Martin Demichelis trainiert seit über einem Jahr die Reserve des FC Bayern München. Im Interview mit SPOX und GOAL spricht der 41-Jährige über seine aktuelle Tätigkeit - und blickt zurück auf seine Jugend in Argentinien sowie die Anfangszeit als Spieler in München.
Herr Demichelis, Spieler ausbilden oder aufsteigen: Was ist bei der Reserve des FC Bayern wichtiger?
Martin Demichelis: Natürlich versuchen wir, Meister zu werden. Aber die Priorität ist es, Talente zu entwickeln. Nach der letzten Saison sind acht unserer Spieler Profis bei verschiedenen Vereinen geworden. Darauf bin ich stolz. Für mich als Trainer ist das ein gutes Gefühl. Auch in der aktuellen Mannschaft haben wir interessante Jungs. Aber wir brauchen Geduld. Wir haben bisher zwar gut gepunktet, aber noch nicht so gut gespielt, wie ich mir das vorstelle.
Nach den Abgängen von Nicolas Feldhahn und Maximilian Welzmüller steht mit Timo Kern nur noch ein Routinier in der Mannschaft. Sollen noch erfahrene Spieler kommen? Neulich hat sich Rico Strieder im Interview mit SPOX und GOAL angeboten.
Demichelis: Nein, sonst hätten wir beispielsweise auch Diego Contento holen können. Er ist aktuell vereinslos und hat vergangenen Frühling bei uns mittrainiert. Er ist ein sehr sympathischer Mensch und guter Spieler. Aber der Klub verfolgt eine andere Philosophie. Wir setzen in der Reserve noch mehr als vorher vorrangig auf junge Talente.
Sie absolvieren Ihre Trainer-Ausbildung in Italien. Warum? Und wie ist der Stand?
Demichelis: Ich habe in Argentinien, Deutschland, England und Spanien gespielt. Der italienische Fußball hat mich aber auch immer schon interessiert. Italien hat herausragende Abwehrspieler. Die interessantesten Trainingsübungen für Abwehrspieler kommen aus Italien. Diese Fußball-Kultur wollte ich kennenlernen. Vergangenes Jahr war ich pro Monat drei Tage auf der Trainer-Schule in Coverciano, im Juni folgten dann drei Intensiv-Wochen mit jeweils acht Stunden pro Tag. Anfang September absolviere ich meine Abschlussprüfung.
Martin Demichelis: Seine bisherigen Trainerstationen
Zeitraum | Funktion |
2017 bis 2018 | FC Malaga (Co-Trainer bei den Profis) |
2019 bis 2021 | FC Bayern U19 (Trainergespann mit Danny Schwarz) |
seit 2021 | FC Bayern Reserve |
Im Sommer soll sich Arminia Bielefeld um Sie bemüht haben. Wann wollen Sie als Cheftrainer einer ersten Mannschaft arbeiten?
Demichelis: Mein Vertrag beim FC Bayern läuft noch bis zum nächsten Sommer und die Arbeit hier macht mir sehr viel Spaß. Bald habe ich meine UEFA-Pro-Lizenz und somit auch die formelle Voraussetzung geschaffen, eine erste Mannschaft im Profifußball trainieren zu können. Wir werden sehen, wann es soweit kommt.
Sie haben im Laufe Ihrer aktiven Karriere mit vielen großen Trainern zusammengearbeitet. Wer hat Sie am meisten inspiriert?
Demichelis: Ich bin dankbar für die Arbeit mit allen. Wenn ich von jedem Trainer erzählen soll, sitzen wir hier eine ganze Woche lang. Leider habe ich nie unter Pep Guardiola gearbeitet, aber ich bin ein großer Fan von ihm. Er hat einen enormen Einfluss auf den Fußball. Man könnte eine Mannschaft Guardiolas unabhängig von den Trikots erkennen.
Trifft das für Sie noch auf Mannschaften eines anderen Trainers zu?
Demichelis: Ich würde auch eine Mannschaft von Manuel Pellegrini in anderen Trikots erkennen. Mit ihm habe ich bei River Plate, beim FC Malaga und bei Manchester City zusammengearbeitet. Er ist nicht nur als Trainer herausragend, sondern auch als Mensch.
Wie eng ist Ihr Austausch mit Profi-Trainer Julian Nagelsmann?
