Das Wort "Zeitenwende" erfährt in diesem Jahr eine Renaissance. Auch auf den FC Bayern München trifft der Begriff wohl zu. "Es ist eine Herausforderung, es gibt ein neues Bayern München", sagte Julian Nagelsmann jüngst auf der USA-Reise des Rekordmeisters. Eine Herausforderung, die vielleicht gleichbedeutend mit dem größten taktischen Umbruch seit Louis van Gaal im Jahr 2009 ist.
Vor allem deshalb, weil Top-Stürmer Robert Lewandowski das Weite gesucht hat. Der Pole läuft ab sofort für den FC Barcelona auf. Sein langjähriger Offensivpartner Thomas Müller erklärte zuletzt, dass die Bayern bewusst und auch unbewusst ihr Spiel auf den 33-Jährigen zugeschnitten hatten - auch wenn es nie der konkrete Matchplan war.
Nun stehen die Münchner ganz ohne ihren Zielspieler da. Dafür hat der Klub aber auf anderen Positionen kräftig nachgelegt. "Es muss sich niemand Sorgen machen", sagte Nagelsmann. Aber ist das wirklich so? Die beiden Testspiele gegen D.C. United und Manchester City liefern fünf erste Erkenntnisse, wohin sich das Team von Julian Nagelsmann jetzt taktisch entwickeln könnte.
FC Bayern: Wer beerbt Robert Lewandowski?
Die wichtigste Frage der Sommervorbereitung ist, wer Robert Lewandowski beerben soll. 50 Tore und sieben Assists in 46 Einsätzen - die kurze Antwort auf die Frage lautet: Niemand wird das alleine auffangen können. Nagelsmann selbst sieht darin aber mehr Chancen als Nachteile. Der Stil werde "anders sein, wir werden variabler sein", sagte der Trainer, der unter anderem mit Sadio Mane im offensiven Zentrum planen wird.
In den USA war der Ansatz der Variabilität bereits zu erkennen. In beiden Partien setzte Nagelsmann auf eine Doppelspitze. Beim 6:2-Sieg gegen D.C. United spielte Serge Gnabry mit Sadio Mane im Sturmzentrum, gegen Manchester City (0:1) hieß Gnabrys Partner Thomas Müller. Dass die Umstellung erst noch greifen muss und deshalb nicht zu viel in diese Testspiele hineininterpretiert werden kann, ist vollkommen klar. Erste positive Ansätze sind jedoch erkennbar.
Nagelsmann knüpft an seine Ideen aus der vergangenen Saison an, indem er viele Spieler im Zentrum positioniert. Die Flügel waren in beiden Testspielen oft nur einfach besetzt. Lewandowskis Rolle wird nun aufgeteilt. Das bedeutet, dass es keinen klaren Zielspieler mehr gibt. Vorher war Thomas Müller der eindeutige Zuarbeiter, der um den Polen herum Räume erlief und seinen Sturmpartner mit Pässen fütterte. Diese Zuordnung gibt es nicht mehr.
Jeder muss in bestimmten Situationen Zuarbeiter sein und jeder muss in der Lage sein, sich als Zielspieler anzubieten. Dadurch entsteht Dynamik, weil es ein ständiges Kommen und Gehen in der Offensivreihe gibt. Während Lewandowski seine Rolle naturgemäß sehr physisch interpretierte, geht es jetzt noch mehr darum, die Schnittstellen in der gegnerischen Abwehr zu finden und diese mit Pässen in den Lauf zu bespielen. Es wird wohl weniger hohe Flanken geben und auch weniger Situationen, in denen sich ein Bayern-Angreifer mit dem Rücken zum Tor behaupten muss.
FC Bayern: Variabilität ist Chance und Risiko für Nagelsmann
Natürlich ist der FC Bayern darum bemüht, den Stilwechsel in der Offensive als möglichst positiv zu verkaufen. Und tatsächlich ist das eine große Chance für den Trainer. In seiner ersten Saison soll es immer wieder zu Problemen mit Lewandowski gekommen sein. Im November beschwerte sich der Pole auf einer Pressekonferenz der Nationalmannschaft über zu wenig Raum in der Offensive. Mit sechs Offensivspielern sei es "für einen Stürmer nicht leicht", sagte er damals.
Vor allem in der Rückrunde machte es den Anschein, dass Nagelsmann zunehmend von seinen eigenen Überzeugungen abwich und das Team insgesamt wieder breiter positioniert war - also mit mehr Freiraum für Lewandowski. Ohne den FIFA-Weltfußballer kann Nagelsmann seine Offensive also freier strukturieren und mehr Ideen ausprobieren.
Ein Risiko bleibt aber: Es fehlt ein Wandspieler. In beiden Testspielen gab es mehrere Angriffe, die Bayern nicht vernünftig zu Ende spielen konnte, weil niemand den Ball so lange festmachen konnte, bis ausreichend Offensivspieler nachgerückt waren. Bei der TSG Hoffenheim hatte Nagelsmann Sandro Wagner, in Leipzig waren es einst Patrik Schick und Yussuf Poulsen. Diese Spieler konnten sich fallen lassen, den Ball unter Druck kontrollieren und weiterverteilen. Oder sie verlängerten einen langen Ball per Kopf.
So ein Spieler fehlt den Bayern. Auch bei Top-Talent Mathys Tel ist fraglich, ob er dazu fähig ist. Aktuell ist die Offensive sehr von Tempo, Dribblings und Vertikalität abhängig - und somit auch von Raum. Ein Spieler, der Qualitäten im Kopfballspiel und mit dem Rücken zur Abwehr mitbringt, täte dem FC Bayern wohl ganz gut - zumindest in bestimmten Situationen. Es bleibt abzuwarten, wie schmal der Grat zwischen "Variabilität" und "Berechenbarkeit" tatsächlich ist. Und ob Bayerns Offensive auch funktioniert, wenn Gegner das Zentrum klug verteidigen und schließen.