32, 32, 44, 37 - das sind nicht etwa irgendwelche Lottozahlen, sondern die Gegentore, die der FC Bayern München in den letzten vier Bundesliga-Spielzeiten jeweils kassierte. Letztmals blieb der Rekordmeister in der Saison 2017/18 unter 30 Gegentreffern. Die Defensive wurde insbesondere in der Amtszeit des jetzigen Sportvorstands Hasan Salihamidzic zur Großbaustelle ausgerufen.
Seit 2018 gaben die Bayern 242,5 Millionen Euro für Verteidiger aus. Mit Blick auf die reinen Zahlen eher semi-erfolgreich. Dabei hing vieles mit dem spielphilosophischen Wandel zusammen, den Hansi Flick an der Säbener Straße auslöste.
Mit ihm kam ein vertikaler, temporeicher und auf Gegenpressing ausgelegter Fußball, der nichts anderes als die totale Offensive kannte - manchmal eben auf Kosten der Defensive.
Für Julian Nagelsmann definierte sich aus den vielen Gegentoren und spätestens jetzt, wo Robert Lewandowski als Torgarant weg ist, eine klare Aufgabe: Die Abwehr muss stabilisiert werden. Schon nach sieben Bundesliga-Spieltagen deuten die StatsBomb-Daten von FBref an, wie er das erreichen möchte.
FC Bayern: Julian Nagelsmann auf der Suche nach Balance
Balance ist das Stichwort. Flicks Fußball wusste in München zu begeistern. Er war immer gnadenlos offensiv und scheute das maximale Risiko nicht. Trotz der historischen Erfolge, die die Münchner mit ihm als Trainer einfuhren, gab es hier und da Zweifel an der Nachhaltigkeit dieser Spielweise. Vor allem im Jahr nach dem Triple lieferten die Bayern einige Spiele ab, in denen sie die defensive Anfälligkeit nicht mehr durch offensive Durchschlagskraft ausgleichen konnten.
Nagelsmann ist also mit dem Ziel angetreten, Offensive und Defensive auszubalancieren - was ihm in der vergangenen Saison allenfalls in vereinzelten Phasen gelang. Eine dauerhafte Balance gelang ihm zwar auch in die ersten sieben Bundesliga-Partien der aktuellen Spielzeit noch nicht. Doch es ist erkennbar, welchen Ansatz der 35-Jährige verfolgt.
Die Bayern spielen mit mehr Geduld. Schon in Ballbesitz wollen sie sich gut sortieren, um etwaige Ballverluste absichern zu können. Wer mit dem Ball gut steht, hat gegen den Ball oft kurze Wege, um ins Gegenpressing zu kommen. Das führt bisher auch dazu, dass die Defensive seltener mit gefährlichen Abschlüssen des Gegners konfrontiert ist - wie die Zahlen belegen.
Julian Nagelsmann und der ruhigere Ballbesitz des FC Bayern
Die Daten unterstreichen zudem den insgesamt ruhigeren und langsameren Ballbesitz der Münchner. Im Vergleich zu den vorherigen drei Spielzeiten hat der FCB mehr Ballbesitz, aber dennoch weniger Ballkontakte. Bayern spielt zudem weniger Pässe als im Vorjahr und in der Triple-Saison.
FC Bayern: Datenvergleich der letzten vier Spielzeiten in der Bundesliga
Statistik pro Spiel | Saison 2022/23 | Saison 2021/22 | Saison 2020/21 | Saison 2019/20 |
Ballbesitz | 69,1 % | 64,8 % | 61,1 % | 65,6 % |
Ballkontakte | 793,6 | 819,5 | 765,5 | 824,8 |
Ballkontakte eigener Strafraum | 69,3 | 66,8 | 59,8 | 63,3 |
Ballkontakte Abwehrdrittel | 227 | 231,7 | 206,5 | 227,8 |
Ballkontakte Mittelfeld | 375,3 | 411,2 | 379,1 | 422,7 |
Ballkontakte Angriffsdrittel | 242,7 | 229,7 | 231 | 229,4 |
Ballkontakte Strafraum Gegner | 44,1 | 41,1 | 38,9 | 38,7 |
Pässe | 671,1 | 699,6 | 645,3 | 712,9 |
Passquote | 86 % | 85,1 % | 84,3 % | 85,6 % |
Pässe (vertikaler Raumgewinn > 9 m) | 55,6 | 55,4 | 51,3 | 57,8 |
Interessant ist, dass sie trotzdem mehr Ballkontakte im Angriffsdrittel und im gegnerischen Strafraum haben als in den vergangenen Jahren. Die Ruhe am Ball scheint also zumindest nicht dazu zu führen, dass das Team den Ball immer nur quer durch die eigenen Reihen schiebt und darauf wartet, dass sich irgendwann eine Lücke ergibt.
Auch wenn die Ergebnisse aktuell nicht stimmen, geben die Zahlen durchaus Hinweise darauf, dass die Spielanlage stabiler und ausbalancierter geworden ist. Aber ein größeres Problem ergibt sich aus dem vielen Ballbesitz und dem insgesamt langsameren Spieltempo dennoch: Das vor allem unter Flick gefürchtete Pressing verschwindet zunehmend als Erfolgsfaktor.