Demichelis: Julian und sein Staff sind sehr offen und wir stehen regelmäßig im Austausch. Ich versuche, jede Trainingseinheit von Julian anzuschauen. Wenn ich es zeitlich nicht schaffe, besorge ich mir nachher das Video. Julian hat großes Interesse daran, unseren jungen Spielern Chancen zu geben. Er kennt den Vornamen jedes U19- und Reservespielers. Das finde ich super.
Wie tickt Nagelsmann als Trainer?
Demichelis: Mich fasziniert seine Energie. Er gibt viele Kommandos, lässt sich aber auch auf Diskussionen mit seinen Spielern ein. Er will weniger lange Ballbesitz-Phasen, sondern ganz schnell vors Tor kommen.
Hat die Spielphilosophie des aktuellen Profi-Trainers beim FC Bayern Einfluss auf Ihre Arbeit und die der Nachwuchs-Trainer?
Demichelis: Alle Trainer des FC Bayern arbeiten nach dem gleichen Prinzip: Wir stehen für dominanten Fußball. Das taktische System kann sich jeder Trainer selbst aussuchen. Viele unserer Gegner in der Regionalliga spielen nur mit langen Bällen. Das ist vielleicht die beste Idee für ihre Mannschaften. Aber ich kann als Trainer der Bayern-Reserve nicht mit so einer Taktik spielen. Das bringt nichts für die Entwicklung der Jungs.
Wie ist der Ablauf, wenn ein Spieler aus Ihrer Mannschaft bei den Profis mittrainiert?
Demichelis: Manchmal braucht Julian einen Spieler für eine bestimmte Position. Manchmal darf sich ein Spieler unabhängig von seiner Position oben zeigen, nachdem er bei uns sehr gute Leistungen gezeigt hat. Das entscheiden wir immer gemeinsam. Vor der USA-Reise haben wir ihm zum Beispiel vorgeschlagen, David Herold mitzunehmen.
imago imagesMit dabei war Gabriel Vidovic, der seit diesem Sommer fester Teil der Profimannschaft ist. Was zeichnet ihn aus?
Demichelis: Gabi hat unglaubliche fußballerische Qualitäten. Aber seine womöglich größte Stärke ist sein Charakter. Er hat eine unglaubliche Mentalität. Diego Simeone wurde mal gefragt, welchen Spielertypen er am liebsten hat, und er meinte: den Intelligenten. Gabi ist ein sehr intelligenter Junge mit einem geduldigen Umfeld. Viele Talente werden von ihren Eltern, Freunden, Beratern oder Sponsoren zu früh unter Druck gesetzt. Bei ihm ist das nicht der Fall. Er ist ein sehr bodenständiger junger Mann.
Was ist seine ideale Position?
Demichelis: Er ist in der Offensive sehr flexibel einsetzbar, kann auf den Flügeln und in der Mitte spielen. Intelligente Spieler wie er können sich an alle Systeme anpassen.
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Wie ist Ihr erster Eindruck vom hochgehandelten Neuzugang Lovro Zvonarek?
Demichelis: Vor eineinhalb Jahren war er zum Probetraining hier. Wie er sich in der Zwischenzeit entwickelt hat, ist super. Er hat sich sehr schnell integriert und spricht schon gut Deutsch.
Bei den Profis dürften die beiden zunächst nicht allzu viele Chancen bekommen, die Regionalliga unterfordert sie womöglich. Würden Sie Vidovic und Zvonarek Leihen empfehlen?
Demichelis: Für mich sind wir kein Regionalligist, sondern die zweite Mannschaft des FC Bayern. Das ist etwas anderes. Unsere Talente dürfen am gleichen Trainingsgelände wie die Profis trainieren, manchmal sogar mit ihnen. Hier können sie sich regelmäßig mit Joshua Kimmich, Leon Goretzka, Lucas Hernandez oder Dayot Upamecano messen. Philipp Lahm, David Alaba oder Toni Kroos haben erst nach ihrer Leihe den Durchbruch in unserer ersten Mannschaft geschafft. Aber generell finde ich, dass diese Talente den FC Bayern nicht zu früh verlassen sollten.
Sie sind 2003 im Alter von 22 Jahren von River Plate zum FC Bayern gekommen. Wie kam der Wechsel zustande?
