Ein Blick auf die Torjägerliste in England. Harry Kane steht da ganz oben, jung, Engländer, auch in der zweiten Saison in Folge nicht zu stoppen. Die Europameisterschaft naht, die Anhänger der Three Lions freut's. Kurz dahinter Jamie Vardy, Platz drei. Dessen Aufstieg - vor vier Jahren kickte der noch bei einem Amateurverein - und der seines Klubs Leicester ist ohnehin das Thema dieser abstrusen Saison. Der Aufsteiger kann am Wochenende seine wundersame Geschichte zu Ende schreiben und gegen Manchester United Meister werden.
Zwischen Kane und Vardy, zwischen Hoffnung und Wunder: ein Grinsen. Spitzbübisch, wie eh und je. Gehören tut es Sergio Agüero, rausstechen will es jedoch keineswegs und viele Gedanken verliert man zunächst auch nicht. Man ist daran gewöhnt, der Angreifer gehört zum Inventar der Liga und einer anständigen Torschützenliste. So ist das seit fünf Jahren.
Und seit fünf Jahren schreibt Agüero im Etihad eine schizophrene Geschichte. Es ist die Geschichte von unzähligen Toren, in der Liga alleine mittlerweile 101. Die Geschichte des gefährlichsten Premier-League-Stürmers der jüngeren Vergangenheit. Doch ist es auch die Geschichte eines Spielers, der noch nie so im Rampenlicht stand, wie es viele für angebracht erachten würden. Angemessen, für einen der Besten der Welt.
Zweistellig seit fünf Jahren
Zumindest am Dienstagabend, an der Ahston New Road, wird Agüeros Bühne für 90 Minuten eine größere sein. Erstmals in der Geschichte von Manchester City steht der Verein im Halbfinale der Champions League. Der Gegner heißt Real Madrid. Und der, der die Königlichen zu Fall bringen soll, grinst zwischen Kane und Vardy.
"Er", sagt Trainer Manuel Pellegrini über Agüero, "ist einer der Größten". Keinen Zentimeter Platz dürfe man ihm lassen, appellierte Reals Raphael Varane, der es wohl mit dem Argentinier zu tun bekommen wird, fast schon ehrfürchtig an seine Kollegen. Der Respekt, der ist riesig. Überall. "Wenn jeder bei City Woche für Woche so liefern würde wie er", polterte jüngst Journalist Neil Custis, ja dann hätte City die Meisterschaft schon im März gewonnen.
Siebenmal traf Agüero in den letzten fünf Spielen, insgesamt steht er bei 23 Liga-Treffern in dieser Spielzeit. Seitdem sich der 27-Jährige vor knapp fünf Jahren den Sky Blues anschloss, traf er in jeder Saison zweistellig, dreimal knackte er die 23-Tore-Marke. "Er macht den Unterschied aus", sagt sein Coach. "Immer."
Und das seit Jahren. Vor einer Woche gegen Newcastle, da schoss Agüero - wenn auch gefühlt drei Meter im Abseits - sein 100. Tor in Englands Oberhaus. 147 Spiele brauchte er dafür, nur Alan Shearer erreichte diese Marke schneller.
Im Schnitt braucht der Argentinier 107 Minuten für einen Treffer, in der aktuellen Saison sind es gar nur rund 95. Der Grund, warum da immer noch Kane an der Spitze der Torjägerliste steht? Tottenhams Stürmer machte alle Spiele, stand genau 50 Minuten der Saison nicht auf dem Platz, während Agüero wegen eines zickenden Oberschenkels sechs Spiele verpasste. Einmal wurde er geschont, zweimal als Joker in der Schlussphase eingewechselt.
Das Imageproblem
Agüero ist ein Ausnahmekönner. Doch hat er ein Problem. Ein Imageproblem. Warum gehören die Schlagzeilen auf der Insel Kane, Vardy, ja sogar eher einem United-Youngster Marcus Rashford, der eine Hand voll Tore macht, und nicht ihm, der seit Jahren für alle Tore verantwortlich zeichnet?
