SPOX: Herr Henke, am Dienstag spielt der BVB das Achtelfinalhinspiel bei Juventus Turin. Beide Mannschaften standen sich 1997 im Champions-League-Finale gegenüber, die Borussia gewann mit 3:1 und Sie waren damals Co-Trainer von Ottmar Hitzfeld. Wie weit ist dieses Ereignis gefühlt für Sie entfernt?
Michael Henke: Es ist schon wirklich sehr lange her. Da es aber ein absolutes Highlight meiner Karriere - und da habe ich ja auch schon einiges mitgemacht - bleibt, ist mir dieses Spiel noch immer relativ präsent. Ich habe auch gleich nach der Auslosung im Dezember Dortmunds Organisationsdirektor Dr. Christian Hockenjos angerufen und nach einer Karte gefragt, weil ich mir das Spiel aus Nostalgiegründen gerne vor Ort angesehen hätte (lacht). Leider habe ich jetzt aber vermutlich doch keine Zeit.
SPOX: Dortmund war damals klarer Außenseiter. Es war schon erstaunlich genug, dass es das Team überhaupt bis ins Finale schaffte.
Henke: Obwohl wir in Deutschland zu diesem Zeitpunkt schon eine Größe waren, hatte Juventus eindeutig die Favoritenrolle inne. Es war eine absolute Überraschung - wie wenn beispielsweise Hannover 96 jetzt Champions-League-Sieger würde. Turin war eine Spitzenmannschaft in Europa, der italienische Fußball das Nonplusultra. Wenn wir damals gegen sie fünf Spiele gespielt hätten, wären vier mit Sicherheit verloren gegangen. Es hat glückliche Umstände gebraucht, um sie in München zu schlagen. Normal war das nicht.
SPOX: Welche glücklichen Umstände meinen Sie?
Henke: Das Finale fand an einem Mittwoch statt. Juventus musste am Samstag zuvor bei Atalanta Bergamo gewinnen, um italienischer Meister zu werden. Das haben sie auch geschafft. Ich war damals vor Ort, um sie zu beobachten. Ich glaube heute noch, dass dies ganz entscheidend für unseren Sieg war. Die Turiner haben anschließend gefeiert und waren euphorisiert. Sie waren sich in meinen Augen sehr sicher, dass sie gegen ein No-Name-Team wie Dortmund gewinnen würden. Von dieser leichten Überheblichkeit haben wir gerade in der ersten halben Stunde profitiert.
SPOX: In dieser Phase hat Karl-Heinz Riedle zwei Mal eingenetzt. In die Fußballgeschichte eingegangen ist aber das entscheidende 3:1 des zehn Sekunden zuvor eingewechselten Lars Ricken. Wie kam es zu seiner Hereinnahme?
Henke: Lars kam damals trotz seiner 18 Jahre schon relativ häufig zum Einsatz, auch in der Champions League. Er hatte bewiesen, enorm torgefährlich zu sein und häufig zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle zu stehen. Lars war ein Spieler, bei dem du nie genau wusstest, was im nächsten Moment passieren würde. Als es nur noch 2:1 stand und Juventus immer stärker wurde, haben wir auf der Bank gespürt, dass wir das Ding so nicht gewinnen werden. Wir brauchten noch ein Tor. Stephane Chapuisat ging raus, weil er sich in der italienischen Abwehr einfach abgenutzt hatte. Dann war es logisch, dass Lars die erste Alternative darstellte.
SPOX: Von der Tribüne zuschauen musste dagegen Wolfgang Feiersinger, der überraschend aus dem Kader flog, obwohl er in der Königsklasse mehrere starke Leistungen ablieferte. Der rechtzeitig genesene Matthias Sammer verdrängte ihn. War diese Entscheidung ein Alleingang von Hitzfeld?
Henke: Nein, es war wie immer zwischen Co- und Cheftrainer: Wir haben zusammen diskutiert und unsere Auffassungen ausgetauscht. Am Ende traf Ottmar die finale Entscheidung. Er hat es ja schon selbst oft bestätigt und es war ihm auch damals schon anzumerken: es war eine der härtesten Entscheidungen seiner Trainerkarriere.
SPOX: Wie hätten denn Sie als Cheftrainer entschieden?
Henke: Ich habe das damals natürlich voll mitgetragen. Die Wahl war auch absolut nachvollziehbar. Es war eine sachlich wie fachlich überlegte Entscheidung, die nur dem Zweck diente, maximalen Erfolg zu haben. Wenn man logisch überlegt, wäre ich wahrscheinlich auch zu diesem Entschluss gekommen - allerdings mit dem gleichen Unbehagen.
SPOX: Der CL-Triumph ist bis heute der größte der Dortmunder Vereinsgeschichte. Wie wild ging es anschließend auf der Party zu?
Henke: Es hat erst einmal ziemlich lange gedauert, bis wir überhaupt aus dem Stadion kamen. Wir stießen erst um 1 Uhr nachts zu den anderen Gästen, die Feier war schon in vollem Gange. Wir haben den Alkohol aber natürlich schon in der Kabine ausgepackt und dann ausgelassen gefeiert. Es hat sich niemand zurückgenommen. Ich weiß noch, wie ich morgens um 7 mit meiner Frau im Hotel ankam und noch in den Swimmingpool gehen wollte. Da war aber alles abgeschlossen (lacht).
SPOX: An welche Anekdote dieser Saison erinnern Sie sich heute noch am liebsten?
Henke: An die mit Paul Lamberts Uhren. Er war unser Arbeitstier und absolvierte als einziger Spieler alle elf Partien in der Königsklasse. Paul war ein unauffälliger Spieler, aber enorm wichtig für das Team - das wusste die Mannschaft auch. Dieser sehr bescheidene Junge aus Schottland guckte immer etwas neidisch auf die dicken Uhren seiner Mitspieler. Vor dem Finale hatten ihm einige Spieler deshalb gesagt: "Paul, du kriegst meine Uhr, wenn wir die Champions League gewinnen." Und so kam es dann auch tatsächlich: Direkt nach dem Finale trug er plötzlich vier, fünf teure Uhren um sein Handgelenk - und ist dann auch so bei der Party eingelaufen.
SPOX: Dieser Teamgeist zog sich aber offenbar nicht durch die gesamte Spielzeit. Es war ein offenes Geheimnis, dass es innerhalb des Vereins einige Meinungsverschiedenheiten gab.
Henke: Zunächst muss ich sagen, dass man im Vorfeld des Endspiels sehr kritische Berichte in den Zeitungen lesen konnte. Es wurde versucht, das Verhältnis zwischen Vorstand und Trainer und auch das innerhalb der Mannschaft aufzurollen. Als man das las, hatte man nicht den Eindruck, dass der Verein vor dem größten Erfolg seiner Geschichte steht, sondern sich im Abstiegskampf befindet. Das war schon ziemlich verrückt.
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