Demichelis: Mein damaliger Berater Adrian de Vicente hatte während seiner aktiven Karriere bei den Grasshoppers Zürich unter Ottmar Hitzfeld gespielt. Die beiden blieben in Kontakt und als Ottmar Trainer des FC Bayern war, hat mich mein Berater ihm empfohlen. Daraufhin kam ein Jahr lang einmal pro Monat ein Scout des FC Bayern nach Argentinien, um mich zu beobachten. Weil alle überzeugt waren, reisten im November 2002 Karl-Heinz Rummenigge und Wolfgang Dremmler an. Es war ein großartiges Gefühl, dass diese Fußball-Legende nur wegen mir nach Argentinien kommt. Mein Berater hat mir zwei Tage vorher davon erzählt. Bis zum Spiel hat er mich alle paar Stunden angerufen und gefragt: "Was hast du gegessen? Hast du gut geschlafen? Wie geht es dir?"
Wie lief das Spiel?
Demichelis: Wir haben 4:0 gegen Racing Club gewonnen und ich habe eine gute Leistung gezeigt. Eine halbe Stunde nach Abpfiff hat mir mein Berater gesagt, dass mich Rummenigge am nächsten Tag treffen will. Wir haben gemeinsam gegessen und er hat mir ein Angebot gemacht. Zwei Wochen später bin ich zum Medizincheck nach München geflogen und im Sommer darauf gewechselt.
Wie schnell haben Sie sich in München eingelebt?
Demichelis: Das erste Jahr war schwer für mich, weil ich alleine und ohne Familie nach München gekommen bin. Bei River hatte ich mit Freunden zusammen gespielt. Nicht mit Bekannten, mit richtigen Freunden. Wir kannten uns teilweise schon von der Akademie. Nach jedem Training sind wir gemeinsam essen gegangen, haben ein, zwei Stunden geschlafen und dann gemeinsam den Nachmittag genossen. Beim FC Bayern ist jeder nach dem Training alleine nach Hause gegangen.
Was hat Sie in Deutschland überrascht?
Demichelis: Im Bus haben alle Spieler oft an ihren Handys herumgespielt. Irgendwann habe ich Claudio (Pizarro, Anm. d. Red.) gefragt: "Was macht ihr da?" Er meinte: "SMS schreiben." In Argentinien gab es das damals noch nicht, wir konnten nur telefonieren.
imago imagesWie war Ihr erster Oktoberfest-Besuch?
Demichelis: Als ich aufgewachsen bin, hatte mein Vater ein Getränke-Geschäft. Aber Alkohol hat mich nie interessiert. Tatsächlich habe ich mein erstes Bier hier in München auf dem Oktoberfest getrunken. Jeder hat eines getrunken. Also dachte ich, es auch mal zu probieren. Für euch in Bayern ist Biertrinken ein Stück weit Kultur. Das war für mich anfangs schwer zu verstehen. Als ich zum ersten Mal in München gelandet bin, war es sechs Uhr früh - und ich habe am Flughafen eine ungefähr 70-jährige Dame gesehen, die eine Weißwurst gegessen und ein Bier getrunken hat. Ich konnte das nicht nachvollziehen.
Wie haben Sie die Stimmung auf dem Oktoberfest erlebt?
Demichelis: Ich war begeistert von der Atmosphäre. Alle trinken viel Bier, feiern ausgelassen, aber nahezu alle bleiben friedlich. In Argentinien wäre so etwas nicht möglich.
Mussten Sie als Kind und Jugendlicher beim Getränke-Geschäft Ihres Vaters mithelfen?
Demichelis: Klar, bereits mit 14 Jahren habe ich Getränkekisten transportiert. In dieser Zeit habe ich eine gute Arbeitseinstellung gelernt. Mein Vater hat immer gesagt: "Man kann einen Job schlecht oder gut machen - aber die Zeit bleibt gleich. Also mach ihn gut!" Ich glaube, dass ich es deswegen zum Fußballprofi geschafft habe. Nebenher habe ich auch immer irgendetwas verkauft, um Geld für Fußballschuhe oder Trikots zu verdienen: Zeitungen, Eis oder Eier.
Während Ihrer Zeit beim FC Bayern war Uli Hoeneß erst Manager und später Präsident. Wie haben Sie ihn erlebt?
Demichelis: Ich habe noch niemanden mit einem größeren Herz kennengelernt. Ich könnte tausende Geschichten von ihm erzählen, aber eine ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Nach meiner ersten Niederlage mit dem FC Bayern wollte ich von der Kabine zum Bus gehen. Dann kam Hoeneß und meinte, dass ich den Fans erst ein paar Autogramme schreiben solle. Ich konnte das nicht verstehen. Wenn man in Argentinien nach einer Niederlage zu den eigenen Fans geht, dann wirst du beschimpft. Aber er hat mich dazu angehalten, die Fans haben sich sehr gefreut - und ich habe überlebt (lacht).