Zum einen ist das Agüeros Spielweise geschuldet, die so wenig anbiedernd und aufdringlich, dafür so effektiv und mannschaftsdienlich ist. "Er ist einer, der respektiert wird, auch wenn er nicht trifft. Er hat, was den Fußball angeht, ein Bewusstsein, eine Intelligenz", sagt Mark Hughes. Und der muss es wissen. Er und seine Queens Park Rangers waren es, gegen die Agüero City am letzten Spieltag 2012 in der 94. Minute zum Meister machte.
"Er geht raus und spielt Fußball", sagt Custis herrlich trocken. "Mehr nicht." Keine choreographierten Torjubel, kein übertriebener Personenkult, kein Schnickschnack. Sergio Agüero, der die Verteidiger überlaufen oder verzaubern kann, der Tore aus unmöglichem Winkel schießt, der alles kann, was ein Stürmer können kann - der spielt einfach Fußball. Das ist sein Problem.
Bei der Wahl zum Player of the Year in England wurde er nicht nominiert. Wurde er noch nie. In der Auswahl der Saison steht er nicht. Stand er noch nie. "Komisch", nannte das Pellegrini auf der Pressekonferenz nach dem Spiel gegen den FC Chelsea. Das Ergebnis: 3:0 für City. Die Tore: Agüero, Agüero, Agüero.Das Sprichwort vom Propheten, der im eigenen Land nichts wert sei, es passt in vielen Bereichen nur zu gut. Doch kann man es auch umdrehen: Im Ausland hat man sich freilich darauf geeinigt, dass Agüero ein außergewöhnlicher Stürmer ist. Doch wessen erster Gedanke bei der Frage nach dem besten Stürmer, der nicht Cristiano oder Lionel mit Vornamen heißt, ist Sergio Agüero? Welcher spanische Fußballfan würde nicht sofort Luis Suarez oder Karim Benzema schreien? Würde man in Italien nicht erst auf Gonzalo Higuain verweisen? Ist es hierzulande nicht Robert Lewandowski, der gleich genannt werden würde? Allesamt große Spieler, die noch größere Schatten werfen.
"Der Mittelpunkt für alles, was City erreicht hat"
Der andere Makel, der Agüero den absoluten Superstar-Status kostet, ist sicherlich: seine Mannschaft. Erst 2016 haben die Citizens es geschafft, sich selbst als Running Gag etwas den Witz zu rauben. Wie viele Abermillionen, wie irrwitzig viel Geld steckten die Klubeigentümer in den vergangenen Jahren in diesen Verein. Und wie peinlich präsentierte sich der vor allem auf internationaler Bühne immer und immer wieder.
Schon fast als Opfer seiner unfähigen Mitspieler wird der Angreifer in den wilden englischen Medien dargestellt. Zwei Meistertitel, eine Hand voll nationaler Pokale in England, mit Atletico die Europa League und zweimal U20-Weltmeister. Das ist zu wenig für einen Spieler dieser Klasse, da sind sie sich auf der Insel einig.
Doch egal, wie bescheiden die Sky Blues in den vergangenen Jahren teilweise auch agiert haben mögen, Agüero lieferte konstant. Egal, wie groß die Namen um ihn herum waren, Agüero war und ist seit Jahren die große Stütze. "Er war der Katalysator und Mittelpunkt für alles, was City erreicht hat", sagt Custis: "Für alles, was City in den letzten vier oder fünf Jahren gewonnen hat."
Die Chance, sich endlich den ganz großen Pokal in die Vitrine stellen zu können, ist jedenfalls so nah wie nie. Gut viereinhalb Jahre, nachdem er unter Roberto Mancini in der 59. Minute gegen Swansea das erste Mal den Fußballplatz im himmelblauen Trikot betrat - und mit zwei Toren und einem Assist wieder verließ -, ruhen die Hoffnungen im größten Spiel der Klubgeschichte gegen Real (20.45 Uhr im LIVETICKER) auf Agüero. Gegen ein Real, das so seltsam verwundbar daherkommt. Und trotzdem, da ist man sich auf der Insel auch sicher: Richten kann und muss es Superstar Agüero. Für City - und sich selbst.
Sergio Agüero im Steckbrief