FC Bayern: Die Pressingsorgen unter Julian Nagelsmann
Messen lässt sich das an den sogenannten Druckmomenten. Das sind jene Situationen, in denen sich ein Bayern-Spieler einem Gegenspieler ausreichend nähert, der gerade den Ball hat oder erhält. In dieser Saison hat sich die Gesamtzahl an Druckmomenten pro Spiel um ungefähr 30 verringert.
Im Angriffsdrittel setzen sie den Gegner rund 13-mal weniger unter Druck als noch in der Saison 2019/20. Auch die Anzahl an abgefangenen Pässen ist niedriger geworden. Zum Teil resultiert das aus dem höheren Ballbesitzwert. Wer den Ball häufiger durch die eigenen Reihen zirkulieren lässt, muss seltener gegen den Ball arbeiten. Positiv lässt sich ebenfalls aus den Zahlen herauslesen, dass die Erfolgsquote leicht angestiegen ist. Gleichzeitig trägt das reduzierte Tempo womöglich dazu bei, dass die Bayern sich seltener hochwertige Chancen erspielen.
FC Bayern: Datenvergleich der letzten vier Spielzeiten in der Bundesliga
Statistik pro Spiel | Saison 2022/23 | Saison 2021/22 | Saison 2020/21 | Saison 2019/20 |
Druckmomente gesamt | 119,9 | 147,9 | 146,6 | 144,2 |
Erfolgsquote | 38 % | 35,3 % | 34,3 % | 34,7 % |
Druckmomente Abwehrdrittel | 38,9 | 39,4 | 36,6 | 33 |
Druckmomente Mittelfeld | 46,1 | 64,8 | 65,2 | 63,8 |
Druckmomente Angriffsdrittel | 34,9 | 43,7 | 44,9 | 47,4 |
Abgefangene Pässe | 11,9 | 16 | 12,2 | 22,7 |
Eine weitere Datenanalyse hat bereits gezeigt, dass das Nagelsmann-Team zwar mehr Abschlüsse produziert, aber seltener in gute Positionen dafür kommt. Ein Grund dafür, dass das in der Vergangenheit besser lief, dürfte das Gegenpressing gewesen sein. Bayern presste hoch, erzeugte Druck und profitierte von Ballverlusten sowie kurzen Wegen zum gegnerischen Tor.
FC Bayern: "Zu viel Kontrolle" ist auch nicht gut
Ganz darauf verzichten möchte nämlich auch Nagelsmann nicht. Nach dem 2:2 gegen den VfB Stuttgart analysierte der Trainer: "Wir hatten zu langsamen Ballbesitz und haben sehr viel auf Kontrolle gespielt, aber wenig Richtung Tor." Seine Spieler hätten mit "zu viel Kontrolle" und "zu wenig Risiko" agiert.
Und das ist dann die Krux an der Geschichte: Ja, die Defensive steht tendenziell stabiler, wenn das Team seltener in Hektik verfällt und es schafft, das Spiel durch eigenen Ballbesitz zu kontrollieren. Aber sie wird nicht stabilisiert, wenn der Ballbesitz nicht dazu führt, dass der Gegner unter Druck gesetzt wird - durch ein gewisses Grundtempo, aber eben auch durch eigene Tore.
Am deutlichsten wurde das in der Champions League gegen den FC Barcelona, als die Bayern vor allem in der ersten Halbzeit die Kontrolle über das Spiel komplett verloren, weil sie zu lethargisch und passiv agierten. Mit dem Ball waren sie nicht in der Lage, Raumgewinne zu erzeugen. Ohne Ball ließen sie sich früh in die eigene Hälfte fallen und überließen damit dem Gegner das Spielfeld.
FC Bayern: Fehlender Offensivpunch als Preis für Stabilität?
Wenn Nagelsmann also ausgehend von den Schwächen der Flick-Zeit die Aufgabe hat, die Defensive zu stabilisieren und eine bessere Balance aus Offensive und Defensive zu finden, dann hat er diese bisher zumindest teilweise gefunden. Einige Zahlen belegen, dass die Abwehr von den Anpassungen profitiert.
Gleichzeitig ist die große Frage, wie sehr die Offensive darunter leiden könnte. Denn auch wenn die Bayern aktuell bei 19 Treffern aus sieben Partien stehen, sie im Schnitt 23 Abschlüsse pro Partie haben und auch die Ballkontakte im Angriffsdrittel zeigen, dass sie nach wie vor druckvollen Angriffsfußball spielen (können), so fehlt aktuell der entscheidende Punch.
Und dieser Punch könnte vielleicht deshalb fehlen, weil dem Rekordmeister die Aggressivität im Pressing und somit auch der Druck auf den Ball etwas abhandengekommen sind. Noch ist die Datensammlung mit sieben Bundesliga-Spielen zu klein, um das abschließend zu bewerten. Auf dem Weg zu weniger Gegentoren sollte Nagelsmann die Offensive aber nicht aus den Augen verlieren.