Bitte lassen Sie einmal Ihre Fantasie spielen und stellen sich folgendes Szenario vor: Sie sind der Opa eines höchst talentierten, allerdings nur in Mexiko bekannten Fußballspielers. Ihr Enkel verabschiedet sich zusammen mit Ihrem Sohn nach Atlanta, USA, in den Urlaub.
Transfer absolut geheim
Eines Abends, Sie machen nichts Bestimmtes, bekommen Sie einen Anruf Ihres Sohns. Dieser bittet Sie, schnellstmöglich den Fernseher anzuschalten. Sie tun dies und sehen plötzlich das Konterfei Ihres Enkels. Daneben das Wappen von Manchester United.
Tomas Balcazar ist es so ergangen. Balcazar war selbst Fußballer. Er spielte bei der WM 1954 für Mexiko und avancierte zu einer Legende des Vereins Chivas Guadalajara. Und sitzt dann als 78-Jähriger vor dem TV und weiß nicht, wie ihm geschieht. Er wurde hereingelegt. Seine beiden Jungs waren in Manchester, England.
United verordnete absolute Geheimhaltung. Niemand sollte erfahren, dass die Red Devils einen dicken Fisch an der Angel hatten. Javier Hernandez nämlich. Sohn von Javier Hernandez Gutierrez, genannt Chicharo, die Erbse. Auch er ein ehemaliger Nationalspieler Mexikos. Einzig Vater und Sohn waren eingeweiht. Der Berater und der Großvater, ja der gesamte Rest des Hernandez-Clans, wussten von nichts.
United-Chefscout beobachtet Hernandez
Als die Nachricht vom Wechsel nach England über die mexikanischen Fernsehgeräte flimmerte, versammelte sich die halbe Journalie des Landes vor Hernandez' Haus. "Von 10 Uhr morgens bis 11 Uhr nachts wurden wir interviewt. Wir haben nicht einmal etwas gegessen. Es war verrückt", sagte der arme Opa, der zwar genauso überrascht wie die Presse war, dennoch bereitwillig und vor allem stolz Auskunft gab.
Zu verdanken hatte Familie Hernandez diesen Rummel United-Chefscout Jim Lawlor. Ein anderer Manchester-Scout beobachtete Chicharito, wie Javier Hernandez in Anlehnung an seinen Vater genannt wird, zwar bereits Ende 2009 und schrieb ihm da schon ein gutes Zeugnis aus.
Aber erst als Chicharito wenig später in die Nationalmannschaft berufen wurde, gingen auch bei Sir Alex Ferguson die Alarmglocken an. "Das verursachte ein potentielles Problem: Wenn er zur WM 2010 eingeladen wird und dort überzeugt, könnten wir Gefahr laufen, ihn zu verlieren", sagte der Trainer damals - und schickte Lawlor für drei Wochen nach Mexiko. Unter den Augen des Chefscouts traf der Stürmer in jedem Spiel.
Schnellster Spieler der WM 2010
United machte sofort Nägel mit Köpfen und lud Chicharito am Rande des Champions-League-Heimspiels gegen den FC Bayern zum gegenseitigen Kennenlernen ins Old Trafford ein. Auch Chivas-Präsident Rafael Lebrija spielte mit und hielt dicht - Manchester versprach ihm ein Freundschaftsspiel zur Einweihung des neuen Stadions.
Noch bevor sich also Hernandez bei der WM in Südafrika auf den Radar der Fußballwelt spielen konnte, verkündete United den Deal. Sein Vater sagte einmal, er habe niemals gedacht, dass sein Sohn Fußballprofi werden könnte.
Eben bei der WM war dann auch zu sehen, was dieser 1,73 Meter kleine Kraftprotz so alles kann: er ist schnell (mit 32,15 km/h Höchstgeschwindigkeit schnellster Spieler der WM), wendig, lauffreudig und hat den nötigen Zug zum Tor. In vier Spielen schoss er zwei Tore, trotz des Achtelfinalausscheidens hinterließen Mexiko und Hernandez einen guten Eindruck.
Hernandez: "Nichts im Leben ist einfach"
Am Wochenende ging nun seine erste Saison im Trikot von Manchester United zu Ende. Dabei reckte Chicharito freudestrahlend die Meistertrophäe in die Luft. Er steht im Champions-League-Finale (Sa., 20.15 Uhr im LIVE-TICKER) und spielt dort gegen das wohl beste Team der Welt. Er hat in 44 Pflichtspielen, davon lediglich 26 von Beginn an, 20 Tore geschossen. Sein Marktwert dürfte an die 20 Millionen Euro heranreichen. Uniteds Scoutingabteilung darf sich auf die Schulter klopfen.
"Wir sind sehr überrascht von ihm. Wir dachten, er bräuchte mehr Zeit, um sich einzugewöhnen", sagt Ferguson heute. Chicharito, den Sturmpartner Wayne Rooney bereits als Uniteds "Kauf des Jahrhunderts" adelte, brachte dazu von Anbeginn die richtige Einstellung mit. Noch in Mexiko studierte er nebenbei BWL, Englisch sprach er bereits fließend.
Als er auf der Insel ankam, arbeitete er unverzüglich seine Schwächen auf. "Ich bin oft im Kraftraum. Ich mache das nicht gerne, aber es war nötig, weil die Premier League schneller und körperbetonter ist. Es war nicht einfach. Nichts im Leben ist einfach." Ein solcher Charakter kommt an.
Hernandez entlastet Rooney
Dass Rooney so vom 22-Jährigen schwärmt, hat neben aller Sympathie einen simplen Grund. Spielt er mit Hernandez zusammen, verfällt die Bürde, alleinverantwortlich für Uniteds Sturmbemühungen zu sein. Daran zerbrach er gegen Ende der vergangenen Saison und brachte nach einem formidablen Saisonstart immer weniger auf die Kette.
Nun agiert Rooney zurückgezogen, kommt mit Wucht und Kraft aus der Tiefe und stößt in jene Lücken, die Chicharito durch seine Umtriebigkeit in den gegnerischen Abwehrverbund reißt.
Ferguson: "Der Junge hat Tore im Blut"
"Da, wo Wayne gespielt hat, ist er eine echte Gefahr, weil er am Ball so viel Kraft und Geschwindigkeit hat. Es hat sich ziemlich gut entwickelt. Hernandez ist unglaublich in seinen Bewegungen. Der Junge hat Tore im Blut." Solche Lobgesänge hört man vom knorrigen Ferguson selten.Der Triumph in der Königsklasse wäre für den Mexikaner das Sahnehäubchen am Ende einer sowieso schon unfassbar guten Saison.
Fakt am Rande: Mit der Nationalelf hat die "kleine Erbse" bereits gegen Spanien (mit Carles Puyol und Pique), Frankreich (mit Eric Abidal) und Argentinien (mit Javier Mascherano) getroffen. Das ist die halbe Defensivabteilung des FC Barcelona.
Javier Hernandez im Steckbrief