundesliga-Startelfeinsätze in Folge
Für Nianzou stellen das Foul, die darauffolgende Auswechslung und Nagelsmanns Belehrungen einen schwerer Rückschlag zur Unzeit dar. Erstmals seit seinem ablösefreien Wechsel von Paris Saint-Germain nach München im Sommer 2020 hatte der Innenverteidiger zuletzt regelmäßig Spielpraxis bekommen.
Nach drei größtenteils stabilen Auftritten an der Seite seines französischen Landsmannes Dayot Upamecano stand Nianzou in Bielefeld beim vierten Bundesligaspiel in Folge in der Startelf. Niklas Süle fehlte krank, Benjamin Pavard und Lucas Hernandez wurden zuletzt auf den Seiten gebraucht. "Tanguy hat in den letzten Wochen gezeigt, dass er auf dem Niveau top mithalten kann", sagte sein Kollege Thomas Müller.
Auch in Bielefeld präsentierte sich Nianzou zunächst präzise im Aufbauspiel und entschlossen im Zweikampfverhalten. Knapp 96 Prozent seiner Zuspiele kamen an, knapp 63 Prozent seiner direkten Duelle gewann er, dazu sind kaum Ballverluste von ihm vermerkt. Lediglich vor Masaya Okugawas vermeintlichem 1:1 (43.) leistete sich Nianzou einen gröberen Fehler, der wegen einer Abseitsstellung aber letztlich hinfällig war.
Vielleicht weil er sich immer noch über dessen Foul ärgerte, nannte Nagelsmann Nianzous Leistung anschließend nur "okay", lobte aber immerhin explizit dessen "gute Bälle ins Mittelfeld" in der Anfangsphase des Spiels. "Wir sind bei ihm noch nicht bei 100 Prozent", sagte Nagelsmann und scherzte selbstkritisch: "Das ist natürlich auch fragwürdig von mir im April als Trainer."
Nagelsmann kritisierte Nianzou zuvor schon zweimal
Tatsächlich wird Nagelsmann offenbar nicht so ganz schlau aus seinem talentierten Innenverteidiger. Bei wohl keinem anderen Spieler ist die Einsatzminuten/Kritik-Quote so hoch wie bei ihm. In Bielefeld passierte es schon zum dritten Mal in dieser Saison, dass Nagelsmann Nianzou öffentlich zurechtwies.
Angesprochen auf dessen damals geringen Einsatzzeiten, berichtete Nagelsmann im Oktober, dass Nianzou zweifelsohne "ein großes Talent mit viel Potenzial und fußballerisch ein sehr guter Innenverteidiger" sei. "Aber das ist manchmal gar nicht so gut, weil man sich dann sehr viel zutraut. Das ist per se eine gute Sache, führt aber hin und wieder zu Fehlern."
In den Trainingseinheiten würde Nianzou "den einen oder anderen Fehler zu viel" machen. Er müsse "einen guten Mittelweg findet, um die maximale Seriosität zu haben und trotzdem seinen Mut nicht zu verlieren". Erst dann werde Nianzou "wirklich eine Alternative sein".
In den darauffolgenden Wochen avancierte Nianzou tatsächlich zur Alternative, über Kurzeinsätze kam er aber nicht hinaus. Warum? "Er hat immer wieder Situationen, in denen er haarsträubende Fehler macht. Diese Verlässlichkeit fehlt ihm noch ein bisschen", sagte Nagelsmann im Februar. "Aus diesem Teufelskreis muss er sich schon ein Stück weit selbst befreien, in dem er diese Verlässlichkeit in sein Spiel bekommt."
Tanguy Nianzous Zukunft beim FC Bayern München
Anschließend spielte Nianzou phasenweise gar keine Rolle, ehe er auch aufgrund fehlender Alternativen in der Innenverteidigung Mitte März in die Startelf rückte. Gegen Union Berlin gewann der FC Bayern 4:0, Nianzou steuerte sogar ein Tor bei. "Er hat eine unglaubliche Aggressivität und eine Winner-Mentalität, die außergewöhnlich ist", lobte Nagelsmann damals.
Ob er auch eine langfristige Zukunft beim FC Bayern hat, wird davon abhängen, ob er diese Aggressivität und seine Risikoliebe entsprechend gedrosselt einsetzen kann, ob er für Nagelsmanns Geschmack genug Sicherheit in sein Spiel bringt.
Dem Vernehmen nach plant der FC Bayern nach dem ablösefreien Abgang von Niklas Süle zu Borussia Dortmund im Sommer nicht, unbedingt einen weiteren Innenverteidiger zu verpflichten, Nianzous Einsatzchancen würden sich somit automatisch erhöhen.
Klassensprecher Thomas Müller ist jedenfalls überzeugt, dass seine Mannschaft mit Nianzou noch "viel Freude" haben werde: "Er ist ein super Typ, bodenständig und trotzdem engagiert und lustig. Was die deutsche Sprache betrifft, ist er sehr weit. Er integriert sich total, identifiziert sich mit dem Klub."